Wenn Städte sterben
Brauchen wir den völkerrechtlichen Straftatbestand des „Urbizids“?
Zerstörte Häuser, zerbombte Straßen, verwüstetes Leben – Bilder aus Aleppo, Bachmut, Mariupol und Gaza prägen unsere Zeit. Hinter den Trümmern offenbart sich ein gezieltes Vorgehen gegen den urbanen Lebensraum. Dies wird zunehmend mit dem Begriff „Urbizid“ belegt: Ein Konzept, das weit über das reine Niederreißen von Gebäuden hinausgeht. Er beschreibt die systematische Vernichtung von Städten als soziale, kulturelle und lebendige Organismen, deren Identität und Gemeinschaft zerstört werden (hier, S. 399). Städte sterben dabei nicht nur physisch, sie werden als komplexe soziale Gefüge bewusst ausgelöscht.
Diese Zerstörung stellt ein eigenständiges Unrecht dar, das Völkerstrafrecht hat dem aber bislang kaum Rechnung getragen. Doch ob „Urbizid“ über die bloße Empörung hinaus als juristische Kategorie tragfähig ist und tatsächlich neuen Regelungsbedarf im Völkerrecht aufzeigt, oder ob die Zerstörung von Städten bereits ausreichend erfasst ist, ist bislang nicht abschließend geklärt. Vor dem Hintergrund aktueller Konflikte und der zunehmenden Bedeutung urbaner Kriegsführung gewinnt diese Debatte neue Brisanz.
Was wird angegriffen, wenn Städte zerstört werden?
Ein Blick in die Stadtsoziologie hilft, die Dimension solcher Angriffe zu verstehen. Sie untersucht, was „Urbanität“ ausmacht und warum das Leben in Städten eine eigene, besondere Qualität hat. Georg Simmel spricht in diesem Zusammenhang von einem besonderen „Geistesleben“, das entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Hintergründen und Prägung zusammenkommen.1) Kulturwissenschaftliche Stadtforschung beschreibt Städte als heterogene Geflechte, die gerade durch ihre Vielfalt zu einem „Ort kultureller Produktion“ und Motoren gesellschaftlicher Modernisierung werden.2) Dort treffen Menschen auf Fremdes, knüpfen neue Verbindungen und schaffen durch diese Kontakte gemeinsamen Fortschritt.
Wer Stadtzerstörung als Angriff auf diese urbane Qualität versteht, erkennt, warum der rechtliche Diskurs nach Begriffen wie „Urbizid“ sucht. Die Zerstörung von Sarajevo im jugoslawischen Bürgerkrieg bedeutete nicht nur das Ende einer Stadt, sondern auch das Ende eines alltäglich gelebten kulturellen und ethnischen Pluralismus (s. hier). Auch Mariupol stand für eine urbane Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenlebten, bis es zerstört wurde. Die großräumige Zerstörung von Gebäuden, Infrastruktur und symbolischen Bauten vernichtet nicht nur materielle Güter, sondern die Grundlagen einer auf Toleranz, Pluralität und Hybridität angelegten, eben urbanen Lebensform.3)
Großstädte sind häufig auch wirtschaftliche Zentren4) und Bühnen politischen Handelns. Als sozio-ökonomische Räume treiben sie gesellschaftliche Innovationen an. Wenn das Strafrecht Funktionsrechtsgüter (beispielsweise Versicherungs- oder Kreditwesen) und systemische Rechtsgüter (etwa Ökosysteme) schützt, liegt es nahe, auch den urbanen Lebensraum als schutzwürdiges Rechtsgut anzuerkennen – insbesondere im Völkerstrafrecht.
Wird die „Stadt“ im geltenden Völkerstrafrecht bereits geschützt?
Aggressionsverbrechen und Völkermord
Weder das Aggressionsverbrechen noch der Genozidtatbestand nach Art. 6 IStGH-Statut bieten Anknüpfungspunkte für einen umfassenden völkerrechtlichen Schutz. Zwar wird vertreten, „Gewalt gegen Städte“ sei eine Form von Genozid bzw. Teil eines genozidalen Vorgehens. Martin Shaw – britischer Experte für International Genocide Studies – betont im Rückblick auf den jugoslawischen Bürgerkrieg, serbische und kroatische Kräfte hätten gezielt multiethnische Städte zerstören wollen, die ihrem ethnonationalistischen Ideal widersprachen (s. hier). Doch während der Genozid die physische oder soziale Vernichtung homogener Gruppen erfasst, richtet sich die Gewalt gegen Städte vor allem gegen deren Heterogenität. Auch wenn sich Berührungspunkte ergeben können, verfolgt die Stadtzerstörung ein anderes Ziel.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Bei Menschlichkeitsverbrechen nach Art. 7 IStGH-Statut rückt der Schutz der Zivilbevölkerung als solche in den Vordergrund, deren gemeinsames Leben in einem Stadtgebiet dafür ausreicht.5) Doch die systematische Zerstörung von Städten lässt sich nicht ohne Weiteres unter den Straftatbestand fassen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben einen starken Individualrechtsgutsbezug,6) was bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Dies schließt eine Ausweitung auf kollektive urbane Räume aus.
Kriegsverbrechen
Vielversprechender erscheint Art. 8 IStGH-Statut, der Kriegsverbrechen regelt. Art. 8 Abs. 2 a) iv) stellt die „Zerstörung […] von Eigentum in großem Ausmaß“ unter Strafe, sofern sie nicht geboten und willkürlich ist. Der Schutz bezieht sich jedoch nur auf ziviles oder staatliches Eigentum im Sinne von Art. 53 des vierten Genfer Abkommens, der eine Besetzung voraussetzt – was etwa bei Luftangriffen auf Städte meist nicht der Fall ist.7) Angriffe dieser Art können allerdings unter Art. 8 Abs. 2 b) ii) IStGH-Statut als „vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte“ erfasst werden.8) Teilweise wird argumentiert, dadurch bestehe keine Schutzlücke. Diese Annahme greift jedoch zu kurz, da der Tatbestand allein Sachschäden adressiert.
Über den bloßen Eigentumsschutz hinaus enthält Art. 8 Abs. 2 b) v) IStGH-Statut einen eigenständigen Straftatbestand, der sogar die Stadt als solche explizit erwähnt: Strafbar ist der „Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstatten oder Gebäude, die keine militärischen Ziele sind“. Schwierigkeiten ergeben sich aber mit Blick auf die Voraussetzung, dass die Angriffsobjekte „unverteidigt“ sind. Die Norm will verhindern, dass Orte angegriffen werden, obwohl sie auch ohne militärische Gewalt besetzt werden könnten.9) Sie könnte somit in bestimmten Fallkonstellationen herangezogen werden, um gezielte Zerstörungen städtischer Räume strafrechtlich zu verfolgen. In der Praxis ist der Anwendungsbereich aber stark eingeschränkt: Voraussetzung ist, dass die angegriffenen Städte oder Objekte tatsächlich „unverteidigt“ sind. Das bedeutet nicht nur auf militärische Gegenwehr zu verzichten, sondern auch, dass von dem Ort keine feindlichen Kampfhandlungen ausgehen. Gerade in asymmetrischen Konflikten, in denen Städte oft bewaffnet geschützt oder als Operationsräume genutzt werden, fehlt es häufig an dieser Voraussetzung, sodass der Tatbestand leerläuft.
Ist „Urbizid“ völkerstrafrechtlich überhaupt ein sinnvoller Begriff?
„Urbizid“ meint die im Kontext von bewaffneten Konflikten zunehmend zu beobachtende systematische und gezielte Zerstörung städtischer Infrastruktur und geschlossener Siedlungsräume, derzeit besonders eklatant in der Ukraine und in Gaza. Der Ausdruck reiht sich in eine Serie von Wortneuschöpfungen wie Ökozid (Umweltmord), Eduzid (Bildungsmord) oder Domizid (Wohnungsmord) ein, die alle das Suffix „-zid“ verwenden. In der englischsprachigen Debatte ist sogar von einen „neuen Welle“ solcher „-zide“ die Rede („a new wave of -cides“), die zunehmend ihren Weg in die völkerrechtliche Diskussion finden.
Daran gibt es Kritik. Einige sehen darin eine unangemessene Verharmlosung des Genozids. Schließlich steht der Völkermord als schwerstes Verbrechen im Völkerrecht für die gezielte Vernichtung von Menschen als Angehörige einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe. Kann die Zerstörung von Gebäuden, Schulen oder Wohnungen damit wirklich verglichen werden? Oder verwischt „Urbizid“ die klare Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen?
Trotz dieser Bedenken wird „Urbizid“ immer wieder aufgegriffen, weil er eine Leerstelle markiert. Er soll sichtbar machen, dass die systematische Zerstörung von Städten kein bloßer „Kollateralschaden“ ist, sondern gezielt eingesetzt werden kann, um Gesellschaften zu brechen. Der Begriff lenkt damit den Blick auf ein besonderes kollektives Gut: den urbanen Lebensraum.10) Doch ob es dafür einen eigenen Begriff braucht, ist fraglich. Die Aufmerksamkeit, die „Urbizid“ auf das Problem lenkt, ließe sich auch anders erreichen – ohne den Anschein zu erwecken, urbane Zerstörung und Völkermord seien vergleichbar. Begriffe wie „gezielte Stadtzerstörung“ oder „Gewalt gegen die Stadt“ sind präziser und vermeiden Missverständnisse. „Urbizid“ mag also als Schlagwort Aufmerksamkeit schaffen. Für den juristischen Diskurs ist er jedoch wenig geeignet, weil er eher Unschärfen produziert, als Klarheit zu schaffen.
Ein rechtspolitischer Vorschlag
Trotz intensiver stadtsoziologischer Analysen und rechtspolitischer Debatten bleibt die großflächige Stadtzerstörung als solche im Völkerstrafrecht bislang straflos. Städte gelten bisher nicht als schutzwürdiges Rechtsgut. Was ist zu tun?
Gehen wir noch einmal zurück zu den Kriegsverbrechen. Art. 8 Abs. 2 b) iv) IStGH-Statut gibt uns einen Hinweis. Unter Strafe werden Angriffe gestellt, wenn klar ist, dass dabei auch erhebliche Verluste an Menschenleben, Verletzungen von Zivilpersonen oder erhebliche Schäden an zivilen Objekten und der natürlichen Umwelt entstehen, die in keinem Verhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil stehen. Die Norm hat vor allem Individualschäden im Blick, schützt aber auch die natürliche Umwelt als kollektives Rechtsgut – ein Ansatz, der auf die sog. ENMOD-Konvention vom 10. Dezember 1976 zurückgeht.11)
Auch wenn die Zerstörung von Städten bislang nicht erfasst ist, spricht vieles dafür, die Norm auf den Schutz der sozialen Umwelt auszuweiten. Soziale Räume sind nicht weniger schützenswert als natürliche Umwelten und lassen sich ebenso konkret bestimmen.12)
Eine entsprechende Erweiterung könnte militärisch unverhältnismäßige – annähernd vollständige – Stadtzerstörungen – wie aktuell in der Ukraine und im Gazastreifen – erfassen. Im deutschen Völkerstrafgesetzbuch ließe sich dies etwa an § 11 Abs. 1 Nr. 8 festmachen, der Angriffe unter Strafe stellt, wenn mit weitreichenden und schweren Schäden an der natürlichen Umwelt zu rechnen ist. Eine entsprechende Formulierung könnte Schäden an der sozialen Umwelt einbeziehen oder sie als eigenständigen Straftatbestand ausweisen. Damit würde deutlich, dass Stadtzerstörung kein bloßer Sachschaden ist, sondern ein Unrecht eigener Art.
Jenseits der Trümmer
Städte sind mehr als bloße Kulissen des Krieges. Sie sind Räume, in denen Vielfalt gelebt, Konflikte ausgehandelt und gesellschaftlicher Wandel möglich wird. Wer Städte zerstört, zerstört auch diese Möglichkeiten – oft gezielt und mit langfristigen Folgen. Im Völkerstrafrecht lässt sich Stadtzerstörung bislang nur bruchstückhaft erfassen, zwischen Eigentumsschutz, dem Schutz der Zivilbevölkerung und dem Verbot von Angriffen auf „unverteidigte Orte“. Es wird Zeit, diese Lücke zu schließen und den urbanen Lebensraum als schützenswertes Gut zu begreifen. Das Völkerrecht sollte dazu beitragen.
References
↑1 | Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, 2006, S. 16. |
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↑2 | vgl. Müller, Kultur der Stadt. Essays für eine Politik der Architektur, 2010, S. 7; 25. |
↑3 | Coward, Urbicide. The politics of urban destruction, 2009, S. 15; dazu Henckel, in: Henckel/Bartels/Markwart (Hg.), Aufbruch ins Unversicherbare. Zum Katstrophendiskurs der Gegenwart, 2014, DOI: 10. 14361/transcript.9783839417720, S. 405. |
↑4 | Simmel (Fn. 1), S. 11. |
↑5 | S. dazu Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 2020, Rn. 973. |
↑6 | S. dazu Werle/Jeßberger (Fn. 5), Rn. 971. |
↑7 | Werle/Jeßberger (Fn. 5), Rn. 1380. |
↑8 | Werle/Jeßberger (Fn. 5), Rn. 1380 (Fn. 617). |
↑9 | Dazu Werle/Jeßberger (Fn. 5), Rn. 1443. |
↑10 | Coward (Fn. 3), S. 15. |
↑11 | Dazu Werle/Jeßberger (Fn. 5), Rn. 1436 ff. |
↑12 | Als Vorbild könnte die EU-Richtlinie zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt von 11.4.2024 dienen., in der qualitative und quantitative Schwellenwerte für schutzrelevante Ökosysteme bestimmt werden. |