Der BGH und Pechstein: Transnationaler Konstitutionalismus sieht anders aus
Das Urteil des BGH in der causa Pechstein wurde mit Spannung erwartet. Zur Entscheidung stand, ob eine Schiedsvereinbarung, die die ausschließliche Zuständigkeit des Court of Arbitration for Sport (CAS) in Lausanne festlegt, vor deutschen Gerichten Bestand hat. Würde der BGH die deutsche Ziviljustiz als Konkurrent zum CAS ins Spiel bringen? Oder würde er die Klage, die die Eisschnellläuferin Pechstein gegen die International Skating Union (ISU) eingereicht hatte, aufgrund vorrangiger Schiedsvereinbarung als unzulässig abweisen?
Das in zweiter Instanz mit dem Fall befasste OLG München hatte die zwischen Pechstein und der ISU, die alle wichtigen internationalen Eisschnelllaufwettbewerbe veranstaltet, getroffene Vereinbarung noch als unwirksam eingestuft. Zur Begründung führte das OLG aus, die Schiedsvereinbarung sei „wegen Verstoßes gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung“ nichtig. Erstens bliebe Sportlern keine andere Wahl, als sich mit der Zuständigkeit des CAS in Rechtsstreitigkeiten einverstanden zu erklären, wenn sie an Wettbewerben der ISU teilnehmen wollten. Zweitens könne nicht von einer unparteiischen Besetzung der Sportschiedsgerichte die Rede sein, weil die Sportverbände über Gebühr auf die Gerichtsbesetzung Einfluss nehmen könnten.
Anders urteilte nun der BGH. Der erkennende Senat sah die Schiedsvereinbarung als wirksam an. Die ISU habe zwar eine marktbeherrschende Stellung, diese aber mit ihrer Forderung nach der Schiedsabrede nicht missbraucht. Pechsteins Klage, die darauf gerichtet ist, vor deutschen Gerichten Schadensersatz von der ISU zugesprochen zu bekommen, scheitere schon mangels Zulässigkeit. Ihr stehe die Einrede der Schiedsvereinbarung entgegen. Damit ist Pechsteins Weg, sich gegen die ISU zur Wehr zu setzen, zumindest vor den ordentlichen Gerichten an sein Ende gelangt.
Die Eisschnellläuferin zeigte sich dann auch bitter enttäuscht von der Entscheidung des BGH. Laut FAZ kommentierte sie den Richterspruch mit den Worten „Jeder Flüchtling, der in Deutschland einreist und registriert wird, genießt Rechtsschutz. Aber wir Sportler nicht.“ Sicherlich trägt diese Äußerung nicht dazu bei, dass man sich zu Sympathiebekundungen für Frau Pechstein veranlasst sieht. Aber zahlreiche Beobachter des Verfahrens, die den Fall durch die Instanzen mitverfolgt haben, teilen ihre Ernüchterung über die Entscheidung.
Auch wenn es sich nur um eine vorläufige Einschätzung handelt, da die Entscheidungsgründe bislang nicht veröffentlicht sind, so lässt sich doch bereits folgendes sagen: Der Fall eröffnete dem BGH die Möglichkeit, die ungleichen Machtstrukturen im professionellen Sport einer effektiven und unabhängigen Kontrolle zu unterziehen und die weitreichende Macht der Sportverbände zu begrenzen. Diese Möglichkeit ließ der BGH ungenutzt verstreichen. Das ist umso bedauerlicher, als das OLG München in seinem Urteil einen differenzierten Ansatz aufgezeigt hatte, nach dem Schiedsvereinbarungen im Sport nicht generell, sondern nur bei einer einseitigen Benachteiligung der Sportler unwirksam gewesen wären. Zudem hätte sich der BGH argumentativ auch bei der Bosman-Entscheidung des EuGH bedienen können.
Bereits aus Anlass der mündlichen Verhandlung vor dem BGH im März 2016 hatte Antoine Duval im Verfassungsblog dargelegt, dass der Fall Pechstein ein Beispiel von „transnational/societal constitutionalism in action“ ist. Der Fall Pechstein zeigt sich zwar im privatrechtlichen Gewand. Im Kern betrifft er aber die Machtverteilung in privaten Institutionen und damit zugleich die verfassungsrechtliche Frage, inwieweit staatliche Akteure angehalten sind, sich zum Schutz individueller Rechte (hier die Berufsfreiheit von Frau Pechstein) über Entscheidungen privater Institutionen wie Sportverbänden hinwegzusetzen. Duval hatte die verschiedenen denkbaren Antworten des BGH aufgezeigt: (1) Der BGH könne Schiedsgerichtsklauseln bezüglich des CAS generell für unwirksam erklären; (2) sie generell für wirksam erachten; (3) sich der Ansicht des OLG München anschließen und damit auf Veränderungen beim CAS hinwirken; oder (4) den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren um Rat fragen.
Von den aufgezählten Optionen wählte der BGH mit der zweiten Option die traditionellste. Nach wohlwollender Leseart umgeht der BGH schwierige verfassungspluralistische Fragen, indem er die Schiedsgerichtsklausel für generell wirksam erachtet. Er vermeidet einen offenen Schlagabtausch mit dem CAS, wie es unter Option 1 und 3 der Fall gewesen wäre. Er muss keine Kriterien dafür entwickeln, ab wann die Zusammensetzung des CAS als so problematisch anzusehen ist, dass der BGH selbst zum Entscheidungsfinder berufen ist (Option 3). Und er bringt keinen weiteren Spieler, wie etwa den EuGH, in den Wettbewerb über die Entscheidungszuständigkeit mit ein (Option 4).
Eine kritischere Interpretation lässt den Schluss zu, dass der BGH die verfassungsrechtliche Dimension des Falles (zu) gering einschätzt. Es liegt nahe, dass der BGH es vermeiden möchte, einen Dialog mit transnationalen Gerichten anzustoßen. Während es in Europa für Verfassungsgerichte mittlerweile zur Normalität zählt, eigene Standpunkte in Wechselbeziehung zu anderen Verfassungsgerichten zu definieren, scheint dieser Gedanke dem BGH noch fremd. Dem Umstand, dass der Profisport bekanntlich unter Intransparenz und mangelnder Binnendemokratie leidet, wie die ständig neuen Enthüllungen um korrupte FIFA-Funktionäre oder mutmaßlich gedopte Olympioniken zeigen, kommt somit wenig Beachtung zu.
Frau Pechstein hat bereits angekündigt, sich an das Bundesverfassungsgericht wenden zu wollen. Es steht zu erwarten, dass die verfassungsrechtliche Komponente ihres Falles dort deutlicher zur Geltung kommen wird.