Standpunktlosigkeit ist keine Option
Der Tonfall der politischen Debatten ist schärfer geworden und zwar gerade, was das Recht und besonders was das Flüchtlingsrecht betrifft. Das Recht und vor allem die Verfassung angesichts dieser Polarisierung als Grundlage sachlicher Debatten hochzuhalten, ist richtig. Falsch ist es zu meinen, rechtliche Analyse könne gänzlich neutral sein und komme ohne einen Standpunkt aus. Gerade angesichts einer radikaler werdenden Politik ist eine Ideologie der Standpunktlosigkeit gefährlich. Wir brauchen ein Bewusstsein über das Menschliche in jedem Urteilen, damit wir zur Kritik unserer eigenen Sichtweise fähig und uns der Verantwortung des Urteilens bewusst sind. Hannah Arendts Überlegungen zur Urteilskraft sind für diese Fragen hilfreich: Sie enthalten einen Begriff des Urteilens im Rahmen einer Philosophie der menschlichen Pluralität und Verschiedenheit. Und neben einem differenzierten Verständnis von Urteilskraft bieten sie einen Ausgangspunkt, um über das Menschsein als eine Aufgabe nachzudenken.
Rückzug und Standpunkt
Hannah Arendt entwickelte ihre Gedanken zum Urteilen vor allem in den letzten Jahren ihres Lebens. Das Buch, welches Urteilen neben Denken und Wollen als dritten Teil behandeln sollte, hat sie nicht beendet. Diese Betrachtung der vita contemplativa bildet gewissermaßen das Gegenstück zu Arendts zentralem Werk „Vita Activa“, welches die Tätigkeiten des Arbeiten, Herstellens und Handelns umfasst. Einerseits war Arendts Nachdenken über das Urteilen also Teil der systematischen Befassung mit den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens. Andererseits war es geprägt von der Erfahrung des Eichmann-Verfahrens, welches 1961 in Jerusalem stattfand und von dem Arendt für den New Yorker berichtet hatte. Das Verfahren gegen Adolf Eichmann war nach den Nürnberger Prozessen das erste Verfahren gegen einen hochrangingen Akteur des Nazi-Regimes und als solches auch Teil der Suche nach Antworten auf die Frage, wie Menschen zu solchen Verbrechen fähig sein konnten. Hannah Arendt zeichnete ein Bild von Eichmann als keineswegs „teuflisch-dämonisch“, sondern als gewöhnlich, jedoch von besonderer „Realitätsferne und Gedankenlosigkeit“. Er verkörpere die „Banalität des Bösen“. Diese Banalität des Bösen liegt, schloss sie, gerade in dem Versagen zu denken, darin, sich eines eigenen Urteils zu enthalten. Ausgehend vom Versagen der Urteilskraft dachte Arendt also über das Urteilen nach – so wie sie ihre Überlegungen zur Grundlage von Rechten aus der Betrachtung fundamentaler Rechtslosigkeit entwickelte.
Menschen gibt es, wie Arendt schreibt, nur im Plural. Die menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die sich aus der Einzigartigkeit von Menschen zusammensetzt. Es ist die menschliche Pluralität und zugleich Verschiedenheit, die Handeln und Sprechen überhaupt notwendig macht. Arendt bezieht sich in ihren Überlegungen zum Urteilen auf Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“, aber im Unterschied zu Kant beschäftigt sie nicht das ästhetische, sondern das politische Urteilen. Vor allem interessiert sich Arendt für das Verhältnis zwischen der Rolle des Akteurs einerseits und der des Betrachters andererseits, welche der urteilende Mensch innehat: Während Urteilen eine Form des Rückzugs erfordert, ist es zugleich wesentlich gesellschaftlich. Es findet in gewisser Distanz zum Geschehen statt und ist dabei doch ganz wesentlich auf das Leben in einer Welt mit anderen bezogen. Es erfordert zunächst die Fähigkeit, Abstand von der eigenen Lebenssituation zu nehmen – das ist die eine Seite des Urteilens, die Distanz zum Geschehen und das Denken jenseits der eigenen Situation. Zugleich erfordert Urteilen, einen Maßstab zu finden und anzuwenden – dieser Akt ist kreativ, er bildet die zweite Seite des Urteilens, das Selbstdenken. Die Urteilskraft ist in Gesellschaft geformt, sie ist nicht zeitenthoben. Aber das Urteilen ist nicht reduzierbar auf die Situation und Prägung eines Menschen, es ist der Akt, eine Bewertung zu finden, welche gerade nicht vorgegeben ist.
Urteilskraft in der Rechtswissenschaft
Arendts Überlegungen zum Urteilen sind fragmentarisch geblieben, aber sie enthalten Erkenntnisse, die im Jahr 2018 wichtig sind. Erstens weisen sie auf die Rolle des Standpunkts beim Urteilen hin. Zweitens verbinden sie ein Verständnis der Struktur des Urteilens mit der grundlegenden menschlichen Verantwortung zu urteilen. Und drittens verdeutlicht diese Verantwortung zu urteilen, dass das Menschsein Ausgangspunkt nicht nur von Rechten, sondern auch einer Aufgabe ist. All diese Aspekte sind für eine gesellschaftliche Kultur der Urteilskraft und ein Verständnis der moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens wesentlich. Sie sind besonders wichtig für eine Kultur der Urteilskraft in der Rechtswissenschaft.
Nirgendwo ist die Übung des Urteilens so zentral wie in der juristischen Ausbildung, nirgendwo sind die Bedingungen des Urteilens so sehr Gegenstand wie in der Rechtswissenschaft. Selbstverständlich sind das richterliche und das rechtswissenschaftliche Urteilen spezifisch, sie unterscheiden sich vom moralischen oder politischen Urteilen. Aber die rechtswissenschaftliche Kultur ist eingebettet in gesellschaftliche Zugänge zum Urteilen und wirkt sich umgekehrt auf diese aus. Das Urteilen über Recht ist eine Schaltstelle, an der gesellschaftliche Konflikte bearbeitet werden und Veränderungen sich abbilden. Und die Rechtswissenschaft ist das Forum, in dem die grundlegenden rechtlichen und politischen Festlegungen einer Gesellschaft interpretiert werden. Das Verständnis des Urteilens in diesem Forum ist wichtig auch für das Vertrauen, welches die Gesellschaft in ihre Juristinnen und Juristen haben kann.
Beim Urteilen in der Rechtswissenschaft müssen wir unterscheiden zwischen dem rechtlich gebundenen Urteilen der Gerichte und dem wissenschaftlichen Urteilen über verschiedene Vorgänge, Inhalte und Bedingungen des Rechts. Die von Arendt identifizierten zwei Seiten des Urteilens, der Rückzug und der Standpunkt, finden sich in beiden Situationen. Ohne Frage ist die Distanz von der eigenen Situation für richterliches Urteilen unerlässlich, sie ist als Gebot der richterlichen Unparteilichkeit sogar gesetzlich festgeschrieben. Der Akt des Findens von Maßstäben ist von Methoden und Verfahren gerahmt. Dennoch bedarf es menschlichen Entscheidens, weil Rechtsnormen ein Ergebnis nie rein logisch vorgeben können. Das rechtswissenschaftliche Urteilen ist teilweise ebenfalls mit der Beurteilung der Rechtslage befasst, betrifft aber darüber hinaus die rahmenden Bedingungen des Rechts und die Beurteilung der Angemessenheit von Ergebnissen über den Einzelfall hinaus.
Die zwei Seiten des Urteilens sind nicht ohne einander denkbar: Ich kann nur dann von meiner Situation abstrahieren, wenn ich mir bewusst bin, dass ich unausweichlich eine habe. Der für das Urteilen notwendige Akt des erweiterten Denkens ist insofern mehr als bloße Unparteilichkeit. Bei der Distanz als einer Seite des Urteilens geht es darum, verschiedene Sichtweisen und Argumente in Betracht zu ziehen und sich auf Vorurteile oder falsche Intuitionen hin zu prüfen. Nur wenn ich die unvermeidbare Partikularität meines Standpunktes anerkenne, kann ich ihm andere Sichtweisen entgegenstellen. Umgekehrt ist mein Standpunkt nicht allein durch meine Geschichte oder Lebenssituation bestimmt, sondern entwickelt sich gerade in Prozessen des Urteilens. Das erweiterte Denken im Rückzug formt also die Position, von der aus ich urteile.
Die juristische Ausbildung ist eine Übung im Abstrahieren von der eigenen Situation und im strukturierten Nachdenken über die Intuitionen, was gerecht ist. Die juristische Ausbildung in Deutschland ist dabei im Vergleich zur Ausbildung in anderen Ländern besonders auf die richtende Perspektive konzentriert. Studierende schreiben als Prüfungen Gutachten, in denen sie fiktive Fälle prüfen. Bei streitigen Fragen stellen sie verschiedene Ansichten dar und entscheiden sich schließlich mit Argumenten für eine Ansicht. Dabei sollte nirgendwo, das wissen Studierende ab dem ersten Semester, die erste Person Singular auftauchen. Diese Abwesenheit des Ichs setzt sich in wissenschaftlichen Texten fort, darin unterscheidet sich die deutsche rechtswissenschaftliche Kultur etwa von der angelsächsischen. Das ist zunächst einmal Konvention (dazu auch hier). Diese Konvention darf aber nicht in den Irrglauben führen, es gäbe keinen Standpunkt beim richterlichen Urteilen. Und sie darf nicht zum doppelten Missverständnis führen, Rechtswissenschaft sei gleichbedeutend mit der Analyse des Rechts aus Sicht eines imaginären Gerichts und diese Analyse standpunktfrei.
Die Verantwortung zu urteilen
Die Tendenz, die eigene Person sprachlich zu verstecken, beschrieb Martin Beradt in seiner bemerkenswerten Abhandlung „Der deutsche Richter“ 1930 – eine stark überarbeitete Fassung eines früheren Textes „Der Richter“, der 1909 erschien. Beradt attestiert dem Richter darin ein „geradezu beherrschende[s] Verlange[n] nach Auslöschung der Person“. Und er lässt sich aus über die Barbarei, mit der Richter sich leichten Herzens abfinden, über die Gelassenheit, mit der sie bei politischen Umbrüchen weiterrichten, und über das „Nichtbemerken des Verderbens, das man anrichtet“. Beradts scharfsinnige Polemik ist bemerkenswert, besonders, wenn man sie in einem Buch von 1930 liest. Er behandelt nicht den aufziehenden Faschismus, sondern wendet sich gegen eine Ideologie der Anonymität und Standpunktlosigkeit. Insofern ist das Buch hochaktuell. In der Zwischenzeit hatte die deutsche Rechtswissenschaft sich mit ihrer Rolle während des Holocaust auseinanderzusetzen. Neben dem aktiven Zutun von überzeugten Faschisten im juristischen Stand betraf diese Auseinandersetzung gerade auch das Versagen der Urteilskraft. Wir müssen uns immer wieder fragen, inwieweit ein Mythos des neutralen Standpunkts sowie ein fehlendes Bewusstsein über die Verantwortung des Urteilens in der deutschen rechtswissenschaftlichen Kultur fortleben.
An den Mythos des neutralen Standpunkts fühlte ich mich erinnert, als eine Kollegin neulich erzählte, dass sie bei einem wissenschaftlichen Workshop in Bezug auf eine Position gefragt wurde, ob sie als Muslimin spreche. Es ist letztlich gleichgültig, ob diese Frage bei einem wissenschaftlichen Workshop oder in einer anderen Situation gestellt wird. Die Antwort ist immer: Ich spreche als die, die ich bin. Das Falsche an der Frage ist, dass sie suggeriert, es könne anders sein. Sie entblößt das Verständnis, ein spezifischer Standpunkt sei nur etwas für Angehörige von Minderheiten. Zu sprechen als die, die man ist, steht nicht im Widerspruch zum Sprechen als geschulte Juristin. Selbstverständlich nicht.
Wir benötigen in der juristischen Ausbildung und in der wissenschaftlichen Praxis das Bewusstsein dafür, dass in jeder Analyse einer Rechtslage der menschliche Akt des Urteilens präsent ist und dass damit ein jeweils spezifischer Blickwinkel einhergeht. Das anzuerkennen bedeutet nicht, die wissenschaftliche Analyse mit politischer Positionierung gleichzusetzen oder dem Recht seine Rationalisierungsleistung bezüglich gesellschaftlicher Konflikte abzusprechen. Es nicht anzuerkennen, verstellt zunächst das Verständnis dafür, wie sich Machtverhältnisse in der Interpretation von Recht spiegeln: Wie soll eine Gesellschaft ihren strukturellen Rassismus und Sexismus bearbeiten, wenn nicht durch die kontinuierliche Selbstreflexion aller Urteilenden, gerade auch jener in rechtlichen Institutionen?
Die Rolle des Standpunkts zu übersehen, verstellt zudem den Blick auf die Verantwortung zu urteilen. Das ist gerade auch mit Blick auf die Wissenschaft wichtig: Während Richterinnen konkrete Fälle vor Augen haben, beschäftigen Wissenschaftler sich mit dem Recht aus größerer Distanz. Und während Richter entscheiden müssen, sind wissenschaftliche Analysen nicht immer auf ein eindeutiges Ergebnis gerichtet, müssen dies auch nicht sein. Aber die Rechtswissenschaft insgesamt hat die Verantwortung, rechtliche Entwicklungen kritisch zu begleiten und Stellung zu beziehen. Das bedeutet, dass vom Kontext isolierte Dogmatik nicht genug ist. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist die Systematisierung des Rechts, aber auch, über die Bedingungen der Entstehung und Anwendung von Recht zu reflektieren. Jenseits der kollektiven Verantwortung, das Recht im Zusammenhang seiner gesellschaftlichen Wirkungen zu betrachten, bleibt für jeden und jede Einzelne die Aufgabe, bei aller Rahmung durch rechtliche Vorgaben, Verfahren und Methoden immer die weitere Bedeutung dessen, was man tut, zu sehen. Eine saubere Analyse ist kein Selbstzweck.
Mit Blick auf das Versagen von Juristen in der Nazi-Zeit lernen Jurastudierende heute die Radbruch’sche Formel: Grundsätzlich hat der Richter sich an gesetztes Recht zu halten, an gesetzliches Unrecht jedoch nicht. Die Formel hält fest, dass es Situationen gibt, in denen das eigene moralische Urteil schwerer wiegt als die rechtlichen Vorgaben. Aber das Urteilen über die Frage, wann es sich bei gesetztem Recht um Unrecht handelt, kann keine Formel abnehmen. Grotesk ist, wenn das Verständnis des Urteilens zwischen dem Mythos des neutralen Standpunkts einerseits und der Radbruch’schen Formel andererseits aufgespannt wird. Das Urteilsvermögen als Mensch ist nicht der Feuerlöscher, der jahrzehntelang ungebraucht im Schrank steht und von dem man hofft, dass er im Ernstfall funktionieren möge. Die Verantwortung, als Mensch zu urteilen, beginnt nicht erst in Extremfällen. Als Mensch zu urteilen, bedeutet zunächst nicht, die rechtliche Rahmung von Fragen zu ignorieren oder fachliche Kenntnisse beiseitezulegen. Dass es in besonderen Fällen erfordert, sich gegen geltendes Recht zu entscheiden, bleibt eine Herausforderung, bei der wir uns auf unser Urteilsvermögen verlassen müssen. Ich glaube, dass eine Kultur der Urteilskraft in der Rechtswissenschaft und in der Gesellschaft insgesamt für den Schutz vor Faschismus wesentlich hilfreicher ist als die Radbruch’sche Formel. Ich halte es für zentral, dass wir eine Kultur der Urteilskraft pflegen, die das Menschliche im Urteilen nicht versteckt.
Menschsein als Aufgabe
Hannah Arendt versteht das Menschsein gleichermaßen als Ausgangspunkt und als Inhalt der Verantwortung zu urteilen. Wir sind vertraut mit dem Menschsein als Ausgangspunkt von Rechten: Das Grundgesetz beginnt mit der unantastbaren Würde, die jeder Mensch hat. Diese Bezugnahme auf das Menschsein ist dabei mehr Forderung als Feststellung: Die Würde des Menschen ist an erster Stelle der Verfassung festgeschrieben, nicht weil sie unantastbar wäre in dem Sinne, dass sie nie verletzt würde. Sondern weil es im Gegenteil beim Verfassen des Grundgesetzes der Reaffirmation bedurfte, dass einem als Mensch Würde zukommt. Der erste Artikel des Grundgesetzes war Teil der Bemühung, Orientierung wiederherzustellen über die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Aber die Bekräftigung der Menschenwürde, nachdem sie millionenfach negiert worden war, ist nur die eine Seite der Reorientierung über die Bedeutung des Menschseins. Es waren auch Menschen, die Menschen vergasten. Die andere Seite der Reorientierung betraf die Verantwortung, ein Mensch zu sein. Das Menschsein ist in diesem Sinne nicht Tatsache physischer Existenz, sondern moralisches Gebot.
In den weltlichen Rechtssystemen der Moderne bildet die gemeinsame Existenz als Menschen den letzten Referenzpunkt, auf den wir in unserem Nachdenken über Gerechtigkeit immer zurückkommen. Die Erfahrung, dass unser Gegenüber Mensch ist wie wir selbst, wirkt dabei in beide Richtungen: Als Grundlage von Rechten ebenso wie von Pflichten. Als Menschen mit anderen sind wir auf Schutz angewiesen, weil wir alle abhängig von anderen sind. Und als Menschen haben wir Verantwortung, weil unser Handeln sich auf andere auswirkt. Die Menschenwürde lässt sich verstehen als Kern der Rechte, die man als Mensch hat, es ist das Recht, in jedem Fall als Mensch behandelt zu werden. In paralleler Weise lässt sich das Urteilen verstehen als Kern der Verantwortung, die man als Mensch hat, als die Pflicht, in jedem Fall als Mensch zu handeln.
Was es konkret erfordert, als Mensch zu handeln, lässt sich nicht vorhersagen. Dass beim Urteilen keine Einigkeit zu erwarten ist, wusste Hannah Arendt gut: Die Jahre ihrer Auseinandersetzung mit dem Urteilen waren auch geprägt von den Konflikten, die ihre Charakterisierung von Eichmann hervorrief. Aber die Uneinigkeit oder mögliche Fehler in unserem Urteilen befreien nicht von der Verantwortung dazu. Uns in den Lauf der Welt einzuschalten, ist immer ein Wagnis, wie Arendt es am Schluss ihres berühmten Interviews mit Günter Gaus 1964 formulierte. Aber weil wir mit anderen Menschen leben, können wir uns der Aufgabe zu urteilen nicht entziehen. Weil wir immer schon an einem Punkt in der Welt stehen, ist Standpunktlosigkeit keine Option.
Danke für den sehr gelungenen und interessanten Beitrag.
Ein gelungener Beitrag. Dass der eigene Standpunkt unvermeintlich die Urteilsfindung mitprägt ist sicher richtig und dürfte sicherlich auch mehr im Studium gelehrt und herangetragen werden. In den USA wird fast das gesamte letzte Jahr der Law school mit der philosophischen und ethischen Bedeutung des Rechts zugebracht. Natürlich gibt es hier genug Stimmen, die die Abschaffung fordern, um das teure Studium zu verkürzen, da es vermeintlich sowieso nciht der tatsächlichen Rechtsanwendung diene. Mir ist die Radbruch’sche Formel übrigens nur als Frage aus dem Vorbereitungsbuch zur mündlichen ein Begriff.
Letztlich ist auch die richterliche Rechtsfortbildung ein eigener Standpunkt der sich reziprok im Zusammenspiel mit der Rechtsanwendung um einen herum entwickelt. Dies aber eben nur in einem sehr eng gezogenen Rahmen.
Daher, und darauf will der Artikel nun einmal heraus, auch wenn die moralische Komponente kleingespielt wird:
Ein irgendwie gearteter richterlicher Ungehorsam – in den Worten der Autorin „gegen geltendes Recht“ urteilen – halte ich für hochproblematisch.
Insbesondere, als dass diese Idee im Rahmen der Flüchtlingsdebatte eingeführt wird (wobei die Autorin hier sehr vage bleibt). Damit wird der Standpunkt der Autorin, der aus anderen Beiträge hier bereits umrissen werden kann, als mögliche moralischere Gegenrechtsprechung suggeriert (so steht das nicht, so liest es sich aber), basierend auf dem Standpunkt der Autorin und hoffentlich diverser RichterInnen.
Der eigene Standpunkt muss aber zumindest unterinstanzlich so sehr es geht zurücktreten. Schon allein für eine einheitliche Rechtsanwendung. Sofern bei der Rechtsanwendung Vorbehalte zur Menschenwürde oder zu Art. 5GG oder was auch immer bestehen, kann der Richer ja vorlegen.
Eine Überbetonung des eigenen Standpunktes würde jedes Urteil zu Hartz 4 und Eigenbedarfskündigung zu einer Lotterie machen und den Deutschen Rechtss