Vom individuellen Unrechtskontext zum systematischen Umgang mit kolonialem Unrecht
Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten und die Rolle des Rechts
Welche Rolle spielen Provenienzforschung und das Recht bei Repatriierungsforderungen? Was ändert sich durch die Neubewertung des Lagerns menschlicher Überreste als „Eigentum“ und „Kulturgut“ staatlicher und privater Einrichtungen in Deutschland? Bislang wurden die Aufarbeitung, Herausgabe von Informationen und Repatriierungen lediglich freiwillig aufgrund moralischer Gründe erwogen, aber nicht aufgrund eines rechtlichen Anspruchs. Auf Grund der rechtlichen Unklarheit im heutigen Umgang mit kolonialem Unrecht knüpft der Deutsche Museumsbund diese Aspekte in seinem Leitfaden an einen nachweisbaren und individuellen Unrechtskontext des Erwerbs.1) Letzterer ist aber, bedingt durch die koloniale Aneignungspraxis selbst, nicht in jedem Fall möglich nachzuweisen, wie in diesem Artikel an einem Provenienzforschungs-Beispiel skizziert wird.
Unter Repatriierung wird hier die Rückgabe menschlicher Überreste an die Herkunftsländer und/oder direkten biologischen Angehörigen und/oder Angehörige der sich zugehörig sehenden indigenen Gesellschaften verstanden.2) Eine rechtliche Verankerung der Repatriierung steht noch aus. In diesem Artikel möchten wir dafür plädieren, dass in diesem Falle nicht die individuelle Nachweisbarkeit des rechtswidrigen Erwerbs als Kriterium verankert wird (inklusive des unter damaligen Umständen/Gesetzen rechtmäßigen Erwerbs). Vielmehr muss es darum gehen, koloniales Unrecht systematisch zu erfassen und proaktiv auf Herkunftsgesellschaften zuzugehen. Gab es keine informierte Zustimmung in der Vergangenheit, muss den Angehörigen die Autorität und Kontrolle im heutigen Umgang mit ihren Vorfahren und diese betreffende Informationen zugestanden werden. Erst so kann Kolonialgeschichte mit ehemals Kolonisierten als aktive Ermittlungsbeteiligte aufgearbeitet werden, um koloniale Kontinuitäten zu beenden und Repatriierungen zu ermöglichen.
Erkämpfte Aufarbeitung
Angehörige und Intellektuelle aus Herkunftsgesellschaften fordern seit Jahrzehnten die Rückgabe der Körperteile ihrer Ahnen aus deutschen musealen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die dort im 19. und 20. Jahrhundert u. a. für rassenanthropologische Forschungen angelegt wurden. Das Recht auf Repatriierung sowie die gemeinsam mit indigenen Völkern zu entwickelnden Verfahren, um den Zugang zu deren Ritualgegenständen und sterblichen Überresten zu ermöglichen, sind in Art. 12 Abs. 2 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker explizit genannt.3) Art. 12 Abs. 2 normiert hierbei einen Anspruch auf Repatriierung von Ahnen, der als solcher nunmehr auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Hiernach haben Verfahrensnormen, die diesen Anspruch sichern sollen, haben fair transparent und wirksam ausgestaltet zu sein.
Trotzdem haben es Verantwortungsträger*innen staatlicher Institutionen in Deutschland lange als prinzipiell zulässig erachtet, Informationen über menschliche Überreste in ihren Sammlungen nicht an Angehörige von Herkunftsgesellschaften herauszugeben und Repatriierungsforderungen abzuweisen.4) Die Herausgabe von Informationen und Repatriierungen kann zwar noch immer rechtlich nicht erzwungen werden. Der gesellschaftliche Diskurswandel u. a. durch die zunehmend erkämpfte Aufarbeitung von Kolonialgeschichte macht das Zurückhalten der Informationen und der Körperteile aber zunehmend unhaltbar. Das folgende Beispiel zeigt, welche Auswirkungen mangelndes Wissen um die Herkunft der Sammlungen, kombiniert mit einer ungeklärten Rechtslage auf die Suchenden, haben kann:
Der tansanische Staatsbürger Mnyaka Surrur Mboro und Mitbegründer des Vereins Berlin Postkolonial sucht seit vier Jahrzehnten nach dem Kopf des Chaga-Fürsten Mangi Melis, den die Deutschen nach dessen Hinrichtung im Jahr 1900 nach Deutschland gebracht haben.5) Vor ein paar Jahren hatte es ihn hart getroffen, dass sein Auskunftsgesuch bei der Staatlichen Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit menschlichen Überresten aus dem heutigen Tansania mit der folgenden Begründung abgewiesen wurde: Es könne noch keine Auskunft über den Bestand gegeben werden, solange die Ergebnisse der Provenienzforschung nicht vorlägen, um zu prüfen, ob die Gebeine illegal in Deutschland seien.6)
Dieser Argumentation folgend können Provenienzforschung und Recht die eigene Suche von möglichen Angehörigen und Mitgliedern der Herkunftsgesellschaften und damit auch deren Ausübung religiöser oder kultureller Pflichten eher behindern als unterstützen. Darüber hinaus wird ihr Wissen und ihre Beteiligung als integraler, notwendiger Bestandteil des Umgangs mit den Sammlungen und der Provenienzforschung selbst negiert, obwohl Rückgabeforderungen und Auskunftsgesuche die zunehmende Etablierung von Provenienzforschung erst angestoßen haben. Zugewiesen wird den Angehörigen im schlimmsten Fall die Rolle der Bittsteller*innen statt der Partner*innen in der Aufarbeitung. Ende 2022 erscheint die obige Antwort kaum mehr denkbar und dennoch ist es u. a. Mboro selbst, der die Informationen der seit 2017 begonnenen und in diesem Sommer veröffentlichten Provenienzforschung7) bis in die Kilimanjaro-Region trägt.8)
Auch die Notwendigkeit, sich als deutsche Staatsbürgerin für eine staatliche Verantwortungsübernahme zur Erleichterung der Repatriierungsarbeit einzusetzen, wurde durch Nachfahren an Isabelle Reimann herangetragen:
Santi Hitorangi und Evelyn Huki arbeiten seit mindestens 2019 für die Repatriierung und angemessene Bestattung ihrer aus Rapa Nui gestohlenen Vorfahren, die momentan noch immer im Grassi Museum in Leipzig sind. Als Reaktion auf das Gutachten zu menschlichen Gebeinen in Berlin fordern sie einen parlamentarischen Beschluss über ein geregeltes und vereinfachtes Verfahren, das es ermöglicht, dass Nachfahren, Sammlungsverantwortliche und Provenienzforscher*innen besser zusammenarbeiten.9)
Politischer Rückführungswille – ohne rechtliche Absicherung
Zu den rechtlichen Fragen heißt es in einer Antwort der Bundesregierung vom 25.7.2019 auf eine Kleine Anfrage:
“Die rechtlichen Voraussetzungen für eine mögliche Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, einschließlich menschlicher Überreste, sind in Deutschland abhängig vom jeweils für die Einrichtungen geltenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Danach sind Rückgaben grundsätzlich möglich.“ 10) (S. 9) und „Die Bundesregierung hält die Schaffung gesetzlicher Maßnahmen dazu derzeit nicht für notwendig.”11) (S. 10).
Die Unterstützung von Provenienzforschung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2021 unter dem Abschnitt Kultur- und Medienpolitik wird begründet „[u]m die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben“ (Koalitionsvertrag 2021, S. 125),12) ähnlich auch Landeskoalitionsvertrag Sachsen)13). Keine Erwähnung findet, dass mit der Aufarbeitung auch eine Anerkennung rechtlicher Verantwortlichkeit für die Entrechtung, Enteignung, Vertreibung, Verfolgung und Ermordung von Opfern durch das deutsche Kolonial-Regime erfolgen müsste.
Im Jahr 2022 sind die politischen Aussagen bezüglich Repatriierungen klar formuliert, so beispielsweise auf der Website der Staatsministerin für Kultur und Medien:
„Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände vertreten gemeinsam die Überzeugung, dass menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten nicht in unsere Museen und Sammlungen gehören, sondern an die Herkunftsgesellschaften zurückzuführen sind.“14)
Die Übernahme rechtlicher Verantwortung, an deren Anfang die Repatriierung und die umfassende Kostenübernahme steht, bleibt jedoch bis zuletzt aus. Gleiches gilt für die Verpflichtung zum Erlass solcher Maßnahmen, die einen rechtlichen Anspruch für die Rückgabe absichern und die das Vorgehen nach politischer Opportunität und unilateralem Gutdünken ablösen.15) Bislang haben Angehörige keine formalisierten Beteiligungsmöglichkeiten im Umgang mit den Gebeinen ihrer Vorfahren sowie an den Methoden, Bedingungen und der Veröffentlichung der Provenienzforschung. Beteiligungs- und Autorisierungsmöglichkeiten fehlen auch für den Umgang mit Informationen, historischen Veröffentlichungen, Messdaten und Abbildern – einschließlich deren Verbreitung im Netz vor dem Hintergrund der aktuellen Durchführung zahlreicher Digitalisierungsprojekte.
Dreh- und Angelpunkt: Nachweisbarkeit des individuellen Unrechtskontextes
Als rechtliche Grundlage für Repatriierungsansprüche verweisen die Empfehlung des Deutschen Museumsbundes (DMB) zum Umgang mit menschlichen Überresten 2013 und 2021 derzeit nur auf die allgemeinen Herausgabeansprüche des Privatrechts,16) da es eine spezielle gesetzliche Regelung für Sachverhalte dieser Art nicht gibt. Danach wird eine Rückgabe an einen nachweisbaren Unrechtskontext des Erwerbs geknüpft. In diesem Fall müsse „den eventuell eruierbaren Nachfahr*innen der verstorbenen Person bzw. potenziell Verfügungsberechtigten die Rückgabe der menschlichen Überreste proaktiv“ angeboten werden.17) Dieser individuelle Unrechtskontext resultiere aus der vollständig aufgeklärten Provenienz in fundierten Einzelfallprüfungen und wird zur Bedingung für die proaktive Benachrichtigung der Angehörigen, sowie für das Einleiten weiterer Schritte gemacht.
Begründend heißt es in den Empfehlungen des DMB:
„Auch wenn Kolonialismus und Kolonisierung selbst als historisches Unrecht verstanden werden müssen, heißt dies nicht, dass jegliche Transaktion von Objekten und/oder menschlichen Überresten, die in einem kolonialen Kontext stattfand, als unrechtmäßig anzusehen ist.“18)
Das Verständnis des „historischen Unrechts (…) in einem kolonialen Kontext“ ist danach lediglich eine ethisch-moralische Kategorie, solange der Unrechtskontext nicht auch juristisch erfasst und nachgewiesen wird. Für den DMB stellt sich dementsprechend die Rückgabefrage als rein zivilrechtliche Frage nach den Verfügungsberechtigen und dem Erwerb.19) Zwar wird eingestanden, dass „eine Rückgabe auch ohne Feststellung eines Unrechtskontextes erwogen werden [kann], etwa um anzuerkennen, dass die menschlichen Überreste oder die sie beinhaltenden Objekte für diejenigen, die die Rückgabe wünschen, von besonderer Bedeutung sind.“ (DMB, S. 23) Allerdings verbleibt die Entscheidungskompetenz damit weiterhin bei den lagernden Einrichtungen.
Bemerkenswert ist, dass der DMB die zivilrechtliche Rückgabefrage zudem behandelt, ohne auf die postmortale Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie nach Art 1 Abs. 1 GG zurückzugreifen.20) Dem kolonialen Verständnis ist geschuldet, dass das Recht die menschlichen Überreste als „Kulturgüter“, bis dato als bewegliche, eigentumsfähige Sachen behandelt, die verschenkt oder verkauft werden können, mithin also verobjektiviert werden. Genau dies soll nach dem Menschenwürdeverständnis von Art 1 Abs. 1 GG eigentlich verhindert werden. Dabei ist die Würde und der allgemeine Achtungsanspruch vom Staat unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG über den Tod hinaus zu achten und zu schützen. Dies betreffe den Schutz der Ehre des Verstorbenen und den Schutz seines Leichnams als Hülle der verstorbenen Person, der nicht wie beliebige Materie behandelt werden dürfe.21) Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch davon aus, dass der postmortale Persönlichkeitsschutz mit der Zeit verblasse und in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen schwächer werde, an Umfang verliere.22) Angehörige, die die Rückgabe der menschlichen Überreste verlangen, kritisieren diese deutsche Rechtsinterpretation des postmortalen Persönlichkeitsschutzes, da die Bedeutung der Ahnen und deren sterbliche Überreste in anderen Religionen und Kulturen sehr viel weiter gehen würden.23) Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Sachsen, wo mit Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG die Repatriierung 2017 nach Hawai’i mit dem Konzept der Rehumanisierung begründet wurde.24) Rechtlich abgesichert ist der Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG jedoch nicht. Hieran zeigt sich, wie koloniale Vermächtnisse epistemologisch derzeit weiterhin in das deutsche Rechtsverständnis hineinwirken.
Provenienzforschung und (Nicht-)Nachweisbarkeit des „unrechtmäßigen Erwerbs“
Welche Probleme stellen sich, wenn an einer vorwiegend zivilrechtlichen, individuellen Rechtsbetrachtung zunächst einmal festgehalten wird? Inwieweit kann die Provenienzforschung die erforderliche Nachweisbarkeit des „unrechtmäßigen Erwerbs“ für die rechtliche Prüfung überhaupt liefern? Wann kann eine Provenienzforschung als abgeschlossen betrachtet werden, insbesondere wenn die Beteiligung von Angehörigen und Expert*innen aus der Region nicht als integraler oder auch erforderlicher Bestandteil dieser Forschung gesehen wird?
Aus Sicht der Provenienzforschung muss in aller Nüchternheit festgestellt werden, dass die individuelle Nachweisbarkeit des unrechtmäßigen Erwerbs nicht immer rekonstruiert werden kann, selbst wenn diese anzunehmen ist. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen:
Ein Provenienzforschungsprojekt auf Werkvertragsbasis von Isabelle Reimann, Ulrike Kirsch und Mnyaka Sururu Mboro für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Stand November 2021) sollte die Identitäten der Verstorbenen und die Hintergründe für die Aneignung und den Verbleib zweier mit „Wagogo“ beschrifteten Schädel rekonstruieren.25) Diese wurden am 28.07.1921 in den Bestand der anthropologischen Abteilung der Museen für Tierkunde und Völkerkunde Dresden eingegliedert, nachdem sie zusammen mit zwei weiteren Schädeln gekauft wurden, ohne die genauen Käufer*innen identifizieren zu können. Zuvor befanden sich die Schädel in der Anatomie Rostock als Leihgaben des Ethnographischen Museums Rostock. Der Faden der Provenienzkette verliert sich bislang in Rostock. Anhand der Person Dr. Ernst Brückner konnte zwar eine Verbindung von Mecklenburg nach Ugogo/ heutiges Tansania hergestellt werden, wo sich dieser um 1900 herum Objekte aneignete.26) Einen Nachweis über den Kontext der Aneignung von menschlichen Überresten konnte jedoch noch nicht gefunden werden. Auch das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste finanzierte Forschungsprojekt, das die sogenannte „Racen-Schädelsammlung“ von Friedrich Merkel in Rostock aufarbeitet, konnte nicht weiterhelfen.27) Eine Zusammenarbeit mit Vertreter*innen der Wagogo oder tansanischen Expert*innen mit lokaler Expertise wurde noch nicht begonnen. Im Ergebnis konnte ein individueller Unrechtskontext mit dem Nachweis der unrechtmäßigen Aneignung bislang nicht erbracht werden.
Ginge man von der Rückgabe im Rahmen eines Verwaltungsprozesses aus28), führte auch der Amtsermittlungsgrundsatz (§86 I VwGO) in der Praxis kaum weiter, so dass für die Darlegung des Anspruchs auf Repatriierung auf die freie richterliche Beweiswürdigung (§108 I 2 VwGO) oder auf die Möglichkeit der Beweisanträge nach §86 II VwGO verwiesen werden müsste. Zwar bewirkt der Amtsermittlungsgrundsatz, dass es im Verwaltungsprozess keine „formale Beweislast“ gibt. Somit trifft die Parteien keine Beibringungsobliegenheit (wie im Zivilrecht), die dazu führt, dass das Gericht nicht vorgebrachte Tatsachen unberücksichtigt lassen könnte (insbesondere trotz gegenteiliger Kenntnis. Aber in einer Situation, die als “unaufklärbar” gilt (non-liquet), wird die “materielle Beweislast” anhand der Klageart oder streitendscheidenden Norm bestimmt.29) In Restitutionsfällen wird sie ganz überwiegend bei den Kläger*innen liegen und damit also auch der Nachteil der non-liquet-Situation, nämlich, dass die “Erwerbsumstände” schlicht nicht zu klären sind.
Rechtmäßiger Erwerb im kolonialen Kontext?
Die oben erwähnte Provenienzforschung bezieht auch einen kolonialgeschichtlichen Hintergrund zum kolonialen Kontext in Ugogo und der Suche möglicher deutscher Aneigner*innen mit ein. Damit stellt sich ein rechtmässiger Erwerb als so gut wie ausgeschlossen dar.30) Deutsche Militärs gingen mit äußerster Brutalität in zahllosen Kriegszügen bei der Eroberung und gegen den Widerstand der Bevölkerung in Ugogo vor, Plünderungen waren ein fester Bestandteil. Militärangehörige, aber auch Ärzte und Forschungsreisende waren am Raub menschlicher Körperteile beteiligt.31) So raubte der selbsternannte Forschungsreisende Oscar Neumann 1893 zwei Schädel der Wassandaui aus dem damals als nördlichstes Wagogo-Dorf verorteten „Kwa Kokue bei Kwa mtoro“.32) Zwei Beispiele, die die Situation in Ugogo illustrieren33):
1) Schon bei Carl Peters Durchquerung von Ugogo ging er gewaltsam gegen die Wagogo vor. Er erschoss mehrere Menschen, ließ Dörfer abbrennen und Nutztiere rauben. Er schrieb: „Die Wagogo sind Lügner und müssen vernichtet werden von der Oberfläche der Erde. Wenn der Sultan aber der Sklave der Deutschen werden will, so können er und die seinen leben.“34)
2) Dr. Heinrich Claus war von 1907-1909 zwei Jahre als „Schutztruppenarzt“ im Militärbezirk Kilimatinde tätig. Zwischen ihm und Felix von Luschan (u. a. Leiter der Abteilung Afrika und Ozeanien des Königlichen Museums für Völkerkunde) ist ein regelmäßiger Schriftverkehr belegt, in dem Luschan bittet „recht grosse Serien von Schädeln zu bekommen“35). Worauf Claus antwortet:
„Einen Schädel werde ich wohl erhalten, größere Serien sicher nicht. Die Wagogo beerdigen in Gräbern. Eine Exhumierung könnte die Leute bedenklich erregen und wir haben alles zu vermeiden in dieser Hinsicht, wie ich natürlich auch Rücksicht auf meinen Stationschef nehmen muss, um ihm keinen Unannehmlichkeiten zu bereiten.“36) Diese Aussage veranschaulicht das schon damalige Wissen, dass Grabraub auch in Ugogo zutiefst unmoralisch empfunden, als Unrecht anerkannt und nur gegen Widerstand der Bevölkerung möglich war.
Wird nicht der individuelle, sondern der koloniale Kontext der Zeit zugrunde gelegt, wird eine Aneignung in einem gewaltvollen und hierarchischen Machtverhältnis sichtbar. Die Rückgabeforderungen werden so plausibilisiert, das heißt in rechtlichen Auseinandersetzungen nachvollziehbar gemacht.
Laut der Historikerin Eva Künkler fanden in der gesamten Kolonie „Deutsch-Ost-Afrika“ über 240 militärische Expeditionen bzw. Gefechte, davon rund 100 Militäraktionen des Maji-Maji-Krieges statt.37) Damit herrschte in der Kolonie die Situation eines permanenten Kriegszustandes. Vor diesem empirischen Hintergrund stellt Künkler fest, dass der Bestand der Kriegsbeute, darunter menschliche Überreste, noch nicht annähernd erforscht worden sei.
Von einem individuellen zu einem systematischen, proaktivem Ansatz
Eine grundlegende Anerkennung des kolonialen Unrechtskontextes bei der Aneignung menschlicher Überreste sollte die individuelle Nachweisbarkeit des kolonialen Unrechtskontextes ablösen. Es bedarf einer Übersetzung von einem individuellen zu einem historischen und von einem historischen zu einem juristischen Unrechtskontext (systematischer Anspruch). Die bisher marginalisierte Rolle der Nachfahren sollte als aktive Ermittlungsbeteiligung staatlicherseits ausgestaltet werden (proaktiver Anspruch).
Daher sollen Angehörige, erfahrene Repatriierungspraktiker*innen, Expert*innen aus Herkunftsgesellschaften auch in die Entwicklung der Regelungen selbst einbezogen werden. Beispielsweise könnte dies durch die Schaffung eines advisory boards erfolgen38). Was braucht es im jeweiligen Einzelfall für eine angemessene Totenfürsorge und wie können die Regelungen und nötigen Ressourcen an den Bedürfnissen ausgerichtet werden – rechtlich, gesetzlich, rechtsdeklaratorisch? Sowohl die Erfahrung Mnyaka Sururu Mboros als auch Santi Hitorangi und Evelyns Huki Ausarbeitung ihres Vorschlags können in diesem Rahmen Gehör und Anerkennung finden. Mit einem systematisch-proaktiven Vorgehen kann die Bundesrepublik Deutschland dem nachkommen, wozu sie sich mit der Unterzeichnung der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker bereit erklärt hat, nämlich „sich zu bemühen, durch gemeinsam mit den betroffenen indigenen Völkern entwickelte faire, transparente und wirksame Mechanismen den Zugang zu den in ihrem Besitz befindlichen Ritualgegenständen und sterblichen Überresten und/oder ihre Rückführung zu ermöglichen“.
References
↑1 | Deutscher Museumsbund e.V. (2021): Leitfaden Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen. Online: https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/06/dmb-leitfaden-umgang-menschl-ueberr-de-web-20210623.pdf (2.11.2022). |
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↑2 | Hier eine aktuelle Zusammenstellung von Rikke Gram and Zoe Schoofs (2022):: https://perspectivia.net/receive/pnet_mods_00005364 |
↑3 | Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker, Art. 12 Nr. 2. Online:,http://www.humanitaeres-voelkerrecht.de/EriV.pdf. |
↑4 | Ayau, E.H. et al. (2017): Injustice, Human Rights, and Intellectual Savagery. A Review. Online: www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-3987 (25.10.2022). |
↑5 | Vgl. u. a. Mboro, M.S. und Kopp, C. (2018): ’Unter Kannibalen’ – Afrikanische Initiativen zur Rückführung der Ahnen. In: Mühlenberend, S. et al. (Hg.): Unmittelbarer Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Universitätssammlungen, S. 35–46. Online: www.wissenschaftliche-sammlungen.de/de/nachrichten/aktuelles/unmittelbarer-umgang-mit-menschlichen-ueberresten-museen-und-universitaessammlungen (2.11.2022). |
↑6 | Interview von Reimann mit Mboro am 26.01.2020; Beispiel zuletzt gehört bei einer Gesprächsrunde in Anschluss an die Performance „Gutta“ von Ludomir Franczak am 2.11.2022 im Tatwerk Berlin; Zu Mboros Suche nach dem Kopf Mangi Melis siehe auch folgende Zeitungsartikel online: https://www.spiegel.de/geschichte/deutscher-kolonialismus-in-afrika-wo-steckt-der-kopf-des-mangi-meli-a-1e5ab093-222a-4453-93d3-597e8aea417c ; https://taz.de/!5790948/ |
↑7 | Heeb, B und Kabwete, C.M. (Hg.) (2022): Human Remains from the Former German Colony of East Africa. Wien, Köln: Böhlau Verlag. |
↑8 | Vgl. Flinn Works e. V. (2022): Mobile Recherche-Ausstellung zur Kolonialgeschichte am Kilimanjaro und Meru, https://www.flinnworks.de/de/projekt/marejesho-asili-mila-utamaduni-wetu [2.11.2022] |
↑9 | Hitorangi, S. Und Huki, E (2022): Repat. a Take Team. In: Decolonize Berlin (2022): We want them back. S. 167 – 168. Online: https://decolonize-berlin.de/wp-content/uploads/2022/02/We-Want-Them-Back_english-web.pdf (25.10.2022). https://www.bbc.com/news/world-africa-45916150 |
↑10 | Bundesregierung (2021): Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Online: https://dserver.bundestag.de/btd/19/119/1911949.pdf |
↑11 | https://dserver.bundestag.de/btd/19/119/1911949.pdf |
↑12 | https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800 (25.10.2022). |
↑13 | https://integrationsbeauftragte.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/AGSA/Integrationsbeauftragte/210911_Finaler_Koalitionsvertrag.pdf (25.10.2022). |
↑14 | Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2022): Erforschung und Aufarbeitung. Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Online: https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten-1851438 (25.10.2022). |
↑15 | Siehe auch Stürmer, F. und Schramm, J. (2019): Human Remains in deutschen Sammlungen. Rechtspflichten zur Rückgabe. Humboldt Law Clinic Working Paper Nr. 18. Online: http://hlcmr.de/wp-content/uploads/2019/03/WP_2018_HLCMR_Human-Remains-in-deutschen-Sammlungen-%E2%80%93-Rechtspflicht-zur-R%C3%BCckgabe.pdf (2.11.2022); Wesche, A. (2013): Im Zweifelsfall als Einzelfall – Überblick zu vorhandenen Empfehlungen für den Umgang mit menschlichen Überresten vor dem Hintergrund zunehmend gestellter Rückgabeforderungen. In: Stoecker, H., Schnalke, T. und Winkelmann, A. (Hg.): Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 339–352. |
↑16 | Deutscher Museumsbund e.V. (2021): S. 164. |
↑17 | Ebd: S. 23. |
↑18 | Ebd. |
↑19 | Deutscher Museumsbund, (Fn1), S. 164. |
↑20 | BVerfGE 30, 173 |
↑21 | BayVGH NJW 2003, 1620. |
↑22 | BVerfGE 30, 173 (196). |
↑23 | Vgl. Förster, L. und Fründt, S. (Hg.) (2017): Human Remains in Museums and Collections. A Critical Engagement with the ’Recommendations forthe Care of Humans Remains in Museums and Collections’of the German Museums Association, Historisches Forum, 21. |
↑24 | Vgl. u. a. Reimann, I. (2022): Wissenschaftliches Gutachten zum Bestand menschlicher Überreste/ Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin. In: Decolonize Berlin (2022): We want them back. S. 16 – 165, hier S.47f. Online:https://decolonize-berlin.de/wp-content/uploads/2022/02/We-Want-Them-Back_deutsch-web.pdf (2.11.2022). |
↑25 | Unveröffentlichter Bericht. |
↑26 | Ausführliche Darlegung im internen Bericht. |
↑27 | Vgl. Anna-Maria Begerock/Markus Kipp/Ekkehardt Kumbier (2021): Nur Schädel in der Vitrine? Provenienzforschung in der außereuropäischen anthropologischen Sammlung der Universitätsmedizin Rostock, In: Geschichte der Medizin 4 (2021), 31. Jahrgang, 146-149. |
↑28 | Vierhaus, Beweisrecht im Verwaltungsprozess, 2011. |
↑29 | Ebd: S. 177-178. |
↑30, ↑33 | Vgl. interner Provenienzforschungsbericht Reimann, Kirsch, Mboros für die Staatliche Kunstsammlung Dresden (2021). |
↑31 | Vgl. Berlin Postkolonial e.V. (2014): „Kriegsbeute“ – „Schädel“ – „Skelette“ – „Anthropologica“ aus Kamerun, Togo, Tansania,Ruanda, Namibia, Südafrika. S. 9. Online: https://www.africavenir.org/fileadmin/downloads/press/Dossier_Kriegsbeute_Anthropologica_SPK.pdf (29.10.2022). |
↑32 | Virchow, R (1895): Sitzung vom 19. Januar 1895. Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 27, S. 38-88, hier S. 64. |
↑34 | Schmidt, R. (1895-96): Deutschlands Kolonien. Ostafrika. Berlin: Verl. d. Vereins d. Bücherfreunde. Online: https://brema.suub.uni-bremen.de/dsdk/content/pageview/1959174?query=mpwapwa%20schutztruppe (25.09.2021), hier: 175. |
↑35 | Luschan an Claus, Brief vom 19.10.1907; SMB-ZA, I_MV_0739, Blatt 250. |
↑36 | Claus, Heinrich Brief vom 01.07.1908 (Kilimatinde, „Deutsch-Ostafrika“) an Felix von Luschan; SMB-ZA, I_MV_0744, Blatt 188. |
↑37 | Eva Künkler (2022): Koloniale Gewalt und der Raub kultureller Objekte und menschlicher Überreste. Magdeburg: Working Paper Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, S. 108f. Online: https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/pnet_derivate_00005160/DZK_Koloniale%20Kontexte%202-22%20FINAL.pdf (2.11.2022). |
↑38 | Vgl. Reimann, I. (2022): S. 148f. |