Tertium NON datur: Zweigeschlechtlichkeit als „Prinzip der österreichischen Gesamtrechtsordnung“?
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über die Anerkennung eines „dritten Geschlechts“ wurde in Österreich mit Spannung erwartet. Denn auch der österreichische Verfassungsgerichtshof wird demnächst einen ähnlich gelagerten Fall zu entscheiden haben: Mit Alex Jürgen hat erstmalig ein intergeschlechtlicher Mensch in Österreich beantragt, dass sein Geschlechtseintrag auf „inter“, „anders“, „X“ oder unbestimmt geändert oder aber der Eintrag gänzlich gestrichen wird.
Der Anlassfall
Pro Jahr kommen in Österreich etwa 30 Menschen zur Welt, deren Geschlechtsmerkmale nicht den gängigen Normen von „weiblich“ und „männlich“ entsprechen. Alex Jürgen ist einer von ihnen, seine Geschichte ist der Öffentlichkeit durch den Dokumentarfilm Tintenfischalarm bekannt: Obwohl die Geschlechtsmerkmale uneindeutig waren, bestimmten die Ärzt*innen Alex Jürgens Geschlecht bei der Geburt als „männlich“. Erzogen wurde Alex Jürgen allerdings auf ärztlichen Rat hin als Mädchen. Es folgten Hormonbehandlungen und operative Eingriffe zur Herstellung weiblicher Geschlechtsmerkmale. Das männliche Genital wurde entfernt. Der Geschlechtseintrag „männlich“ blieb dagegen bestehen.
Im Erwachsenenalter lässt Alex Jürgen die weibliche Brust entfernen, die sich durch die Hormonbehandlung entwickelt hat und nimmt einen geschlechtsneutralen Namen an. Er möchte als intergeschlechtliche Person rechtlich anerkannt werden: Beim zuständigen Standesamt beantragt Alex Jürgen eine entsprechende Änderung des Geschlechtseintrags – oder aber dessen ersatzlose Streichung. Der Antrag wird abgewiesen. Dagegen erhebt Alex Jürgen Beschwerde beim oberösterreichischen Landesverwaltungsgericht, das den Antrag ebenfalls abweist. Nun liegt die Sache beim Verfassungsgerichtshof: Er muss klären, ob die österreichische Verfassung die Anerkennung eines dritten Geschlechts gebietet. Das Landesverwaltungsgericht hat dies verneint und sich dabei vor allem auf zwei Argumente gestützt: Die Annahme, dass der österreichischen Rechtsordnung ein Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit zugrunde liegt, das andere Geschlechtsbezeichnungen ausschließt, und die Unvergleichbarkeit von Transgeschlechtlichkeit und Intergeschlechtlichkeit.
Zweigeschlechtlichkeit als Prinzip, oder: Was meint das Recht, wenn es von Geschlecht spricht …
Nach dem österreichischen Personenstandsgesetz (PStG) muss die Geburt eines Kindes innerhalb einer Woche angezeigt im Zentralen Personenstandsregister eingetragen werden. Unter den allgemeinen Personenstandsdaten ist gem. § 11 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 Ziff. 3 PStG auch das Geschlecht des Kindes einzutragen. Das Geschlecht wird bei der Geburt von Ärzt*innen oder Hebammen bestimmt. Eine Regelung, die vorsieht, den Geschlechtseintrag bei intergeschlechtlichen Kindern offenzulassen, gibt es im österreichischen Recht nicht: Auch bei intergeschlechtlichen Personen muss ein Geschlechtseintrag erfolgen. Allerdings enthalten weder das PStG noch die Verordnung zur Durchführung des Personenstandsgesetzes eine Definition des Begriffs „Geschlecht“ oder einen Hinweis darauf, welche Eintragungen konkret vorgenommen werden können. Wäre daher die Eintragung eines dritten Geschlechts in Österreich bereits jetzt möglich?
Nicht, wenn es nach dem oberösterreichischen Landesverwaltungsgericht geht. Die österreichische Rechtsordnung, so das Gericht, gehe von dem Prinzip aus, „dass jeder Mensch entweder weiblichen oder männlichen Geschlechts ist“ (Rn. III.3.4). Dies ergäbe sich zum einen aus verfassungsrechtlichen Bestimmungen wie dem Art. 7 Abs. 2 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG).
Tatsächlich spricht Art. 7 Abs. 2 B-VG von der „Gleichstellung von Mann und Frau“. Weitere Geschlechtsbezeichnungen nennt die Bestimmung nicht. Daraus ein Prinzip strikter Binarität abzuleiten, ist jedoch falsch. Art. 7 Abs. 2. B-VG dient nicht der Geschlechtsbestimmung: Es wird vielmehr das Prinzip materieller Gleichheit auf verfassungsrechtlicher Ebene verankert. Maßnahmen zur Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern sind verfassungsrechtlich zulässig und die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern wird zum Ziel staatlichen Handelns erklärt. Über die mögliche Anzahl an Geschlechtsbezeichnungen ist damit hingegen nichts gesagt. Der Gleichheitsgrundsatz in Art. 7 Abs. 1 B-VG spricht denn auch ganz allgemein von „Geschlecht“ und verbietet unsachliche Differenzierungen, die an das Geschlecht einer Person anknüpfen.
… und kann es mehr als zwei Geschlechter geben?
Zum anderen leitet das Landesverwaltungsgericht Zweigeschlechtlichkeit als Prinzip der Rechtsordnung aus einem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1997 ab. Der Verwaltungsgerichtshof beurteilte darin die Geschlechtszugehörigkeit einer Person im Hinblick auf eine Eheschließung. Beschwerdeführerin war eine transgeschlechtliche thailändische Staatsbürgerin: Während die Geburtsurkunde das Geschlecht – trotz operativer Eingriffe zur Geschlechtsanpassung – mit „männlich“ angab, wies die beglaubigte Übersetzung der Urkunde die Beschwerdeführerin als „das Mädchen W“ aus.
Die in der Entscheidung getroffene Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, „dass jeder Mensch entweder weiblichen oder männlichen Geschlechts“ sei, bezog sich daher vor allem auf den Umstand, dass eine Person rechtlich nicht gleichzeitig weiblich und männlich sein kann. Nicht zwingend ist dagegen der Schluss, dass eine Person nicht auch eine andere Geschlechtszugehörigkeit aufweisen kann.
Dennoch: Tertium non datur?
Das Landesverwaltungsgericht befürchtet, dass durch die Anerkennung einer anderen Geschlechtsbezeichnung als „weiblich“ oder „männlich“ zahlreiche Regelungen der österreichischen Rechtsordnung nicht mehr auf die Betroffenen angewendet werden könnten. Diese Sorge ist nur zum Teil berechtigt. Die österreichische Rechtsordnung ist weitestgehend vom Prinzip formalrechtlicher Gleichheit geprägt. Nur mehr wenige Normen machen eine bestimmte Geschlechtszugehörigkeit zum Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Rechtsfolgen. Auch bei Anerkennung eines dritten Geschlechts könnten weiterhin nur zwei Personen verschiedenen Geschlecht eine Ehe schließen. Verschiedengeschlechtlichkeit hieße dann neben „weiblich und männlich“ eben auch „weiblich und inter“ oder „männlich und inter“. Zur Absicherung einer Beziehung zwischen zwei intergeschlechtlichen Personen gäbe es das Rechtsinstitut der eingetragenen Partnerschaft. Vielleicht ist diese Unterscheidung aber ohnehin bald Geschichte: Im Oktober 2017 hat der Verfassungsgerichtshof ein Gesetzesprüfungsverfahren zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingeleitet.
Nichts würde sich am Wehrdienst ändern, zu dem die österreichische Verfassung nur männliche Staatsbürger verpflichtet; nichts an dem Umstand, dass der erste Vorname dem Geschlecht nicht widersprechen darf – ihm aber auch nicht entsprechen muss. Beim unterschiedlichen Pensionsantrittsalter für weibliche und männliche Sozialversicherte handelt es sich ohnedies bereits um ein Auslaufmodell: Für alle nach dem 2. Juni 1968 Geborenen gilt ein einheitliches Pensionsantrittsalter von 65 Jahren. Für die vor dem Stichtag Geborenen wäre klarzustellen, welches Pensionsantrittsalter gilt, wenn der Geschlechtseintrag auf „inter“ geändert wird.
Die größten Herausforderungen liegen damit im Bereich des Abstammungsrechts. Allerdings kennt die österreichische Rechtsordnung bereits seit der Öffnung der medizinisch unterstützten Fortpflanzung für gleichgeschlechtliche Partnerinnen den „anderen Elternteil“. Wäre es also nicht an der Zeit, aus Müttern und Vätern generell „Eltern“ werden zu lassen? Schließlich liegt der Sinn abstammungsrechtlicher Regelungen nicht in der Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit der an Zeugung und Geburt eines Kindes beteiligten Personen: Es soll vielmehr sichergestellt werden, dass von Anfang an wenigstens eine Person mit Pflege und Obsorge des Kindes betraut ist.
Anerkennung der Geschlechtsidentität als Menschenrecht
Das Bundesverfassungsgericht stützt die Anerkennung eines dritten Geschlechts auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Ein äquivalentes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit kennt die österreichische Verfassung nicht: Eine Verpflichtung zur Anerkennung der Geschlechtsidentität intergeschlechtlicher Personen lässt sich für die österreichische Rechtsordnung allerdings aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ableiten.
Die EMRK steht in Österreich im Rang eines Bundesverfassungsgesetzes und ist in ihren grundrechtlichen Bestimmungen unmittelbar anwendbar. Die Verletzung eines von der EMRK garantierten Rechts kann vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden. Im Zusammenhang mit der rechtlichen Anerkennung von Trans*Personen hat der EGMR bereits mehrfach festgestellt, dass die Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität einen wichtigen Aspekt des rechtlich geschützten Privatlebens darstellt (grundlegend hier). Die Mitgliedstaaten der Konvention trifft diesbezüglich eine positive Gewährleistungspflicht. Zwar hat der EGMR bislang noch nicht konkretisiert, welche Anforderungen nationale Rechtsordnungen für die Anerkennung der Geschlechtsidentität vorsehen dürfen. In A.P., Garçon und Nicot/Frankreich hat der Gerichtshof allerdings klargestellt, dass die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Trans*Personen nicht von einer Sterilisation abhängen darf.
Die Bedeutung, die der EGMR der gelebten Geschlechtsidentität von Trans*Personen beimisst, hat seit Goodwin/Vereinigtes Königreich und I./Vereinigtes Königreich ständig zugenommen. Für die Situation von intergeschlechtlichen Menschen soll dies nach Ansicht des oberösterreichischen Landesverwaltungsgerichts allerdings nicht gelten: Weil Transgeschlechtliche (nur) einen Wechsel zwischen den beiden (bislang) rechtlich anerkannten Geschlechtern anstreben, Intergeschlechtliche aber die Etablierung einer weiteren Geschlechtsbezeichnung fordern, rügt das Landesverwaltungsgericht den Verweis auf die Judikatur des EGMR zu Transgeschlechtlichkeit als verfehlt (Rn. III.3.5) – nur um wenige Absätze später selbst auf ein Urteil des EGMR zur Anerkennung der Geschlechtsidentität Transgeschlechtlicher zu verweisen: In Hämäläinen/Finnland habe der Gerichtshof festgestellt, dass ein Widerspruch zwischen dem in der Geburtsurkunde eingetragenen und dem empfundenen Geschlecht nicht in jedem Fall eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellt (Rn. III.3.6).
Was das Landesverwaltungsgericht dabei übersieht: In Hämäläinen ging es nicht darum, ob die Geschlechtsidentität trangsgeschlechtlicher Personen (überhaupt) anerkannt wird. Fraglich war nur, ob die Anerkennung der Geschlechtsidentität an eine Umwandlung der Ehe verheirateter Transgeschlechtlicher in eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft geknüpft werden darf. Dies hat der EGMR bejaht. Der Gerichtshof gesteht also den Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessensspielraum hinsichtlich der konkreten Regelungen zur Anerkennung der Geschlechtsidentität zu. An der positiven Verpflichtung nach Art. 8 EMRK, die Geschlechtsidentität anzuerkennen, ändert sich dadurch allerdings nichts. Sie muss auch für intergeschlechtliche Personen gelten.
Höchstgerichtliche Rechtsprechung als Motor des Minderheitenschutzes
Das Eingreifen von Verfassungsgerichten in Entscheidungen der Gesetzgebung findet eine wesentliche Rechtfertigung darin, dass dadurch der Schutz und die Rechte von Minderheiten sichergestellt werden: Ihre Interessen sind häufig nicht mehrheitsfähig. Ohne das an den Grund- und Menschenrechten ausgerichtete Korrektiv der Verfassungsgerichtsbarkeit kämen Minderheitenpositionen in einer auf Mehrheiten basierenden Demokratie häufig zu kurz. Die Entwicklung von LGBT-Rechten in Österreich bildet dafür ein Lehrstück: Tatsächlich wurden fast alle Entwicklungen in den letzten zwei Jahrzehnten durch die österreichische Rechtsprechung vollzogen: 2002 hob der Verfassungsgerichtshof das höhere Schutzalter hinsichtlich der Strafbarkeit männlicher Homosexualität als gleichheitswidrig auf, 2009 stellte der Verwaltungsgerichtshof fest, dass die operative Entfernung der Genitalien keine Voraussetzung für die Anerkennung des Geschlechts von transgeschlechtlichen Personen darstellen darf. Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paar erfolgte zwar durch die Gesetzgebung – allerdings vor dem Hintergrund einer drohenden Verurteilung Österreichs durch den EGMR (die dadurch abgewendet wurde). Die Beseitigung diskriminierender Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Partnerschaft ist dagegen ein Ergebnis der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Als Reaktion auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts fordern die österreichische Bioethikkommission und die Volksanwaltschaft die rasche Anerkennung eines dritten Geschlechts. Auch wenn es nach den Oppositionsparteien geht, soll die Gesetzgebung einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zuvorkommen. Zieht keine der Regierungsparteien mit, fehlt es für ein entsprechendes Gesetz allerdings an der nötigen Stimmenmehrheit. Dann ist erneut der Verfassungsgerichtshof gefordert, korrigierend im Sinne des Minderheitenschutzes einzugreifen: Mit seiner Entscheidung ist voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2018 zu rechnen.
Ein sehr informativer Beitrag, vielen Dank!