Was dem Parlament zufällt
Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit zufälliger Entscheidungen beim Wehrdienst
Der Vorschlag, ein Losverfahren darüber entscheiden zu lassen, wer zur Musterung antreten und womöglich zum Wehrdienst verpflichtet werden soll, sorgte in den vergangenen Wochen nicht nur für Unruhe in der Koalition. Der Vorschlag entfachte auch eine öffentliche Debatte darüber, ob Losverfahren zulässig und sinnvoll sind. Vom Los als „Gebot der Vernunft“ bis hin zu Vergleichen mit der Auslosung der zum nahezu sicheren Tod verdammten Tribute in der Erfolgsbuch- und -filmreihe „Tribute von Panem“ hatte die Debatte alles zu bieten. Selbst der Bundespräsident sah sich dazu berufen, durch Zweifel an der Tauglichkeit des Losverfahrens zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren zu nehmen. Die Debatte schadet einem Verfahren, das entgegen seinem Ruf ganz und gar nicht willkürlich ist – und dennoch für die Auswahl künftiger Soldaten unzulässig.
Zufall ist nicht Willkür
Nicht erst im Kontext der Wehrpflicht wird staatliches Handeln, das auf Zufall basiert, als willkürliches staatliches Handeln bezeichnet und Zufall so mit Willkür gleichgesetzt.1) Schon früh gründet die ablehnende Haltung gegenüber dem Zufall dabei auf dem Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit. Zufallsbasierte Verfahren wie das Losverfahren werden beschrieben als Roulette2), Glücksspiel3), jüngst auch als „Tüddelkram“ – oder eben als „Hunger Games“. Dabei sind sie der deutschen Rechtsordnung alles andere als fremd. In zahlreichen Vorschriften des Bürgerlichen und Öffentlichen Rechts sind Losverfahren zur Entscheidungsfindung vorgesehen. Die prominentesten Beispiele des Öffentlichen Rechts sind dabei wohl § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG, wonach bei Stimmengleichheit das Los über den Gewinn eines Wahlkreises im Rahmen der Bundestagswahl entscheidet, sowie Losverfahren bei der Vergabe von Marktplätzen im Rahmen von § 70 Abs. 3 GewO. Dass die Rechtswissenschaft den Zufall gleichwohl oft als Fremdkörper behandelt, muss nicht überraschen: Recht, insbesondere das Öffentliche Recht, dient auch dazu, Vorhersehbarkeit und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Durch Recht wird staatliches Handeln normativ vorhersehbar oder zumindest im Nachhinein nachvollziehbar. Hierin verwirklicht sich ein zentrales Versprechen des Rechtsstaates. Basiert staatliches Handeln auf einer Zufallsentscheidung, ist es weder vorhersehbar noch im Nachhinein nachvollziehbar.
Mit dem Willkürvorwurf wird der Zufall verfassungsrechtlich wohl größtmöglich diskreditiert, schließlich ist es dem Staat schon aufgrund des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG verboten, willkürlich zu handeln (BVerfGE 86, 148 [251]). Den Zufall als willkürlich zu bezeichnen, muss – in verfassungsrechtliche Kategorien übersetzt – als Unvereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip verstanden werden. Aber wird es dem Zufall gerecht, ihn als willkürlich zu beschreiben? Das verfassungsrechtliche Willkürverbot verbietet es dem Staat, sein Handeln auf sachfremde Erwägungen zu stützen (stRspr. seit BVerfGE 4, 1 [7]). Mit dem verfassungsrechtlichen Willkürbegriff wird also zunächst nicht solches staatliche Handeln beschrieben, das sich an gar keinen Kriterien orientiert, sondern solches, das unzulässigen Kriterien folgt. Das verfassungsrechtliche Willkürverständnis bewegt sich damit eng am ursprünglichen Wortsinn, der einen subjektiven, willensgesteuerten Bestandteil enthält. Ein solcher fehlt beim Zufall. Der Zufall wird gerade nicht von menschlichem Willen beeinflusst. Stattdessen zeichnet er sich dadurch aus, dass Eintritt und Ausbleiben eines Ereignisses von keinen Variablen abhängen und sich nur durch Wahrscheinlichkeiten beschreiben lassen. Zwar kann das Ergebnis einer willkürlichen Entscheidung ebenso ungewiss sein wie der Ausgang eines zufälligen Verfahrens. Die Entscheidungslogiken einer sachfremden und einer zufälligen Entscheidung unterscheiden sich dennoch fundamental (ebenso Di Fabio, Verfassungsrechtliche Stellungnahme, S. 34). Die Beschreibung des Zufalls als „objektive Willkür“4) ist folglich ein Widerspruch in sich.
Dem Zufall darf nicht alles überlassen werden
Wie gesehen sind weder der Zufall noch hierauf beruhende Losverfahren selbst willkürlich. Allerdings kann die Entscheidung, zufallsbasiert zu entscheiden, willkürlich sein. Doch wann und wie darf sich der Staat des Zufalls bedienen? Soll eine hoheitliche Entscheidung zufällig ergehen, kommt in der Regel ein Losverfahren zur Anwendung. Läuft dieses fehler- und manipulationsfrei ab (grundlegend BVerwGE 88, 183 Rn. 26 f. [juris]), besteht für jedes Los die exakt gleiche Erfolgswahrscheinlichkeit. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich tatsächlich um ein klassisches Losverfahren handelt, bei dem anonymisierte Lose aus einer Urne gezogen werden. Auch andere zufallsbasierte Verfahren, bei denen die Erfolgswahrscheinlichkeit aller Optionen gleich ist und deren Ausgang nicht von willentlichen oder sonstigen kausalen Einflüssen bestimmt wird, wie Münzwurf, Würfeln oder Streichholzziehen, bezeichnen Rechtsprechung, die überwiegende Literatur und einige Vorschriften als Losverfahren. Aufgrund der gleichen Erfolgswahrscheinlichkeit aller Optionen sind Losverfahren von sich aus neutral und unparteiisch. Die Erfolgswahrscheinlichkeit auf alle Lose gleich zu verteilen, ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn alle Optionen rechtlich gleichbehandelt werden dürfen. Wenn also aufgrund rechtlicher Kriterien eine der Optionen vorrangig zu berücksichtigen ist, ist es unzulässig, diese rechtlich vorrangige Option durch die gleiche Verteilung der Erfolgschancen zu benachteiligen. Dieser begrenzte Anwendungsbereich für Losverfahren ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG): Kommt ein Losverfahren zur Anwendung, obwohl keine rechtliche Gleichwertigkeit aller Optionen besteht, wird hinsichtlich der Erfolgschancen wesentlich rechtlich Ungleiches gleichbehandelt. Dies ist zumindest rechtfertigungsbedürftig. Kann diese Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden, ist die Anwendung des Losverfahrens unzulässig und verstößt gegen das Willkürverbot.
Was folgt daraus für ein Losverfahren zur Bestimmung Wehrpflichtiger?
Ob sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung Wehrpflichtiger für den Auswahlmechanismus des Losverfahrens entscheiden darf, hängt zunächst davon ab, ob die gleiche Verteilung der Erfolgschancen auf alle am Losverfahren Teilnehmenden gerechtfertigt ist. Zusätzlich zu den allgemeinen Anforderungen folgt das aus dem Erfordernis der Wehrgerechtigkeit nach Art. 12a GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG. Diese sieht vor, dass die Wehrpflichtigen unter gerechter Lastenverteilung zum Dienst herangezogen werden – die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Verpflichteten und der Nichtverpflichteten darf daher nicht zu groß sein (BVerwGE 122, 331 [339 f.]). Sollte trotzdem eine Diskrepanz bestehen, verlangt die Wehrgerechtigkeit, dass ein sachgerechter, nicht willkürlicher Auswahlmechanismus angewendet werden muss.5) Willkürlich und sachfremd ist das Losverfahren als Auswahlmechanismus dann, wenn die gleiche Verteilung der Erfolgschancen nicht gerechtfertigt ist. Das Grundgesetz gibt dem einfachen Gesetzgeber kein vorrangiges Verfahren zur Auswahl der Wehrpflichtigen vor. Auch ergeben sich aus dem Grundgesetz nicht unmittelbar vorrangige Kriterien, aufgrund derer einzelne Personen zwingend zuerst zum Wehrdienst heranzuziehen wären. Gleichwohl lässt sich kaum leugnen, dass durchaus tatsächliche Unterschiede zwischen den in Betracht kommenden Personen bestehen dürften, die sich auf ihre Eignung auswirken. Allerdings erscheint es trotz der verfassungsrechtlich verankerten Funktionsfähigkeit der Bundeswehr äußerst fraglich, ob sich die Eignung so als verfassungsrechtlich vorrangiges Auswahlkriterium begründen lässt.
Manchmal muss das Parlament selbst entscheiden
Selbst wenn die Einführung eines Losverfahrens aus rechtsstaatlicher und gleichheitsrechtlicher Sicht also prinzipiell zulässig wäre, lässt sich an der Kritik über den Vorschlag des Losverfahrens ablesen, dass das eigentliche Problem an einer anderen Stelle liegt. Letztlich geht es um die Frage: Darf der Staat, indem er ein Losverfahren zur Entscheidungsfindung einsetzt, schlicht entscheiden, nicht selbst zu entscheiden? Oder anders gewendet: Muss er selbst Kriterien für eine inhaltliche Entscheidung schaffen oder darf er diese schlicht dem Zufall überlassen? In besonderer Weise stellen sich diese Fragen nun im Rahmen der Wehrpflicht, wo es nicht um irgendeine Entscheidung geht, sondern um eine Vielzahl an tiefgreifenden Grundrechtseingriffen. Nicht umsonst sorgte besonders die Diskrepanz zwischen der (empfundenen) Banalität des Losverfahrens einerseits und der Intensität der Grundrechtseingriffe andererseits für öffentliche Empörung. Grundsätzlich gehört es zum Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, auf eine eigene Entscheidung zu verzichten und diese stattdessen auszulagern. Dies kann durch abstrakte Zuteilungsautomatismen geschehen, oder aber durch Delegation an die Exekutive, etwa durch Verordnungsermächtigung. Das Grundgesetz setzt dem Gesetzgeber dabei aber Grenzen. Insbesondere die Wesentlichkeitsdoktrin verpflichtet ihn dazu, in grundlegenden normativen – insbesondere grundrechtsrelevanten – Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (stRspr., siehe nur BVerfGE 49, 89 [126]). Betrachtet man die Wesentlichkeitsdoktrin streng als Delegationsschranke, lässt sie sich auf das Losverfahren kaum übertragen, schließlich führt die Entscheidung für ein Losverfahren nicht dazu, dass ein anderer Hoheitsträger anstelle des Parlaments eine Entscheidung trifft. Die Wesentlichkeitsdoktrin ist jedoch mehr als das: Sie ist ein Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, dem er sich nicht selbst entledigen darf – wegen der Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 GG noch nicht mal im Wege der Verfassungsänderung. Die Wesentlichkeitsdoktrin und damit die Pflicht des Parlaments, die grundlegenden Fragen in allen normativen Bereichen selbst zu regeln, dient dazu, den besonders hohen Legitimationsanforderungen dieser bedeutsamen Fragen gerecht zu werden.6) Nur das unmittelbar vom Volk gewählte Parlament als das am stärksten demokratisch legitimierte Organ des Bundes kommt in Betracht, wenn grundlegende Fragen verhandelt und entschieden werden müssen.
Dem Zweck der Wesentlichkeitsdoktrin wird es nicht gerecht, wenn der Gesetzgeber durch ein Losverfahren einer eigenen inhaltlichen, begründbaren Entscheidung ausweicht – allerdings nicht, weil der Zufall unzulässige Willkür darstellt, sondern weil die Frage schlicht zu bedeutsam ist, um nicht selbst vom Parlament inhaltlich entschieden und begründet zu werden. Während der Gesetzgeber Entscheidungen in unwesentlichen Fragen einem Losverfahren überlassen kann, darf er die Auswahl der Wehrpflichtigen angesichts ihrer Wesentlichkeit nicht dem Zufall überlassen, sondern muss selbst Kriterien schaffen. Nur so besteht eine Substanz, an der sich das Parlament messen lassen und seiner parlamentarischen Verantwortlichkeit gegenüber dem Wahlvolk7) gerecht werden kann. Ohne ausdrücklich auf die Wesentlichkeitsdoktrin Bezug zu nehmen, lässt auch das Bundesverfassungsgericht an verschiedenen Stellen durchblicken, dass Bedeutung und Tragweite der zu treffenden Entscheidung für die Frage relevant sind, ob sie zufällig getroffen werden darf. So erlaubte es das Bundesverfassungsgericht in seiner dritten Rundfunkentscheidung dem Gesetzgeber nicht, die Verteilung der „knappen Möglichkeiten zur Programmveranstaltung […] dem Zufall oder dem freien Spiel der Kräfte“ (BVerfGE 57, 293 [327]) zu überlassen. Stattdessen müsse „der Gesetzgeber selbst die Voraussetzungen bestimmen, unter denen der Zugang zu eröffnen oder zu versagen ist“ (ebd.). In der zweiten Numerus-Clausus-Entscheidung betonte das Bundesverfassungsgericht für die Vergabe von Studienplätzen die „Nachteile von Auswahlentscheidungen nach dem Los, bei dem Lebenschancen und besondere Berufspositionen vom Zufall abhängen“ (BVerfGE 43, 291 [324]). Die Wehrpflicht führt in mehrfacher Hinsicht zu intensiven Grundrechtseingriffen. Wie die Wehrpflichtigen ausgewählt werden und wer letztlich von ihr betroffen ist, bewegt sich in einem derart grundrechtssensiblen Bereich, dass diese Fragen als wesentlich bezeichnet werden müssen und daher vom Gesetzgeber selbst zu entscheiden sind – und eben nicht durch ein Losverfahren.
Ausblick
Vor dem Bundesverfassungsgericht dürfte ein Losverfahren, das ohne Berücksichtigung zusätzlicher Kriterien zufällig Wehrpflichtige bestimmt, keinen Bestand haben. Dennoch sind Losverfahren nicht per se willkürliche Verfahren. Im Gegenteil: Zufallsbasierte Verfahren können als rationale Verfahren eingesetzt werden. Wenn also von der Debatte über das Losverfahren im Rahmen der Wehrpflicht eines übrigbleiben sollte, dann ein differenziertes Verständnis über Anwendungsbereich und Grenzen staatlicher Losverfahren. Ein solches ist nicht nur notwendig, weil Losverfahren bereits jetzt fester Bestandteil unserer Rechtsordnung sind, sondern auch, weil aktuelle Entwicklungen darauf hindeuten, dass sich ihr Anwendungsfeld künftig eher vergrößern als verkleinern wird.
References
| ↑1 | So bereits Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 99 Rn. 62. Ähnlich Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 241 f. |
|---|---|
| ↑2 | Kahlweit, in: SZ v. 04./05.05.1996, S. 10. |
| ↑3 | Depenheuer, JZ 1993, 171 (172). Ähnlich zur Demokratie als „Gesellschaftsspiel“ Roellecke, in: FS Kriele, 1997, S. 593 ff. |
| ↑4 | So Depenheuer, JZ 1993, 171 (178). Ihm folgend Werdermann/Armbrust, Ergänzendes Rechtsgutachten zum neuen Wehrpflichtgesetz, 2025, S. 5, abrufbar unter https://www.greenpeace.de/publikationen/Gutachten_Wehrpflicht_Losverfahren.pdf, zul. abgerufen am 27.10.2025. |
| ↑5 | Statt vieler Gornig, in: Huber/Voßkuhle (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 8. Aufl. 2024, Art. 12a Rn. 10 f. |
| ↑6 | Siehe nur Kotzur, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2025, Art. 20 Rn. 156 |
| ↑7 | Grundlegend bereits BVerfGE 40, 237 (249 f.). Näher Horn, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland im europäischen Staatenverbund, Bd. II, 2. Aufl. 2022, § 34 Rn. 47 ff. |



