19 December 2009
US-Verfassungsgeschichte zum an die Wand hängen
Hier etwas, was zwei Interessengebiete von mir auf das Schönste verbindet: Verfassungsrecht und Visualisierung.
Eine tolle Visualisierung der Verfassungsgeschichte der USA: Toll vor allem, wie die Kräfteverhältnisse im SC visualisiert sind – wie eine Straße, die mal in die eine Richtung kurvt, mal in die andere. Gleichzeitig intuitiv und informativ. Hut ab!
Update: Mehr dazu samt Interview mit dem Autor Nathaniel Perlman hier.
SUGGESTED CITATION
Steinbeis, Maximilian: US-Verfassungsgeschichte zum an die Wand hängen, VerfBlog, 2009/12/19, https://verfassungsblog.de/us-verfassungsgeschichte-zum-an-die-wand-hangen/.
Solche Spielereien sind nett, solange man deren Resultat nicht zu ernst nimmt. Spannender ist indes der Prozess.
Auch wenn die Amerikaner – beileibe nicht nur für die Judikative – gerne mit dem Liberalism/Conservatism-Index spielen, halte ich dessen Aussagekraft für sehr begrenzt.
Zur Möglichkeit, solche Modelle auf Deutschland zu übertragen:
Ein Grundproblem bleibt: Eine derartige Personalisierung wie in den USA hat es in Deutschland nie gegeben und wird es jedenfalls in diesem Ausmaß auch nicht geben. In den USA gibt es die Tradition der “seriatim opinions” (d.h. ein Richter nach dem anderen stimmt ab, und dann wird addiert); in Deutschland gibt es seit jeher die Fiktion eines Richterkollektivs, das DIE Entscheidung schlechthin verkündet, zu der es – so diese Tradition – im Grunde keine Alternative gibt, wobei der einzelne Richter, insbesondere seine Person, im Hintergrund bleibt (deshalb gab es auch bei der Einführung der Sondervoten so große Widerstände). Nach wie vor haben wir bei Weitem nicht bei allen Entscheidungen Abstimmungsergebnisse; können also bestenfalls erahnen, dass und ggf. welche Richter anders als die Mehrheit gestimmt haben. Insofern entzieht sich das BVerfG genau solchen Auszählmechanismen. In den letzten Jahren hat es eine leichte Personalisierung gegeben, aber ich sehe nicht, dass sie viel weiter geht als bisher.
Dass das Bundesverfassungsgericht bis heute – immerhin besteht es bald 60 Jahre – noch nicht Stoff für eine solide zeitgeschichtliche Studie war, ist enttäuschend sowohl für die Disziplinen Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft, aber auch für die Institution selber, die bislang ihre Akten strenger hütet als das vielleicht sein müsste. Da wäre etwas zu tun.
Ein Spiel, das wir tatsächlich mal angehen könnten – und das durchaus diskursiv über BLOGs – das ist, eine Rangfolge der nach unserer Einschätzung bedeutendsten Entscheidungen des Gerichts der ersten 60 Jahre zu entwickeln. Über dieses Spiel – ich möchte bei diesem Begriff bleiben – könnte man sich verständigen über Kategorien, die die Bedeutung einer Entscheidung ausmachen: Einfluss auf die weitere Rechtsentwicklung, Einfluss auf das Grundrechts- und Verfassungsdenken, Bedeutung für die Institution Verfassungsgerichtsbarkeit, gesellschaftliche Bedeutung, Bedeutung für den politischen Prozess, “Strittigkeit” einer Entscheidung. Man könnte, um es überschaubar zu halten, mal eine Liste von 20 Entscheidungen zusammenstellen, die man für die bedeutendsten hält. Neben den genannten Entscheidungen wäre auch das Maß an Einmütigkeit, das man bei einer solchen Umfage erreicht, spannend.
Von DIESER Visualisierung halte ich nun nicht allzu viel. Wohl wissend, dass jede Visualisierung komplexer Sachverhalte und Entwicklungen nur eine Art von Reduzierung auf (hier) zwei Dimensionen sein kann, finde ich sie im konkreten Fall nicht sonderlich anschaulich oder auch geeignet neue Erkenntnisse daraus zu entnehmen, die man nicht als fast Textwissenschaftler schon hätte gewinnen können.
na, Sie sind ja anspruchsvoll. Ich weiß ja nicht, mit was für Visualisierungen Sie es sonst so zu tun haben, aber ich begegne nicht oft welchen, denen die Kombination aus intuitiver Zugänglichkeit und Informationsdichte so gut gelingt wie dieser. Und ich hab in letzter Zeit ziemlich viel mit Rechtsvisualisierung zu tun (http://www.politikatlas.de).
Der Liberalismus-Konservativismus-Diskurs der Amerikaner ist in meinen Augen weniger eine Spielerei als eine notwendige Folge des US-Wahlrechts, das extrem viel Mehrheits- und vergleichsweise extrem wenig Verhandlungsentscheidungen nach sich zieht.
Der Beobachtung, dass eine zeithistorische Monographie über das BVerfG überüberfällig wäre, kann ich gar nicht laut genug applaudieren.
Hitparade der wichtigsten BVerfG-Entscheidungen: Können wir gerne mal machen. Müssten wir uns zuerst auf die Kriterien einigen: Bedeutend wofür? Die Nassauskiesungs-Entscheidung war für das Staatshaftungsrecht wegweisend, aber verfassungspolitisch nicht so spannend. Die Schleyer-Entscheidung war einer der dramatischsten Momente in der bundesdeutschen Verfassungsgeschichte, aber die Rehtsdogmatik hat sie nicht weiter bereichert.
Wir könnten auch mehrere Kategorien aufstellen: Grundrechte, Staatsorganisation…
Oder noch eine andere Idee – total subjektiv, aber gerade deshalb für ein solches Spiel geeignet: Die fünf Entscheidungen, die wir am meisten bewundern. Und die fünf, die wir am wenigsten mögen. Das wäre doch was, oder?
Nun ja, vielleicht rührt meine Skepsis gegenüber Visualisierungen daher, dass ich schon manchen Unsinn in diesem Bereich von Kollegen der Sozialwissenschaften gesehen habe. Das fängt bei einfachen Matrizen an und geht über komplexe Schaubilder bis hin zu Bewegt-Bildern, die aber mehr verunklaren als dass sie Dinge veranschaulichen. Die Gefahr in der Visualisierung liegt auch in ungewollten “Nebeneffekten”: Wer kennt nicht die graphischen Darstellungen aus den eigenen Schulbüchern, die etwa ein Regierungssystem veranschaulichen sollten und letztlich – die Bürger sind meistens unten; politische Willensbildung findet nur über Wahlen statt – falsche oder mindestens verzerrte Botschaften übermittelten.
Vielleicht rührt meine Skepsis auch aus meinem Vorleben als studierter Mathematiker.
Nichtsdestotrotz: Das Spannendste an solchen Schaubildern ist für mich der Streit über sie. In meinem Studium der Alten Geschichte stellte mein Professor für römische Sozialgeschichte, Géza Alföldy, sein Schaubild über die Stände-Schichten-Struktur der römischen Gesellschaft vor. Er räumte Unvollkommenheiten bei seinem Modell ein; die Debatte über das Modell war allerdings außerordentlich erhellend – da ist mir vieles in Erinnerung geblieben.
Zur Hitparade der bedeutendsten Entscheidungen schreibe ich Ihnen mal direkt.
Eine öffentliche “Hitparade der bedeutendsten Entscheidungen” fände ich interessant, soweit dies für den Autor in Ordnung ist.