Wie die EU durch das Spitzenkandidatensystem ihre illiberalen Regime in Ungarn und Polen bekämpfen könnte
Die Europäische Union scheint unfähig zu sein, gegen die illiberalen Regime in Polen und Ungarn erfolgreich vorzugehen. Dabei hält sich der Irrglaube, dass die EU keine rechtlichen Mittel zur Verfügung habe, um gegen diese undemokratischen Staaten anzukämpfen. Dies ist nicht der Fall. Die EU hat und hatte schon immer die nötigen Mittel zur Hand, die jedoch auch tatsächlich genutzt werden müssten. Der notwendige Schritt, um dies zu garantieren, ist so einfach wie wirksam. Die EU muss das Spitzenkandidatensystem für die Europäische Kommission wiedereinsetzen.
In den Köpfen vieler Kommentatoren findet sich das Bild einer guten Europäischen Kommission, die tapfer gegen die bösen, illiberalen Mitgliedsstaaten ankämpfe. Diese Vorstellung ist naiv. Tatsächlich kommen Mitgliedsstaaten wie Ungarn und Polen mit ihrer Politik nur deshalb so glimpflich davon, weil die Europäische Kommission sie gewähren lässt. Die Kommission wird dafür ihrerseits nicht zur Verantwortung gezogen, weil das Europäische Parlament nicht genug Macht besitzt, um die Kommission wirksam zu kontrollieren. Die Beständigkeit illiberaler Regime in Ungarn und Polen hängt davon ab. Das Abgleiten beider Länder in semiautoritäre Regime ist ein Symptom eigener konstitutionellen Schwächen der EU.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat kürzlich in seiner europäischen Grundsatzrede in Prag gefordert, „der Kommission einen neuen Weg (zu) eröffnen, Vertragsverletzungsverfahren […] einzuleiten“, so als fehle es der EU an geeigneten Verfahren. Tatsächlich aber stehen diese Mittel bereits zur Verfügung. Neben ältere Maßnahmen, wie dem Vertragsverletzungsverfahren oder dem Verfahren nach Artikel 7, treten neue wie die Zurückhaltung von Fördergeldern nach dem Konditionalitätsmechanismus oder dem Corona-Wiederaufbaufonds, um nur ein paar zu nennen. Das Problem sind nicht fehlende Verfahren, sondern ihre mangelnde Anwendung, die von politischen Entscheidungen abhängt. Der EU-Ministerrat, der Europäische Rat und die Kommission setzen diese Verfahren bewusst nur halbherzig, gezielt zu spät oder gar nicht ein. Wenn sie sich ausnahmsweise nominell für die Verteidigung der EU-Verfassungswerte einsetzen, wie zuletzt gegen Ungarn, dann lässt sich das eher durch andere Faktoren als Ungarns Illiberalität erklären, etwa durch die ständigen Vetos bzw. Vetodrohungen Ungarns im Schatten des Ukraine-Krieges. In manchen Fällen grenzt die Untätigkeit der EU-Organe sogar an Rechtswidrigkeit, also an eine Verletzung des EU-Rechts durch EU-Organe selbst. In anderen Fällen verhält sich die Kommission zwar rechtskonform, ihr Vorgehen führt allerdings zu Langzeit-Schäden: Die weichgespülten polnischen „Meilensteine“ zur Erhaltung der Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufond sowie die nur sehr mäßig hilfreiche ungarische Maßnahmenliste im Rahmen des Konditionalitätsmechanismus sind nur die jüngsten Beispiele hierfür. Es ist und bleibt auch ein Rätsel, um ein älteres Beispiel zu nennen, wie die rechtlichen Bedenken der Kommission in Bezug auf ein von Russland zu errichtendes Atomkraftwerk in Ungarn im Jahr 2016 prompt aufgelöst werden konnten.
Strukturen demokratischer Verantwortlichkeit sollen institutionelle Anreize zu schaffen. Erhält der Präsident der Europäischen Kommission seine Macht in erster Linie von einem unendlich kompromissbereiten Europäischen Rat, der ihn vorschlägt, dann wird das Verhalten dieses Präsidenten dem Verhalten seines politischen Machtgebers gleichen. Ist es jedoch Aufgabe des Europäischen Parlaments, das viel mehr Entschlossenheit in der Verteidigung der Demokratie gezeigt hat, den Präsidenten der Kommission zu legitimieren, kann man im Umkehrschluss erwarten, dass dieser eher der Linie des Parlaments folgen wird – denn der Kommissions-Präsident möchte ja höchstwahrscheinlich wiedergewählt werden und sich mit seinem ‚Vorgesetzten‘, dem Europäischen Parlament, gut stellen.
Diese Idee war die treibende Kraft hinter dem sogenannten Spitzenkandidatensystem: Der Spitzenkandidat der größten Fraktion wird vom Europäischen Parlament zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt. Diese kleine Änderung des bisherigen Verfahrens – der de-facto-Legitimation durch den Vorschlag des Europäischen Rats – würde dazu führen, dass der Präsident der Kommission seine politische Legitimität hauptsächlich vom EU-Parlament erhält. Die Europäische Kommission ist nämlich kein apolitisches Organ. Sie besitzt das alleinige Initiativrecht für EU-Gesetze, hat eine politische Agenda innerhalb ihrer Politikbereiche. Die Kommissionsmitglieder sind obendrein meist hochrangige Politiker und Politikerinnen. Dieses Wesen der Kommission und ihre damit verbundene Macht führen dazu, dass sie weniger als eine technokratische Regulierungsbehörde, sondern eher als Regierung verstanden werden muss. Die Frage ist daher nicht, ob die Kommission politisch ist (sie ist es und muss es aufgrund der geltenden Vertragsbestimmungen auch sein), sondern worauf sich ihre politische Legitimität stützt.
In ihren Antworten auf die Frage, wie illiberale Regimekrisen in der EU bewältigt werden sollen, unterscheiden sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament beträchtlich. Das Parlament hat strategisch versucht, eine liberale demokratische Werte-Basis zu schaffen, der Europäische Rat dagegen, die Autonomie der Mitgliedstaaten zu beschützen, auch wenn diesem Schutz eben jene demokratischen Grundwerte zum Opfer fallen. Die Kommission hat sich in der Mitte zwischen diesen beiden Haltungen platziert, kontinuierlich die Hoffnung säend, sich letztendlich auf die Seite des Europäischen Parlaments zu schlagen. Bis jetzt ist diese Hoffnung nicht erfüllt worden – und all jene, die an die EU-Gründungswerte glauben, werden höchstwahrscheinlich auch in der Zukunft immer wieder enttäuscht werden. Hierbei handelt es sich nicht um ein moralisches Urteil, sondern um eine institutionelle Vorhersage. Möchte man eine echte Änderung und nicht nur gutklingende Tweets, dann braucht es einen strategischen Plan, um das Spitzenkandidatensystem bis 2024 wieder zu beleben.
Eine Änderung der EU-Verträge ist hierfür nicht notwendig. Die derzeit geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen dieses Vorgehen bereits; es mangelt bislang lediglich an der nötigen politischen Arbeit. Das Spitzenkandidatensystem wurde das erste Mal bei den Wahlen des Europäischen Parlaments in 2014 angewandt, jedoch 2019 kurzsichtig von den Regierungen der Mitgliedsstaaten in einer Serie von chaotischen und intransparenten Handlungen wieder verworfen. Das Europäische Parlament hat dies ohne weiteres geschluckt. Dies hat die EU-Demokratie ein großes Stück zurückgeworfen und ist selbst ein Phänomen der Erosion. Im aktuellen Koalitionsvertrag setzt sich auch die Bundesregierung die (Wieder-)Einführung des Spitzenkandidatensystems als europapolitisches Ziel, bisher allerdings ohne sich auch sichtbar politisch dafür einzusetzen.
Eine Allianz von willigen Mitgliedsstaaten und EU-Parlamentsabgeordneten sollte – am besten heute – verkünden, dass sie dem Spitzenkandidatensystem folgen wollen. Dieser Schritt wäre nicht nur hilfreich, um die demokratischen Verantwortlichkeitsschwächen der Europäischen Kommission zu überwinden, sondern auch um zu verhindern, dass die EU selbst in den Strudel ihrer illiberalen Regime gezogen wird.