We, the people: Aufregende Dinge passieren in Kalifornien
Bisher dachten wir, dass wir hier in Deutschland das schlechteste Föderalismussystem der Welt haben. Aber lo and behold: die Amerikaner, eben noch als leuchtendes Vorbild funktionierender Bundesstaatlichkeit gepriesen, zeigen’s uns mal wieder.
Man stelle sich einmal vor, die Regierung von – sagen wir mal – Bayern wäre gezwungen, zehntausende von Kriminellen kraft Gerichtsbeschlusses aus ihren unbeschreiblich überfüllten Gefängnissen zu entlassen. Mal eben allen Beamten ihre Bezüge um ein paar Prozent zu kürzen. Ihre Rechnungen mit Papieren zu bezahlen, die albernerweise “IOU” (= I owe you) betitelt sind, weil einfach kein Pfennig Geld mehr da ist.
Kalifornien, regiert vom Zigarrenlutscher und “Girlieman”-Beschimpfer Arnie Schwarzenegger, ist in einem Zustand, der von dem eines failed state nicht mehr gar so furchtbar weit entfernt ist. Aber jetzt kommt’s:
Eine Bürgerbewegung namens Repair California gewinnt immer mehr an Fahrt, die sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt hat als eine vollständige Neugründung des Staates Kalifornien: Eine Versammlung der Bürger Kaliforniens soll eine neue Verfassung erarbeiten – an den bestehenden politischen Entscheidungsinstitutionen vorbei, direkt durch das Volk ein. Dies soll durch einen der für Kalifornien typischen Volksentscheide geschehen, genauer gesagt, zwei davon: Der eine eröffnet in der aktuellen Verfassung die Möglichkeit, eine Bürgerversammlung einzuberufen, der zweite tut genau dies. (Mehr dazu hier und hier.) Am 25. September soll das Verfahren anlaufen, im November 2010 wird abgestimmt, und 2012 ist die neue Verfassung fertig.
Alle sind dafür. Die größte und bedeutendste Zeitung des Landes (selber so gut wie pleite), die Los Angeles Times, unterstützt das Projekt mit aller Kraft:
The Times thus enthusiastically endorses a state constitutional convention as the best opportunity for California to reclaim its stability and purpose.
Und im New Yorker bekommt Henrik Hertzberg ganz schwitzige Hände:
If California has the courage and imagination to become a true laboratory of democracy, the experiment will be something to see.
Nun muss man aber wissen, dass der maßgebliche Grund für den miesen Zustand, in dem sich die kalifornische Verfassung befindet, das kalifornische Volk selber ist. Kalifornien ist, was direkte Demokratie betrifft, ein Paradestaat und ganz vorne dran. Mit Volksentscheiden kann es ziemlich alles tun, was ihm gerade einfällt. Den amtierenden Gouverneur feuern und Arnie wählen, beispielsweise. Oder Steuererhöhungen faktisch verbieten. Oder staatliche Ausgabenprogramme erzwingen. Das passt nicht zusammen, klar. Aber der Souverän sagt kühl: Wir wollen trotzdem alles beides, keine Steuern und hohe Staatsausgaben, car tel est notre plaisir.
Ich bin natürlich auch sehr gespannt, was die Kalifornier zustande bringen. Vielleicht gelingt ihnen ein Modellstück deliberativer Demokratie, von dem wir alle viel lernen können.
Aber ein paar Fragen hätte ich schon. Wie setzt sich die Bürgerversammlung zusammen, beispielsweise? Kalifornien hat eine Einwohnerschaft von 38 Millionen Leuten, und zwar die diverseste, die man sich vorstellen kann. Werden die Delegierten gewählt? Nach Wahlkreisen? Ist das noch zeitgemäß, eine Gruppe von Menschen, die nicht mehr als eine Postleitzahl miteinander gemeinsam haben, zusammenzuspannen und einen Delegierten wählen zu lassen? Werden sich die – sagen wir – 49 Prozent katholischen Latinos und konservativen Reichen von den 51 Prozent protestantischen Schwarzen und liberalen Postmaterialisten majorisieren lassen, oder umgekehrt? Aus welchem Grund sollte die Minderheit den Delegierten als ihren Vertreter akzeptieren? Oder nimmt man Vertreter aller gesellschaftlichen Kräfte und Gruppierungen? Wer sagt dann nein, wenn der Verband der nordkalifornischen Chihuahuazüchter einen eigenen Delegierten fordert? Oder pickt man einfach irgendwelche Leute aus der Bevölkerung, wie beim jury duty (das wäre das Spannenste aller Experimente)?
Und vor der Wahl, wie wird das vonstatten gehen? Werden die Kandidaten nicht gefragt werden von ihren Wählern, was sie von der Homo-Ehe halten, oder von der Abtreibung oder vom Recht auf Waffenbesitz oder was der polarisierenden Fundamentalfragen mehr sind? Werden die Interessengruppen nicht dafür sorgen, dass der ihnen genehme Kandidat den ihnen nicht genehmen Kandidaten, Mom and Pop von nebenan, mit Millionen Dollar an Wahlkampfmitteln aus dem Rennen pustet? Mit anderen Worten: Wird ein solcher Gründungsakt des Volkes nicht binnen Tagen genau das werden, was wir ohnehin schon haben: Politik?
Gut, gut, ich höre ja schon auf. Tapfere Kalifornier, ihr habt meinen Respekt, und ich drücke euch die Daumen.
Nachtrag 27.8.09: Nicht direkt Verfassungsrecht, aber ziemlich lustig: