Staatenlos in Assam
Zwischen Supreme Court und Zentralregierung II
In ihrer Heimat gelten sie ab sofort als illegale Einwanderer. Das Land, in das sie ausgewiesen werden sollen, versinkt langsam unter dem steigenden Meeresspiegel. Fast zwei Millionen Menschen, die im indischen Bundesstaat Assam leben, gelten aufgrund der Veröffentlichung eines Nationalen Bürgerregisters (National Register of Citizens of India, NRC) durch die indische Zentralregierung unter dem hindu-nationalen Premierminister Modi seit dem 31. August 2019 als illegale Einwanderer aus Bangladesch.
Tatsächlich gelten die Betroffenen bereits jetzt als Staatenlose. Den Menschen droht eine Situation rechtlicher und territorialer Bodenlosigkeit – verloren zwischen nationalem Staatsangehörigkeitsrecht und internationaler Verantwortungslosigkeit.
Das Bürgerregister hat zum Ziel, gemäß dem Citizenship Amendment Act aus dem Jahr 1985 „illegale Einwanderer“ in dem östlichen Bundesstaat ausfindig zu machen. Über die vergangenen vier Jahre hinweg mussten alle Einwohner Assams mittels Geburtsurkunden, Heiratsurkunden und Auszügen aus dem Wahlregister ihre Zugehörigkeit zum indischen Staat nachweisen. Ein schwieriges Unterfangen für Menschen, die nie Papiere besaßen, Frauen, deren Staatsangehörigkeit sich von der ihrer Väter und Ehemänner ableitet oder all jene, die in Überschwemmungsgebieten leben und regelmäßig all ihren Besitz den – zuletzt vermehrt auftretenden – Fluten überlassen müssen. Betroffen sind insbesondere und überwiegend muslimische Menschen, die nach dem 24. März 1971 – dem Beginn des Bangladesch-Krieges – aus Bangladesch in den indischen Bundesstaat kamen. Durch die Festlegung des Stichtages im Citizenship Amendment Act nach der mit Veröffentlichung eingetretenen aktuellen Rechtslage gelten sie als illegale Einwanderer. Die Regierung von Bangladesch hat ihrerseits bereits während der Vorbereitungsphase des Bürgerregisters angekündigt, dass sie ausgewiesene Personen nicht nur nicht als Staatsangehörige Bangladeschs begreift, sondern sie im Fall einer Ausweisung aus Indien nicht aufnehmen will.
Damit droht, was die beiden UN-Übereinkommen zum Schutz von Staatenlosen und zu Reduzierung von Staatenlosigkeit zu vermeiden suchen: Dass Menschen in einen rechtlosen Raum ohne Staatsangehörigkeit fallen, schutzlos zwischen Grenzen mehrerer souveräner Staaten.
Die Situation der Betroffenen in Assam ist auch mit Blick auf das internationale Recht verschärft, da weder Indien, noch Bangladesch den beiden UN-Staatenlosen-Übereinkommen beigetreten sind. Zwar legen diese explizit nur solche Grundsätze fest, die etwa im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder auch der UN-Rassendiskriminierungskonvention festgeschrieben sind, dennoch ist die Handhabe der internationalen Gemeinschaft gleichwohl schwächer, da sich Indien möglicherweise nicht an die völkerrechtliche Verpflichtung gebunden sieht, keiner Person die Staatsangehörigkeit zu entziehen, wenn diese dadurch staatenlos würde.
Fallstricke des indischen Staatsangehörigkeitsrechts
Das indische Staatsangehörigkeitsrecht vereint Elemente des ius soli mit solchen des ius sanguinis. Nach Art. 5 der indischen Verfassung wird grundsätzlich jede Person, die in Indien geboren wurde und von der zumindest ein Elternteil selbst innerhalb des indischen Territoriums geboren wurde, als Staatsangehöriger von Indien angesehen. Kinder, deren Elternteile nicht die indische Staatsangehörigkeit besitzen, erlangen diese nicht mit der Geburt. Grundsätzlich jedoch ist die Erlangung der Staatsangehörigkeit durch Antrag (registration), Heirat oder Einbürgerung (naturalization) möglich – jedoch nur, soweit die Person nicht bereits als illegaler Einwanderer eingestuft wird. Gleichwohl weist laut einer Studie der National Law UniversityDelhi das indische Staatangehörigkeitsrecht im Hinblick auf die Vermeidung, Beendigung und Reduzierung von Staatenlosigkeit wesentliche Gesetzeslücken auf. Damit ist die Erlangung der indischen Staatsangehörigkeit für die vom NRC Ausgeschlossenen bereits verschlossen – denn sie gelten genau als das: illegale Einwanderer.
Art. 11 der Verfassung sieht vor, dass im Wege eines Parlamentsgesetzes die Erlangung und Beendigung der Staatsangehörigkeit bestimmt werden kann, was mit Citizenship Act von 1955, geändert durch den Citizenship Amendment Act von 1985, geschehen ist. Darauf beruht das nun veröffentlichte Bürgerregister. Da all die Personen, die nicht nachweisen konnten, dass sie oder ihre Blutsverwandten bereits vor dem Stichtag im Jahr 1971 dauerhaft in Indien lebten, rückwirkend als illegale Einwanderer erklärt werden, gelten nun nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder nicht als indische Staatsangehörige im Sinne der indischen Verfassung. Dabei kann das Fehlen eines Namens in dem aktuellen NRC schlichte Gründe wie eine andere Schreibweise auf alten Papieren haben.
Aktuelle rechtliche und politische Lage
Die indische Zentralregierung hat versichert, niemand müsse befürchten, in einem Lager inhaftiert und ausgewiesen zu werden. Zu den bereits bestehenden Foreigner Tribunals, vor welchen die Betroffenen Beschwerde gegen den Ausschluss aus dem Bürgerregister einlegen können, wurden weitere eingerichtet. Dies eröffnet den von dem Register ausgeschlossenen, nochmals die Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zum indischen Staat zu beweisen. Für die Beschwerde haben sie eine Frist von 120 Tagen. Den Betroffenen werde ein faires Verfahren garantiert und es bestünden keine Vorurteile gegenüber jenen, die von der Liste ausgeschlossen sind, versicherte ein Regierungssprecher. Die Beweislast liegt nach einer Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahr 2006 bei den Antragstellern.
Die Foreigner Tribunals sind, was ihre Rechtsnatur betrifft, wohl zwischen Widerspruchsbehörde und Verwaltungsgericht anzusiedeln. An ihrer Unabhängigkeit wurden vielerorts Zweifel geäußert. Zu den 100 bestehenden Foreigner Tribunals sollen insgesamt weitere 421 eingerichtet werden, um die aktuellen Fälle zu bearbeiten. Laut einer Analyse von mehr als 500 Entscheidungen der bestehenden Foreigner Tribunals fielen 82% der Entscheidungen insgesamt negativ aus und die Gerichte erklärten die Antragsteller zu illegalen Einwanderern. 90% der Betroffenen waren Muslime. Überdies seien drei Viertel der Entscheidungen in Abwesenheit der Antragsteller ergangen. Zu bedenken ist auch, dass viele der Betroffenen möglicherweise nicht die finanziellen Ressourcen besitzen, um ihre Rechte vor den Foreigner Tribunals geltend zu machen. Gleichzeitig hat Indiens Innenminister, Amit Shah, angekündigt, kein einziger „illegaler Einwanderer“ würde bleiben können. Diese Rhetorik lässt die Intention einer ethnischen Säuberung befürchten.
Bereits jetzt erfahren die Betroffenen Schikane: Der an Assam angrenzende Bundesstaat Meghalaya hat kurz nach Veröffentlichung des Registers 223 Menschen ohne Papiere zurückgeschickt und sie als „outsider“ gebrandmarkt. Sie waren als Wanderarbeiter aus dem angrenzenden Assam nach Meghalaya unterwegs. Umfassende Grenzkontrollen sind an der innerindischen Grenze angewiesen worden und weitere Grenzposten sollen eingerichtet werden.
Die Widersprüchlichkeit des Handelns des Supreme Court
Dass das Bürgerregister in Umsetzung des Citizenship Act von 1955 bzw. des Citizenship Amendment Act von 1985 seit 2015 vorbereitet und nun final veröffentlicht wurde, geht auf eine Entscheidung des Indischen Supreme Court aus dem Jahr 2014 zurück. In dieser drängte das Gericht nicht nur auf die Umsetzung, sondern erklärte zugleich, die Umsetzung zu überwachen (zur Historie des Falls und den Vorlagefragen s. hier). Die Richter argumentieren, der Bundesstaat Assam sei überproportional von illegaler Einwanderung betroffen. Gleichzeitig und paradoxerweise erklärte der Supreme Court, den Citizenship Act in Gestalt seiner 1985 geänderten Form dahingehend zu überprüfen, ob Abschnitt 6A des Citizenship Act, der auf die Änderungen von 1985 zurückgeht, mit der Verfassung in Einklang stehe. Hierzu wurde der Fall an die Constitution Bench überwiesen. Im Jahr 2017 wurde die Verweisung des Falles an eine größere Constitution Bench beschlossen.
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der bereits im Bürgerregister umgesetzten Normen ist damit noch immer nicht beantwortet. Man stelle sich vor, das Bundesverfassungsgericht würde in einer Entscheidung die zügige Umsetzung von Normen fordern, deren Verfassungsmäßigkeit es selbst ein paar Jahre später im Plenum klären will. Beschwerdeführer in dem noch anhängigen Fall sind Vereinigungen indigener Bevölkerungsgruppen in Assam, u.a. die Assam Sanmilita Mahasangha (ASM), eine Dachorganisation verschiedener indigener Organisationen. Etwa 30 dieser Organisationen haben zwischenzeitlich gefordert, dass die Angehörigen indigener Gruppen, die von dem Bürgerregister in seiner finalen Version ausgeschlossen sind – meist aufgrund fehlender gültiger Dokumente – in das Register aufgenommen werden sollen, ohne ihre Staatszugehörigkeit vor einem Foreigner Tribunal beweisen zu müssen. Hier wird eine vulnerable Gruppe gegen die andere ausgespielt.
Völkerrechtliche Schutz- und Handlungsmöglichkeiten?
Indien ist nicht Mitglied der UN-Staatenlosen-Übereinkommen. Seit 2014 läuft die Kampagne der Vereinten Nationen zur Beendigung von Staatenlosigkeit bis 2024. Dass fast zwei Millionen Menschen in der größten Demokratie der Welt nun womöglich staatenlos werden, zeigt auch die Schwäche der Kampagne, die also solche eben keine rechtsverbindlichen Handlungsverpflichtungen enthält. Da scheint es ein Ruf ins Leere, dass der UNHCR, dessen Mandat auch den Schutz staatenloser Personen umfasst, Anfang September Besorgnis angesichts der Situation in Assam zum Ausdruck gebracht und die indische Regierung dazu aufgerufen hat, das Risiko von Staatenlosigkeit zu mindern. Indien gehört auch nicht zu den Staaten, die in jüngster Zeit ihre Bereitschaft erklärt haben, den beiden Staatenlosen-Konventionen beizutreten oder zumindest nennenswerte Schritte zu ergreifen, um Staatenlosigkeit in ihrem Hoheitsbereich zu verhindern und zu verringern. Staatenloser ist nach Artikel 1 des Übereinkommens von 1954 eine Person, die kein Staat nach seinem Recht als Staatsangehörigen ansieht. Und da die gegenwärtige Weltordnung noch immer von souveränen Staaten bestimmt wird, leitet sich von dieser Zugehörigkeit jegliches weitere Recht ab. Für die nun in Indien Betroffenen ergibt sich eine besondere Vulnerabilität aus der Tatsache, dass der Bundesstaat Assam und die Region weltweit gesehen mit am stärksten von durch den Klimawandel bedingten zeitweisen Überflutungen und stetig steigenden Wasserständen betroffen sein werden. Hieraus ergibt sich eine Verantwortung, die Vorgänge, die vordergründig lediglich das indische Staatsangehörigkeitsrecht als solches betreffen, nicht außer Acht zu lassen.
De iure und de facto-Staatenlosigkeit: Inadäquate Definitionen?
Die Personen, die ihren Namen nicht im aktuellen NRC wiederfinden, sind nach der Definition von de-iure-Staatenlosigkeit nach dem Übereinkommen zur Rechtsstellung von Staatenlosen deshalb Staatenlose, weil sie aufgrund eines Parlamentsgesetzes des indischen Staates nicht mehr als dessen Staatsangehörige anerkannt werden. Gleichwohl besagt dieses Gesetz ja gerade, dass sie, sofern sie erst nach 1971 in Assam lebten, zu keinem Zeitpunkt Staatsangehörige Indiens waren. Der Entzug der Staatsangehörigkeit wirkt ex tunc: die Betroffenen waren immer schon illegale Einwanderer. Bereits hier wird die Definition unscharf, denn nach Auffassung der indischen Administration hat kein Entzug der Staatsangehörigkeit gegenüber den betroffenen Personen in Assam stattgefunden. Vielmehr wurden nach der Zielsetzung des NRC „illegale Einwanderer“ „ausgesondert“. Nun steht überdies eine Entscheidung des Supreme Court aus, die zu dem Ergebnis kommen könnte, dass Abschnitt 6A des Citizenship Act nicht verfassungsmäßig ist. In diesem Falle würde der de-iure-Entziehung der Staatenlosigkeit, die selbst zurückwirkt, rückwirkend ihre gesetzliche Basis entzogen.
Die sich hier widerspiegelnde Widersprüchlichkeit des obersten Gerichts Indiens verdeutlicht, dass nicht in jedem Fall eine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem Entzug der Staatsangehörigkeit de iure und de facto möglich ist. De-iure-Staatenlose sind nach dem Abkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen Personen, die kein Staat aufgrund seines Rechtes als Staatsangehörige ansieht. Eine einheitliche Definition der De-facto-Staatenlosigkeit existiert nicht. Eine Studie des UNHCR schlägt jedoch folgende Definition vor: De-facto-Staatenlose sind Personen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, sich aber außerhalb ihres Heimatstaates befinden und von diesem Staat keinen Schutz erhalten können oder wollen. Die vom NRC ausgeschlossenen Menschen befinden sich aber innerhalb ihres Heimatstaats Indien und nicht außerhalb. Letzteres wäre nur der Fall, wenn es sich bei den Betroffenen – wie die indische Administration meint – um Bengalen handeln würde. Zwar sind viele der Betroffenen ethnisch gesehen Bengalen, gleichwohl gibt es keinerlei Beweis für ihre Zugehörigkeit zu Bangladesch und es bleibt außer Acht, welchem Staat sich die Betroffenen zugehörig begreifen. Gleichwohl übernehmen weder der indische Staat noch Bangladesch die Verantwortung für die betroffenen Personen.
Damit droht den nahezu zwei Millionen Menschen in Assam das, was in der internationalen Diskussion oft als „locked in limbo“ bezeichnet wird: De iure verlieren sie die Zugehörigkeit zum indischen Staat, werden zugleich aber nicht durch internationale Vertragsnormen aufgefangen. Sie stehen im rechtsleeren Raum zwischen internationalen Menschenrechtsregimen und nationalstaatlichen Normen. Sollten sie sich hilfesuchend an die Nachbarstaaten wenden und dort Asyl beantragen, lässt sich bereits mit einem Blick in die Genfer Flüchtlingskonvention feststellen, dass diese unter Umständen keine Anwendung findet: die Betroffenen besitzen keine Zugehörigkeit zu einem Staat, von dem eine Verfolgung ausgeht. Selbst wenn man von einer fortbestehenden Zugehörigkeit zum indischen Staat ausginge, so manifestiert sich in dem nun veröffentlichten Bürgerregister, das hinsichtlich der Definition der Staatszugehörigkeit allgemeine Kriterien in Gestalt eines Stichtages anwendet, zwar eine Verfolgung der muslimischen Minderheit in dem östlichen indischen Bundesstaat, allerdings kommt sie nicht in dem umgesetzten Citizenship Act zum Ausdruck.
Rechtlich gesehen wird die Lage für die betroffenen Menschen in Assam jedoch erst nach Ablauf der 120-tägigen Rechtsbehelfsfrist klarer. Tatsächlich wird sich ihre Situation angesichts überfluteter Gebiete im Osten Indiens und in Bangladesch dann verschärfen.