Studieren wie Kafka
Das Jurastudium in der Endlosschleife der Nicht-Reformen
Der promovierte Jurist Franz Kafka formulierte 1917 in seinem nie abgesandten „Brief an den Vater“ eine Diagnose zum Jurastudium, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. „Ich studierte also Jus“, schrieb Kafka, „[d]as bedeutete, daß ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausenden Mäulern vorgekaut war.“ Ein Verdikt, an das 50 Jahre später unter anderem Rudolf Wiethölter in seinem Text „Jura studieren“ anschloss, als er die juristische Polykrise ins Visier nahm: „Die Lernenden sind ebenso fleißig wie hilflos isolierten Massen an Stoff ausgeliefert ohne Kriterien für Rechtsprobleme, Rechtstheorie und Rechtspraxis. Die Lehrenden beschreiben und registrieren Aspekte und Symptome, bewegen sich zwischen Zirkeln, Leerformeln, Alibis und Tabus […]. Vorindustriell, vorwissenschaftlich, vordemokratisch – so lassen sich heute Recht und Rechtswissenschaft erschließen“.
Vordemokratische Stoffhuberei
Heute, weitere 50 Jahre später, die Experimentierphase der einstufigen Jurist*innenausbildung hinter uns, gelten diese Kritiken ungebrochen, ja das Problem hat sich zugespitzt: Immer mehr Stoff hat sich angesammelt, immer weitere Bände sind in den Entscheidungs- und Fallsammlungen als Lernstoff dazu gekommen. Immer unzufriedener sind entsprechend die Studierenden. Mehr als die Hälfte von ihnen, so die Umfrage von iur.reform aus 2023, sind unzufrieden mit der juristischen Ausbildung. Immer resignativer sind die Kolleg*innen angesichts leer gefegter Hörsäle schon kurz nach Semesterbeginn und angesichts eines jahrhundertealten Public Private Partnership in der Examensvorbereitung, die – wenn man sich an den ehrwürdigen Jurafachbereichen einmal ehrlich macht – trotz zunehmender Akzeptanz der Uni-Rep-Angebote immer noch in den meisten Fällen gar nicht an Universitäten, sondern in privaten Repetitorien stattfindet.
Keine grundlegende Reform. Nirgends
Und trotz dieser offensichtlichen Krisenphänomene: Keine Reform. Nirgends. Nach dem Ende der einphasigen Jurist*innenausbildung in den 1980er Jahren und seit der Einführung des Schwerpunktbereichsstudiums 2003 gab es jedenfalls keine große Reform des Jurastudiums.. Zwar hatte der Wissenschaftsrat 2012 einen kritischen Bericht zur Rechtswissenschaft vorgelegt und eine stärkere Grundlagenorientierung eingefordert. Und auch durch das Grundsatzpapier des von der Justizminister*innenkonferenz (Jumiko) beauftragten Koordinierungsausschusses zur Reform der Jurist*innenausbildung kam 2016 etwas Schwung in die Diskussion. Herausgekommen ist bislang aber allzu wenig.
Immerhin wurde 2021 das Deutsche Richtergesetz (DRiG) geändert. Der Auftrag an die Universitäten lautet nunmehr, die Vermittlung der Pflichtfächer „auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“ zu gestalten; eine Änderung, die ergänzt wird durch einen neuen Absatz 3 im Paragrafen 5a des DRiG: „Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die ethischen Grundlagen des Rechts und fördern die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts […]“
Natürlich ist es begrüßenswert, dass „Kritik“ Eingang ins Studium finden soll. Kann es aber richtiges Leben im grundsätzlich Falschen geben? Die Gefahr ist doch allzu groß, dass ein § 5a im aktuellen System keinerlei Unterschied machen wird, dass die Forderung nach „kritischer Reflexion“ eingespeist in ein System der Wissenshuberei am Ende nur neuen Wissensstoff produziert. Den Studierenden wird dann eben eingetrichtert werden, den Kritikbegriff von Kants Kritik der praktischen Vernunft von der Rechtskritik der Ökonomischen Analyse des Rechts zu unterscheiden – ohne dass sie selbst zur kritischen Reflexion ermächtigt würden. „Vulgäre Kritik“ nannte Marx in der Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie solcherlei Scheinkritik, die vorgibt kritisch zu sein, in Wahrheit aber nur eine subtile Form der Apologie der bestehenden Gehäuse der Hörigkeit darstellt.
Und genau das ist eben das Grundproblem all dieser Nichtreformen des juristischen Staatsexamens: Es werden Jurist*innen ausgebildet, deren zentrale Kompetenz im Wiederkäuen eines vermeintlichen Wissens-Canons des Rechts liegt; Reproduktion der herrschenden Meinungen – nicht kritisches Denken ist in der Juraausbildung gefragt, die Fähigkeit zur Kritik wird geradezu systematisch abtrainiert. „Die Ausbildung“, so steht es in § 1 Abs. 2 des HambJAG, „soll gründliche Kenntnisse der rechtlichen Regelungen, ihrer Entstehung und ihrer systematischen Zusammenhänge sowie den Gebrauch rechtswissenschaftlicher Methoden vermitteln.“ Kenntnisse vermitteln, d.h. im gegenwärtigen System: Wissensbestände über den Studierenden auskippen und das eventuell Hängengebliebene in Klausuren und Hausarbeiten abprüfen – bestenfalls können Seminararbeiten in Schwerpunkten angefertigt werden, aber auch diese stehen unter dem Druck der Stofffülle des nahenden Staatsexamens, weshalb auch hier in aller Regel Themen und Formate dominieren, die thematische Schwerpunktbildung mit Examensvorbereitung kombinieren.
Das „Hamburger Protokoll“ als Scheinreformvorschlag
Wo es aktuell überhaupt noch Reformvorschläge gibt, stellen sie dieses System nicht grundsätzlich in Frage, sondern verlieren sich im Technischen – und verdienen den Namen Reformvorschlag nur bei sehr großzügiger Auslegung des Begriffs „Reform“. Um ein Beispiel zu nennen: Das „Hamburger Protokoll“ aus dem Dezember 2023 ist das Ergebnis eines Treffens von Vertreter*innen von insgesamt 15 Jurafakultäten in Hamburg, gemeinsam mit dem Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF) und der Initiative iur.reform. Herausgekommen sind vier Forderungen: (1) Reduktion des Pflichtfachstoffs, (2) Einführung eines integrierten Bachelor of Laws (LL.B.), (3) Einrichtung barrierefreier Ansprechstellen zur Konfliktvermeidung und -prävention in Prüfungssituationen sowie (4) Monitoring der mit dem Ersten Staatsexamen zu verfolgenden Ziele. Und in einem 5. Punkt – nämlich „Weitere Reformansätze“ – werden allerlei weitere Forderungen benannt, nämlich die Grundlagen- und Methodenkompetenz zu stärken, Handkommentare auch im Ersten Staatsexamen einzuführen, die Besetzung von Prüfungskommissionen divers zu gestalten.
Im Einzelnen gibt es in diesem Sammelsurium durchaus sinnvolle Vorschläge, aber in den Kernpunkten bewegt sich auch im Hamburger Protokoll leider zu wenig: So wird insbesondere gerade keine Stoffreduktion angestrebt. Auch wenn der erste Forderungspunkt als „Reduktion des Pflichtfachstoffs“ überschrieben ist, wird in den Erläuterungen des Protokolls das Gegenteil festgeschrieben: Die Wissenshuberei soll nur anders organisiert werden. Das Hamburger Protokoll spricht von einer „Verlagerung des Prüfungsstoffs“ und führt aus, dass eben der bestehende Stoff nicht auf einmal, sondern abgeschichtet geprüft werden soll: „Vom jeweiligen Normsetzer in enger Absprache mit den Fakultäten ausgewählte Stoffgebiete werden ausschließlich in studienbegleitenden Klausuren abgeprüft.“ Das ist eine Kapitulationserklärung vor den Kräften, die den status quo der inhaltlichen Zuschnitte der Fachbereiche, Lehrdeputate und Pflichtkursanteile verteidigen.
Die Umschichtung des Pflichtstoffs in die Vorsemester, in denen der Prüfungsstress dann zusätzlich gesteigert würde, soll dann ironischerweise wiederum gar nicht zu einer Verringerung der Studienabschlussklausuren führen. Vielmehr heißt das Hamburger Protokoll die Klausurform der Ersten Juristischen Prüfung ausdrücklich für gut. Sechs Klausuren werden in den Ausführungen über die „weiteren Reformansätze“ in Ziff. 5 lit g explizit als „angemessen“ bezeichnet.
Und spätestens hier überwiegt der Zweifel, ob dieses Hamburger Protokoll tatsächlich den Weg aus der Misere wird weisen können. Genau diese sechs Klausuren am Abschluss einer jahrelangen Stoffhuberei sind das Problem und nicht die Lösung. Denn diese sechs Klausuren und die Breite ihrer möglichen Gegenstände treiben – wie auch die völlig antiquierten Lehr- und Lernmethoden – die Studierenden in die Verzweiflung, zu den privaten Repetitorien und zum Studienabbruch.
Das Damoklesschwert der Staatsexamensklausuren hängt vom ersten Semester an im Hörsaal und erinnert daran, dass die Freiheit der Wahl, die das Schwerpunktstudium scheinbar eröffnet, gar keine ist; dass nur die vermeintlich „Harten in den Garten“ kommen; dass das Studium – wie die Vertreter*innen des Establishments häufig unverhohlen zugeben – eben auch seine Funktion darin hat, Stressresistenz zu schulen und diejenigen auszusieben, die dem Druck nicht standhalten. Dass die in den Erstsemesterveranstaltungen viel zu häufig bemühten Sitznachbar*innen, die es nicht zum Examen schaffen werden, in der Regel die Kinder von Nichtakademiker*innen sind, BIPoC und andere Subalterne – die über keine familiären Jura-Hilfenetze verfügen, die das Geld für die privaten Repetitorien nicht aufbringen können usw.: Who cares!?
Nostalgie der Einphasigkeit
Aber nicht nur vermeintliche Reformvorschläge – wie die des Hamburger Protokolls – greifen zu kurz, sondern auch so manche gut gemeinte Fundamentalkritik.
Viel zu häufig hat sich die Kritik des Jurastudiums in der Vergangenheit darauf reduziert, im nostalgischen Blick zurück, die Errungenschaften der bereits erwähnten „einphasigen Juraausbildung“ zu verklären. Die Experimentierphase der Einstufigkeit war ein Versuch, in einer spezifischen historischen Konstellation Veränderungen zu erzielen. Rudolf Wiethölter, in seinem eingangs zitierten Text „Jura studieren“, umschreibt den Hintergrund dieser Situation und macht sichtbar, dass die einphasige Jurist*innenausbildung Ergebnis einer gesellschaftsweiten Kritik am Recht selbst gewesen ist: „Folgenschwere Hilflosigkeit des Rechts, der Juristen und der Rechtswissenschaft trifft sich mit aufgeklärter, emanzipativer Kritik der Gesellschaft an „ihrem“ Recht, das ihren Bedürfnissen nahezu nirgendwo mehr genügt.“ Von einer solchen gesellschaftsweiten Bewegung der Kritik an Recht und Rechtswissenschaft sind wir weit entfernt.
Trümmerfrauen* der Jurisprudenz
Technisch wird eine Reform des Jurastudiums nur möglich sein, wenn die Entscheidungsstrukturen der Jumiko umgestellt werden und wie in der Experimentierphase der 70er Jahre eine Öffnungsklausel für die Länder eingeführt wird, die es ermöglicht, das Studium der Rechtswissenschaften den Gegebenheiten der Zeit anzupassen. § 5b Abs. 1 S. 1 DRiG i.F.v. 1971 sah vor: „Das Landesrecht kann Studium und praktische Vorbereitung in einer gleichwerten Ausbildung von mindestens fünfeinhalb Jahren zusammenfassen.“ Heute wird es darum gehen, den Ländern, die einen Schritt aus den Gehäusen der Hörigkeit des aktuellen Jurastudiums heraus wagen möchten, eine Abweichung vom Kartell der Beharrungskräfte durch eine Öffnungsklausel zu ermöglichen, die dem Landesrecht eine zeitgemäße Anpassung des Stoffs („Kernfächer“), der Methoden (transformatives Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung, service learning usw.) und auch der Prüfungsformen gestattet.
Aber inhaltlich sollten wir bei der Forderung nach Loccum 2.0 nicht vergessen, dass es nicht einfach um eine Neuauflage der Einphasigkeit – also der Verzahnung von Studium und Referendariat in einer Theorie und Praxis verbindenden einstufigen Studierphase (siehe hierzu den Überblick in der Unterrichtung der Bundesregierung v. 7. Mai 1975, BT-Drs. 7/3604) – gehen kann. Die einphasige Jurist*innenausbildung war die wichtige Erfahrung, dass es auch anders geht. Aber bei der Integration von Sozial- und Rechtswissenschaften hatten auch die Protagonist*innen der Einphasigkeit gerade keine Lösungen entwickelt, die systematisch und konsensfähig gewesen wären. Stattdessen hat man sich in Scharmützel über reine und unreine Lehren verwickelt und vielerorts – es hatten ja sieben verschiedene Länder je eigene Ausdeutungen der Experimentierklausel im DRiG versucht – auch gar keine Praxis- und Grundlagenorientierung realisiert, die aus der Stoffhuberei des Üblichen ernsthaft ausgebrochen wäre. Es wird daher darum gehen, nicht nostalgisch zurück, sondern kämpferisch nach vorne zu blicken (so auch der Tenor der Beiträge im Sonderheft der Zeitschrift Mittelweg 36 zum Verhältnis von Sozialtheorie und Rechtswissenschaft aus dem Jahr 2022).
Wir brauchen Jurist*innen und damit auch das Jurastudium, um die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Wir brauchen Jurist*innen, die angesichts des grassierenden Rechtsextremismus und der sozial-ökologischen Katastrophe nicht beim Wiederkäuen der Wissensbestände der Vergangenheit stehen bleiben, sondern die sich ihrer sozial-ökologischen Verantwortung bewusst sind und die die rechtspolitischen Kämpfe mit Engagement und Courage zu führen bereit sind. Aus den Ruinen der aktuellen Curricula und der aktuellen Lehr- und Lernmodelle werden wir daher das Jurastudium der Zukunft entwickeln müssen.
Trümmerfrauen* der Jurisprudenz sind gefragt.
Aufgabe der Universitäten ist es, unabhängig denkende Justinnen und Juristen auszubilden, die sich der Verfassung als Grundlage einer pluralistischen und freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft verpflichtet fühlen und die daher Extremismen jeglicher (!) Form ablehnen (und damit natürlich auch den Rechtsextremismus). Keinesfalls zu den Aufgaben der Universitäten (und schon gar nicht der Justiz) zählt es hingegen, die “rechtspolitische Kämpfe mit Engagenment” zu führen. Wer wie der Verf. das Beitrages anderes fordert, verwechselt Rechtspolitik mit Rechtsprechung und -anwendung und will letztlich die Ausbildung von Gesinnungsjuristen, die (seine) politischen Ziele verfolgen. Deratigen Ansinnen muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden.