Wann kommt der Abschiebungsstopp?
Unzureichender Schutz vor Abschiebungen in von der COVID-19-Pandemie betroffene Zielstaaten
Die sich global weiter ausbreitende COVID-19-Pandemie stellt alle vor bis dato ungekannte Herausforderungen. Insbesondere die Situation Geflüchteter erweist sich dabei hierzulande wie anderswo als besonders prekär. Verschärft wird die Situation in Deutschland nicht zuletzt dadurch, dass der Zugang zu Rechtsberatung aktuell erheblich erschwert ist. Viele Beratungsangebote sind nur noch eingeschränkt (etwa telefonisch oder online, wie hier und hier) oder gar nicht mehr verfügbar.
Gleichwohl werden vollziehbar Ausreisepflichtige nach wie vor abgeschoben und zwar auch in Herkunftsstaaten, die ebenfalls von der Pandemie betroffen sind. Lediglich Überstellungen innerhalb der EU auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung finden aktuell nicht statt. Dieser Abschiebungsstopp betrifft aber nur Asylbewerber*innen, für deren Asylverfahren nach der Dublin-III-Verordnung ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist. Dagegen unternehmen die Behörden, soweit die Zielstaaten aufnahmebereit sind, erhebliche Anstrengungen, um Menschen außerhalb des Dublin-III-Regimes abzuschieben. Das illustriert das Beispiel einer Frau aus Togo: die Behörden charterten, um die Abschiebung der Frau angesichts des eingeschränkten Flugverkehrs gleichwohl durchführen zu können, eigens ein Flugzeug, das nur mit einer Sondergenehmigung in Togo landen durfte, und verschafften ihr für die Dauer der dann in Togo anstehenden Quarantäne ein Hotelzimmer.
Während die Neuinfektionen in Deutschland seit einiger Zeit (glücklicherweise) auf konstant niedrigem Niveau bleiben, breitet sich die Pandemie etwa auf dem afrikanischen Kontinent exponentiell aus und verstärkt bereits bestehende Probleme (vgl. auch hier). Ebenso dramatisch erscheint die Lage in ohnehin fragilen Staaten des Nahen Ostens. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die im Vergleich zu Deutschland ungleich gravierendere pandemische Situation in den Abschiebungszielstaaten ein nationales Abschiebungsverbot i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG begründen kann oder – wenigstens – einen Abschiebungsstopp i.S.v. § 60a Abs. 1 AufenthG erfordert.
Rechtliche Ausgangssituation: Abschiebungsverbot und Abschiebungsstopp
Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von einer Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für die abzuschiebende Person eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von einer erheblichen konkreten Gefahr aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen auszugehen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dem Wortlaut nach ist damit der Fall nicht erfasst, dass einer bisher nicht schwerwiegend oder lebensbedrohlich erkrankten Person erst im Zielstaat eine Ansteckung (mit COVID-19) droht. Ein Rückgriff auf den allgemeineren § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bleibt trotzdem möglich (so das VG Würzburg hier, hier und hier). Denn die Beschränkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG soll nach dem Willen des Gesetzgebers insbesondere verhindern, dass schwer diagnostizierbare Krankheiten kurzfristig als Abschiebungshindernisse vorgetragen werden. Diese Gefahr droht jedoch nicht, wenn das Abschiebungsverbot auf eine Pandemie im Zielstaat gestützt wird. Zudem kann es für die Beurteilung der Gefahrenlage keinen Unterschied bedeuten, ob sich die Lebensgefahr aus einer im Zielstaat grassierenden Pandemie oder aus anderen Gründen ergibt. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG muss der*die Betroffene mithin darlegen, dass im Zielstaat (aufgrund der COVID-19-Pandemie) eine auf konkrete Tatsachen gestützte, beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine individuelle Gefahr besteht. Dieses Abschiebungsverbot geht regelmäßig mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr einher, § 25 Abs. 3, § 26 Abs. 1 S. 4 AufenthG.
Die Anforderungen an das Vorliegen einer individuellen Gefährdung nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG sind jedoch hoch: Es reichen insbesondere solche Gefahren nicht aus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist (§ 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG). Solche allgemeinen Gefahren sollen im Rahmen eines sog. Abschiebungsstopps (§ 60a Abs. 1 AufenthG) berücksichtigt werden, den die oberste Landesbehörde anordnen kann. Hierbei handelt es sich um ein politisches Instrument der Landesbehörden, um bestimmten Personengruppen in besonderen Lagen humanitären Schutz bieten zu können, ohne dass es auf eine individuelle Gefährdung der Betroffenen ankommt. Vielmehr geht es darum, dass jeder*m Angehörigen der Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe gleichermaßen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Gefahr droht (vgl. BVerwG). Die Entscheidung über einen Abschiebungsstopp ist vor allem politischer Natur und gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. zum Ganzen 60a.1 VwV-AufenthG). Wird ein Abschiebungsstopp verhängt, erhalten die Betroffenen jedoch anders als bei einem Abschiebungsverbot keine Aufenthaltserlaubnis, sondern allenfalls eine Duldung. Die Duldung legalisiert den Aufenthalt der Betroffenen nicht und bringt darüber hinaus deutlich größere Einschränkungen für die persönliche Lebensführung mit sich.
Hohe rechtliche Hürden für Abschiebungsverbot wegen drohender Ansteckung mit COVID-19 im Zielstaat
Um ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründen zu können, müsste sich die Situation im Zielstaat zu einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben verdichtet haben. Bei der COVID-19-Pandemie handelt es sich um eine Gefahr, der die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist. Somit greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG (vgl. etwa VG Würzburg). Es läge daher an den obersten Landesbehörden, einen allgemeinen Abschiebungsstopp anzuordnen.
Ein Abschiebungsverbot ist aber gleichwohl anzunehmen, wenn für die schutzsuchende Person ansonsten eine Schutzlücke entstünde. Niemand darf „sehenden Auges in den sicheren Tod geschickt“ werden. Die Gefahr muss sich für die konkrete Person zu einer Extremgefahr verdichtet haben, die sich alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat realisiert (BVerwG; zuletzt etwa VG Würzburg).
Übertragen auf die COVID-19-Pandemie müssen also zwei Voraussetzungen erfüllt sein: zum einen muss alsbald nach der Abschiebung eine Infektion mit COVID-19 drohen. Von vornherein dürfte damit ein Abschiebungsverbot nur hinsichtlich Zielstaaten mit nachweisbar sehr hoher Infektionstätigkeit in Betracht kommen. Zum anderen muss die Ansteckung mit COVID-19 den sicheren Tod oder schwerste Gesundheitsschädigungen bedeuten. Dabei tragen die Betroffenen selbst eine hohe Darlegungslast (vgl. etwa OVG Rheinland-Pfalz). Insbesondere reicht auch etwa ein einfaches ärztliches Attest nicht aus. Vielmehr ist nach § 60a Abs. 2c S. 2 und S. 3 AufenthG, der nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG gilt, eine qualifizierte (fach)ärztliche Bescheinigung vorzulegen (vgl. etwa BVerwG sowie OVG Berlin-Brandenburg). Angesichts der zahlreichen milden Verläufe bei COVID-19-Erkrankungen dürfte der Nachweis nur denjenigen Personen gelingen, die in die Gruppe der Risikopatient*innen einzuordnen sind, etwa weil einschlägige Vorerkrankungen (bei denen es sich nicht um Erkrankungen i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG handeln muss) bestehen (in diese Richtung VG Würzburg für Italien und Nigeria). Für die Frage, ob eine Ansteckung mit COVID-19 den sicheren Tod oder schwerste Gesundheitsschädigungen mit sich bringt, ist auch die medizinische Versorgung im Zielstaat von Bedeutung. Hat die Person im Zielstaat tatsächlich keinen Zugang zu intensivmedizinischer Versorgung oder Beatmung (wobei die räumliche Erreichbarkeit sowie etwa die wirtschaftliche Situation des Betroffenen zu beachten sind, vgl. EGMR hier und hier), steigt für sie das individuelle Risiko, an einer schwer verlaufenden COVID-19-Erkrankung auch zu versterben.
Schwieriger Nachweis angesichts unsicherer Tatsachenlage
Angesichts der extrem hohen Anforderungen, die an das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG gestellt werden, dürfte die COVID-19-Pandemie in den wenigsten Fällen zu einem Schutz über § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen. Doch selbst wenn die Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht erfüllt sind, wird deren Nachweis dadurch erschwert, dass die Faktenlage in den Zielstaaten häufig unklar ist. Die offiziellen Ansteckungszahlen spiegeln die tatsächliche Infektionstätigkeit nur unzureichend wider (vgl. etwa für afrikanische Staaten Kavanagh/Erondu et.al.; für den Nahen Osten und Nordafrika Karamouzian/Madani). Offizielle Statistiken sind von Meldetätigkeit und Testkapazität abhängig und hinken der Realität angesichts der Inkubationszeit zwangsläufig hinterher. Daher kann aus einer niedrigen Zahl Infizierter in der Statistik nicht zwingend auf eine geringe Ansteckungsgefahr in dem betreffenden Staat geschlossen werden. Zu beachten ist zudem, dass – wie bereits ausgeführt – der Zugang zu rechtlicher Beratung aktuell erheblich erschwert ist. Betroffene, die die rechtlichen Anforderungen nicht kennen, dürften umso größere Schwierigkeiten haben, das Vorliegen der Voraussetzungen in § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinreichend fundiert geltend zu machen. Nicht zuletzt ist in der Wissenschaft nicht abschließend geklärt, wer im Einzelfall als Risikopatient*in anzusehen ist (vgl. hier).
Die COVID-19-Pandemie zeigt wieder einmal, wie hoch die Hürden des § 60 Abs. 7 AufenthG hängen. Der Schutz von Leben und Gesundheit darf nicht aus politischem Kalkül (denn das scheint nach der Gesetzesbegründung der einzige Grund für die allzu restriktive Fassung des § 60 Abs. 7 AufenthG zu sein) erst da ansetzen, wo einer Person alsbald der sichere Tod oder schwerste Gesundheitsschädigungen drohen. Nicht erst, aber spätestens jetzt ist eine Neukonzeption des § 60 Abs. 7 AufenthG angezeigt.
Wann kommt der Abschiebungsstopp?
Ungeachtet aller Kritik am bestehenden Regelungssystem – die Behörden müssen jetzt dringend die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um Menschen vor COVID-19-Infektionen in Abschiebungszielstaaten zu schützen. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die COVID-19-Pandemie in den Zielstaaten für die Betroffenen keine Gefahr darstellt. Bekannt ist, dass in fast allen Staaten der Erde Infektionen zu verzeichnen sind. Dabei ist die Dunkelziffer hoch (auch hier), weshalb die offiziellen Statistiken in Bezug auf das tatsächliche Infektionsrisiko nur bedingt aussagekräftig sind. Gleichzeitig wird aber auch hierzulande immer wieder betont, dass eine Ansteckung eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit darstellen kann. Unklar ist zudem, welche Langzeitfolgen mit einer COVID-19-Infektion einhergehen. Dabei sind die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie noch gar nicht berücksichtigt – gerade in Staaten, in denen Wirtschaft und Infrastruktur ohnehin fragil sind, kann die Pandemie verheerende Schäden anrichten.
Angesichts dieser Kombination aus unklarer Faktenlage und potentiell hoher Gesundheitsgefahr müssen Abschiebungen daher aktuell ausgesetzt werden. Es ist an der Zeit, dass die obersten Landesbehörden endlich einen Abschiebungsstopp bzgl. all jener Staaten verhängen, in denen die Pandemie grassiert. Ansonsten müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, es mit dem Schutz vor der Ansteckung mit COVID-19 nur für deutsche Staatsangehörige ernst zu meinen.
Die Verfasserin dankt Anna Börger für zahlreiche wertvolle Korrekturen und Anmerkungen.
Ein ziemlich unausgegorener Beitrag.
Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass regelmäßig weder die Voraussetzungen des § 60 VII 1 AufenthG noch von § 60 VII 6 i.V.m. § 60a I 1 AufenthG vorliegen. Dennoch “müssen Abschiebungen daher aktuell ausgesetzt werden”. Das mag man politisch sicherlich fordern können. Das Ergebnis konterkariert aber die vorherigen rechtlichen Ausführungen.
Sollten die Ausführungen ein rechtliches oder ein politisches Statement werden? In rechtlicher Hinsicht nur der Vollständigkeit halber: Da § 60a I Satz 1 AufenthG eine Ermessensvorschrift ist (“kann”), bedürfte es imho der Darlegung einer Ermessensreduzierung auf Null hin zu einem Aufenthaltsrecht in D als einzige richtige Entscheidung (sonstige Ermessensfehler würden nur zu einer Verpflichtung zur ermessensfehlerfreien Neuentscheidung führen). Diesbezüglich habe ich für mich jedoch keine Ausführungen der Verfasserin entdeckt. In politischer Hinsicht mag man die Ausführungen der Verfasserin vertreten. Es hätte aber der Überzeugungskraft der Ausführungen gedient, wenn diese auch sogleich als politisches statement gekennzeichnet gewesen wären.
Ich würde es für gut vertretbar halten, eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen. Die obersten Landesbehörden sind bei der Entscheidung, einen Abschiebestopp nach § 60a Abs.1 AufenthG anzuordnen, an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Die Anordnung könnte sich durchaus als die einzig verhältnismäßige Handlungsmöglichkeit erweisen (abhängig natürlich von der Situation im Zielland).
Immerhin geht der Vorgang der Abschiebung aktuell mit erheblich gesteigerten Risiken einher, nicht nur für die betroffene Person selbst, sondern auch für Begleitpersonen und Personal hier wie dort. Schutzmaßnahmen können die Gefahren lediglich verringern, aber nicht beseitigen. Über die tatsächliche Gefahr im Zielland haben wir – wie die Verfasserin zeigt – nur begrenzte Informationen. Diese Unsicherheit muss in die Bewertung der Verhältnismäßigkeit mit einbezogen werden.
Die obersten Landesbehörden haben also unzweifelhaft die rechtliche Möglichkeit, entsprechende Aussetzungen anzuordnen. Dies stellt – wie die Verfasserin zeigt – aktuell auch den einzigen wirksamen Weg dar, die Betroffenen (aber auch Dritte) vor der Infektionsgefahr zu schützen. Für den vorübergehenden Verbleib der betroffenen ausreisepflichtigen Personen für die Zeitspanne der weiteren Gefährdung durch die Pandemie lässt sich demgegenüber wohl kaum ein hinreichender Gegengrund anführen. Welche Gefahr soll denn von dem (kurzfristigen) Verbleib von mutmaßlich wenigen Dutzend Personen ausgehen? Der – doch eher abstrakten – “Gefährdung” durch diese Personen steht jedenfalls in der aktuellen Lage die deutlich konkretere Ansteckungsgefahr entgegen.
Insofern halte ich durchaus auch die rechtliche Forderung nach einem Abschiebestopp für begründet, auch wenn die Verfasserin diese hier erkennbar nicht erheben wollte.
Es gilt hier zu unterscheiden: zum einen dürften die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG regelmäßig im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie in den Zielstaaten nicht erfüllt bzw. selbst bei ihrem Vorliegen nur schwer beweisbar sein. Daran schließt sich die (rechtspolitische) Forderung nach einer Neukonzeption des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG an. Zum anderen äußere ich die Forderung nach einem Abschiebungsstopp. In meinen Augen liegen hinreichend Anhaltspunkte vor, die eine Entscheidung der Landesbehörden für einen Abschiebungsstopp tragen. Damit hätten die Landesbehörden m.E. die rechtliche Möglichkeit, einen Abschiebungsstopp zu verhängen. Der letzte Absatz des Beitrags ist mithin als Aufforderung an die Landesbehörden zu verstehen, ihr (politisches) Ermessen auch in diese Richtung auszuüben und von der Möglichkeit des Abschiebungsstopps Gebrauch zu machen. Ob es sich um die einzige rechtliche Möglichkeit handelt, steht auf einem anderen Blatt.