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07 December 2022

Vom individuellen Unrechtskontext zum systematischen Umgang mit kolonialem Unrecht

Provenienzforschung zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten und die Rolle des Rechts

Welche Rolle spielen Provenienzforschung und das Recht bei Repatriierungsforderungen? Was ändert sich durch die Neubewertung des Lagerns menschlicher Überreste als „Eigentum“ und „Kulturgut“ staatlicher und privater Einrichtungen in Deutschland? Bislang wurden die Aufarbeitung, Herausgabe von Informationen und Repatriierungen lediglich freiwillig aufgrund moralischer Gründe erwogen, aber nicht aufgrund eines rechtlichen Anspruchs. Auf Grund der rechtlichen Unklarheit im heutigen Umgang mit kolonialem Unrecht knüpft der Deutsche Museumsbund diese Aspekte in seinem Leitfaden an einen nachweisbaren und individuellen Unrechtskontext des Erwerbs.1) Letzterer ist aber, bedingt durch die koloniale Aneignungspraxis selbst, nicht in jedem Fall möglich nachzuweisen, wie in diesem Artikel an einem Provenienzforschungs-Beispiel skizziert wird.

Unter Repatriierung wird hier die Rückgabe menschlicher Überreste an die Herkunftsländer und/oder direkten biologischen Angehörigen und/oder Angehörige der sich zugehörig sehenden indigenen Gesellschaften verstanden.2) Eine rechtliche Verankerung der Repatriierung steht noch aus. In diesem Artikel möchten wir dafür plädieren, dass in diesem Falle nicht die individuelle Nachweisbarkeit des rechtswidrigen Erwerbs als Kriterium verankert wird (inklusive des unter damaligen Umständen/Gesetzen rechtmäßigen Erwerbs). Vielmehr muss es darum gehen, koloniales Unrecht systematisch zu erfassen und proaktiv auf Herkunftsgesellschaften zuzugehen. Gab es keine informierte Zustimmung in der Vergangenheit, muss den Angehörigen die Autorität und Kontrolle im heutigen Umgang mit ihren Vorfahren und diese betreffende Informationen zugestanden werden. Erst so kann Kolonialgeschichte mit ehemals Kolonisierten als aktive Ermittlungsbeteiligte aufgearbeitet werden, um koloniale Kontinuitäten zu beenden und Repatriierungen zu ermöglichen.

Erkämpfte Aufarbeitung

Angehörige und Intellektuelle aus Herkunftsgesellschaften fordern seit Jahrzehnten die Rückgabe der Körperteile ihrer Ahnen aus deutschen musealen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die dort im 19. und 20. Jahrhundert u. a. für rassenanthropologische Forschungen angelegt wurden. Das Recht auf Repatriierung sowie die gemeinsam mit indigenen Völkern zu entwickelnden Verfahren, um den Zugang zu deren Ritualgegenständen und sterblichen Überresten zu ermöglichen, sind in Art. 12 Abs. 2 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker explizit genannt.3) Art. 12 Abs. 2 normiert hierbei einen Anspruch auf Repatriierung von Ahnen, der als solcher nunmehr auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Hiernach haben Verfahrensnormen, die diesen Anspruch sichern sollen, haben fair transparent und wirksam ausgestaltet zu sein.

Trotzdem haben es Verantwortungsträger*innen staatlicher Institutionen in Deutschland lange als prinzipiell zulässig erachtet, Informationen über menschliche Überreste in ihren Sammlungen nicht an Angehörige von Herkunftsgesellschaften herauszugeben und Repatriierungsforderungen abzuweisen.4) Die Herausgabe von Informationen und Repatriierungen kann zwar noch immer rechtlich nicht erzwungen werden. Der gesellschaftliche Diskurswandel u. a. durch die zunehmend erkämpfte Aufarbeitung von Kolonialgeschichte macht das Zurückhalten der Informationen und der Körperteile aber zunehmend unhaltbar. Das folgende Beispiel zeigt, welche Auswirkungen mangelndes Wissen um die Herkunft der Sammlungen, kombiniert mit einer ungeklärten Rechtslage auf die Suchenden, haben kann:

Der tansanische Staatsbürger Mnyaka Surrur Mboro und Mitbegründer des Vereins Berlin Postkolonial sucht seit vier Jahrzehnten nach dem Kopf des Chaga-Fürsten Mangi Melis, den die Deutschen nach dessen Hinrichtung im Jahr 1900 nach Deutschland gebracht haben.5) Vor ein paar Jahren hatte es ihn hart getroffen, dass sein Auskunftsgesuch bei der Staatlichen Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit menschlichen Überresten aus dem heutigen Tansania mit der folgenden Begründung abgewiesen wurde: Es könne noch keine Auskunft über den Bestand gegeben werden, solange die Ergebnisse der Provenienzforschung nicht vorlägen, um zu prüfen, ob die Gebeine illegal in Deutschland seien.6)

Dieser Argumentation folgend können Provenienzforschung und Recht die eigene Suche von möglichen Angehörigen und Mitgliedern der Herkunftsgesellschaften und damit auch deren Ausübung religiöser oder kultureller Pflichten eher behindern als unterstützen. Darüber hinaus wird ihr Wissen und ihre Beteiligung als integraler, notwendiger Bestandteil des Umgangs mit den Sammlungen und der Provenienzforschung selbst negiert, obwohl Rückgabeforderungen und Auskunftsgesuche die zunehmende Etablierung von Provenienzforschung erst angestoßen haben. Zugewiesen wird den Angehörigen im schlimmsten Fall die Rolle der Bittsteller*innen statt der Partner*innen in der Aufarbeitung. Ende 2022 erscheint die obige Antwort kaum mehr denkbar und dennoch ist es u. a. Mboro selbst, der die Informationen der seit 2017 begonnenen und in diesem Sommer veröffentlichten Provenienzforschung7) bis in die Kilimanjaro-Region trägt.8)

Auch die Notwendigkeit, sich als deutsche Staatsbürgerin für eine staatliche Verantwortungsübernahme zur Erleichterung der Repatriierungsarbeit einzusetzen, wurde durch Nachfahren an Isabelle Reimann herangetragen:

Santi Hitorangi und Evelyn Huki arbeiten seit mindestens 2019 für die Repatriierung und angemessene Bestattung ihrer aus Rapa Nui gestohlenen Vorfahren, die momentan noch immer im Grassi Museum in Leipzig sind. Als Reaktion auf das Gutachten zu menschlichen Gebeinen in Berlin fordern sie einen parlamentarischen Beschluss über ein geregeltes und vereinfachtes Verfahren, das es ermöglicht, dass Nachfahren, Sammlungsverantwortliche und Provenienzforscher*innen besser zusammenarbeiten.9)

Politischer Rückführungswille – ohne rechtliche Absicherung

Zu den rechtlichen Fragen heißt es in einer Antwort der Bundesregierung vom 25.7.2019 auf eine Kleine Anfrage:

“Die rechtlichen Voraussetzungen für eine mögliche Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, einschließlich menschlicher Überreste, sind in Deutschland abhängig vom jeweils für die Einrichtungen geltenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Danach sind Rückgaben grundsätzlich möglich.“ 10) (S. 9) und „Die Bundesregierung hält die Schaffung gesetzlicher Maßnahmen dazu derzeit nicht für notwendig.”11) (S. 10).

Die Unterstützung von Provenienzforschung im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2021 unter dem Abschnitt Kultur- und Medienpolitik wird begründet „[u]m die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte voranzutreiben“ (Koalitionsvertrag 2021, S. 125),12) ähnlich auch Landeskoalitionsvertrag Sachsen)13). Keine Erwähnung findet, dass mit der Aufarbeitung auch eine Anerkennung rechtlicher Verantwortlichkeit für die Entrechtung, Enteignung, Vertreibung, Verfolgung und Ermordung von Opfern durch das deutsche Kolonial-Regime erfolgen müsste.

Im Jahr 2022 sind die politischen Aussagen bezüglich Repatriierungen klar formuliert, so beispielsweise auf der Website der Staatsministerin für Kultur und Medien:

„Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände vertreten gemeinsam die Überzeugung, dass menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten nicht in unsere Museen und Sammlungen gehören, sondern an die Herkunftsgesellschaften zurückzuführen sind.“14)

Die Übernahme rechtlicher Verantwortung, an deren Anfang die Repatriierung und die umfassende Kostenübernahme steht, bleibt jedoch bis zuletzt aus. Gleiches gilt für die Verpflichtung zum Erlass solcher Maßnahmen, die einen rechtlichen Anspruch für die Rückgabe absichern und die das Vorgehen nach politischer Opportunität und unilateralem Gutdünken ablösen.15) Bislang haben Angehörige keine formalisierten Beteiligungsmöglichkeiten im Umgang mit den Gebeinen ihrer Vorfahren sowie an den Methoden, Bedingungen und der Veröffentlichung der Provenienzforschung. Beteiligungs- und Autorisierungsmöglichkeiten fehlen auch für den Umgang mit Informationen, historischen Veröffentlichungen, Messdaten und Abbildern – einschließlich deren Verbreitung im Netz vor dem Hintergrund der aktuellen Durchführung zahlreicher Digitalisierungsprojekte.

Dreh- und Angelpunkt: Nachweisbarkeit des individuellen Unrechtskontextes

Als rechtliche Grundlage für Repatriierungsansprüche verweisen die Empfehlung des Deutschen Museumsbundes (DMB) zum Umgang mit menschlichen Überresten 2013 und 2021 derzeit nur auf die allgemeinen Herausgabeansprüche des Privatrechts,16) da es eine spezielle gesetzliche Regelung für Sachverhalte dieser Art nicht gibt. Danach wird eine Rückgabe an einen nachweisbaren Unrechtskontext des Erwerbs geknüpft. In diesem Fall müsse „den eventuell eruierbaren Nachfahr*innen der verstorbenen Person bzw. potenziell Verfügungsberechtigten die Rückgabe der menschlichen Überreste proaktiv“ angeboten werden.17) Dieser individuelle Unrechtskontext resultiere aus der vollständig aufgeklärten Provenienz in fundierten Einzelfallprüfungen und wird zur Bedingung für die proaktive Benachrichtigung der Angehörigen, sowie für das Einleiten weiterer Schritte gemacht.

Begründend heißt es in den Empfehlungen des DMB:

„Auch wenn Kolonialismus und Kolonisierung selbst als historisches Unrecht verstanden werden müssen, heißt dies nicht, dass jegliche Transaktion von Objekten und/oder menschlichen Überresten, die in einem kolonialen Kontext stattfand, als unrechtmäßig anzusehen ist.“18)

Das Verständnis des „historischen Unrechts (…) in einem kolonialen Kontext“ ist danach lediglich eine ethisch-moralische Kategorie, solange der Unrechtskontext nicht auch juristisch erfasst und nachgewiesen wird. Für den DMB stellt sich dementsprechend die Rückgabefrage als rein zivilrechtliche Frage nach den Verfügungsberechtigen und dem Erwerb.19) Zwar wird eingestanden, dass „eine Rückgabe auch ohne Feststellung eines Unrechtskontextes erwogen werden [kann], etwa um anzuerkennen, dass die menschlichen Überreste oder die sie beinhaltenden Objekte für diejenigen, die die Rückgabe wünschen, von besonderer Bedeutung sind.“ (DMB, S. 23) Allerdings verbleibt die Entscheidungskompetenz damit weiterhin bei den lagernden Einrichtungen.

Bemerkenswert ist, dass der DMB die zivilrechtliche Rückgabefrage zudem behandelt, ohne auf die postmortale Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie nach Art 1 Abs. 1 GG zurückzugreifen.20) Dem kolonialen Verständnis ist geschuldet, dass das Recht die menschlichen Überreste als „Kulturgüter“, bis dato als bewegliche, eigentumsfähige Sachen behandelt, die verschenkt oder verkauft werden können, mithin also verobjektiviert werden. Genau dies soll nach dem Menschenwürdeverständnis von Art 1 Abs. 1 GG e