“Liste Sebastian Kurz”: ein Auswuchs eines gravierenden Mangels im österreichischen Parteienrecht
Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) stellte mit Wolfgang Schüssel vor mehr als zehn Jahren zum letzten Mal den Bundeskanzler. Nach Schüssel ging es für die ÖVP mit mittlerweile drei ehemaligen Parteichefs bei bundesweiten Wahlen kontinuierlich bergab. Vor wenigen Wochen übergaben die beiden mächtigsten ÖVP-Landeshauptmänner (Ministerpräsidenten), nämlich Josef Pühringer in Oberösterreich und Erwin Pröll in Niederösterreich, nach jahrzehntelanger Herrschaft ihre Ämter an die Nachfolger. Danach trat auch der Bundesparteichef der ÖVP (Reinhold Mitterlehner) ab. Die Bühne war damit frei für den gerade einmal 30 Jahre alten Kronprinzen, Sebastian Kurz.
Kurz zierte sich nicht lange und erklärte sich bereit, das Ruder zu übernehmen. Er ist in der glücklichen Lage, nur pro forma in den Parteivorsitz gewählt werden zu müssen und die Übernahme der Funktion de facto sogar von mehreren Zusagen durch seine Parteifreunde abhängig machen zu können. Im Kern soll nach seiner Vorstellung die gesamte parteiinterne Macht bei ihm konzentriert werden – einschließlich des Rechts, die Kandidatenlisten der ÖVP für die kommenden Oktober anstehende Nationalratswahl im Wesentlichen allein bestimmen zu können. Droht der ÖVP, derzeit zweitstärkste Partei in Österreich, eine Art Erdoganisierung, die in dem weit verbreiteten Wunsch nach einem “starken Mann” gar eine gesellschaftliche Legitimation findet?
Spätestens seit dem Desaster rund um die letzte Wahl des Bundespräsidenten weiß man auch im Ausland über das mitunter schlampige Demokratieverständnis in Österreich. Es wundert deshalb nicht, dass in den letzten Tagen in Österreich so gut wie niemand die Frage gestellt hat, ob eine derartige Entwicklung in der ÖVP rechtlich überhaupt zulässig ist.
Die Antwort gleich vorweg: Weder das österreichische Verfassungsrecht noch sonst eine Rechtsvorschrift verpflichten politische Parteien ausdrücklich zur inneren Organisation nach demokratischen Grundsätzen. Nur so ist es wohl erklärbar, dass vor der bislang letzten Nationalratswahl ein in Österreich groß und in Kanada reich gewordener Doppelstaatsbürger seine eigene politische Partei gründete und der Partei gleich seinen Namen verpasste (“Team Stronach”). Selbst Silvio Berlusconi war in Italien mit seiner “Forza Italia” zurückhaltender.
Maßgebende Grundlage des Rechts der politischen Parteien ist in Österreich vor allem das 2012/2013 grundlegend reformierte Parteiengesetz. Dessen erster Paragraph regelt in groben Grundzügen einen Bestandsschutz und die Gründungsvoraussetzungen politischer Parteien. Die übrigen 15 Paragraphen regeln im Wesentlichen – wie im Übrigen noch ein eigenes Parteien-Förderungsgesetz – die Parteienfinanzierung. Dieses grobe Missverhältnis zwischen dem allgemeinem Parteienrecht und seiner Teilmenge der Parteienfinanzierung besteht nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Das war aber nicht immer so. Vor 2012/2013 waren die Parteienfinanzierungsregelungen nämlich von ähnlich bescheidener Qualität wie das allgemeine Parteienrecht.
Warum einigten sich die Parteien, die hier ja in eigener Sache entscheiden, 2012 auf eine Reform des Rechts der Parteienfinanzierung? Der Anstoß kam letztlich von außen, nämlich vom Europarat (genauer: GRECO), der – zurückhaltend ausgedrückt – Verbesserungspotential sah und eine Reform der Finanzierungsvorschriften für politische Parteien einforderte.
Neben politischen Parteien gibt es in Österreich noch Parlamentsparteien (Klubs bzw Fraktionen – sie erhalten eine eigene Förderung) und wahlwerbende Parteien. Diese drei Parteitypen bilden in der politischen Realität weitgehend eine Einheit. Sie sind aber juristisch klar voneinander zu trennen. Die politische Partei und Parlamentspartei benötigen an dieser Stelle wohl keiner näheren Erklärung, weil es sie andernorts genauso gibt. Anders verhält es sich bei der wahlwerbenden Partei. Diese ist eine wahlrechtliche Zweckkonstruktion mit eingeschränkter Rechtspersönlichkeit, die im Wesentlichen nur am Stimmzettel sichtbar wird.
In Österreich werden bei direkten Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern (im Wesentlichen Europaparlament, Nationalrat, Landtage, Gemeinderäte) juristisch also nicht politische, sondern eben wahlwerbende Parteien gewählt. Hinter jeder wahlwerbenden Partei steht so gut wie immer eine politische Partei. Das muss aber nicht so sein. Ebenso möglich wäre beispielsweise einerseits ein Wahlbündnis zweier oder mehrerer politischer Parteien, um derart gemeinsam den Mindeststimmenanteil für den Einzug in den Vertretungskörper zu schaffen. Andererseits können einer wahlwerbenden Partei auch Personen angehören, die unterschiedlichen oder gar keinen politischen Parteien angehören. Die Sozialdemokraten versuchten etwa vor gut zehn Jahren mit der Vergabe eines sicheren Listenplatzes an den damaligen Vorsitzenden des politisch fast bedeutungslosen Liberalen Forums (einer politischen Partei) im liberalen Wahlvolk auf Stimmenfang zu gehen. Sie hielten damit, ganz nebenbei, eine andere politische Partei von der Kandidatur über eine eigene wahlwerbende Partei ab.
Die “Gründungsvoraussetzungen” für eine wahlwerbende Partei stehen in der jeweiligen Wahlordnung. Im Wesentlichen bedarf es dabei stets einer Einigung der kandidierenden Personen auf die Reihenfolge ihrer Wählbarkeit (der Einzug in den Vertretungskörper richtet sich nach dieser Reihenfolge) und einer bestimmten Unterstützung. Diese kann bei Nationalratswahlen entweder durch drei (der 183) Mitglieder des Nationalrats oder eine je nach Bundesland unterschiedliche Zahl an Wählern erfolgen.
Sebastian Kurz wird daher demnächst bloß seine Wunschkandidaten auf eine Liste (genauer: mehrere, nämlich für die Bundesebene sowie Landes- und Regionalkreisebenen) setzen und diese von drei Mitgliedern “seiner” Parlamentspartei absegnen lassen müssen. Die Kandidaten müssen insbesondere parteiintern nicht gewählt werden. Dafür gibt es keine gesetzliche Notwendigkeit. Auch das Organisationsstatut der ÖVP sieht dies nicht vor. Kurz kann daher weitgehend frei entscheiden, wer für die ÖVP künftig im Nationalrat sitzen wird. Einzig das Wahlvolk kann ihm einen Strich durch die Rechnung machen.
Vor der Neuregelung der Parteienfinanzierung im Jahr 2012 gab es in Österreich kritische Stimmen in den Medien, der Wissenschaft und bestimmten politischen Flügeln, die entsprechende Reformen forderten. Den Anstoß zur Veränderung gab aber letztlich der Europarat. Im Hinblick auf die binnendemokratische Organisation politischer Parteien gibt es in Österreich so gut wie keine mahnenden Stimmen. Vielleicht sollten sich Experten des Europarats wieder auf eine Reise nach Wien begeben.
Bitte zum Vergleich einmal die “Liste Angerla Merkel” betrachten sowie das Schicksal derer, die sich innerhalb der CDU gegen Merkels Politik der Alternativlosigkeit und Verfassungsbrüche gestellt haben.
Die “Liste Angela Merkel” geht sogar weit über die CDU hinaus: Nur noch die LINKE übt sich gelegentlich in Oppositionsarbeit, der Rest ist längst gleichgeschaltet.
Whataboutism. Gääähn.
The blame whataboutism is a whataboutism in itself.
Nö.
Vielleicht findet sich noch ein Autor, der eine ähnliche Abhandlung über Macrons Partei “En Marche!” anfertigt? Das wäre doch mal was!
Echt jetzt? Noch ein Whataboutism?! Haben Sie sonntagmorgens nichts besseres zu tun?
> Nö.
Nochmals zum “Whataboutism”:
Wenn dieser Anwurf regelmäßig von der Seite kommt, die die Mutter aller “Whataboutisms”, nämlich die Nazikeule, so unentwegt schwingt, dann demaskiert das vollständig die dort herrschende Ignoranz.
Herzlichen Glückwunsch! Sie haben soeben den dritten Whataboutism geschafft! Vom österreichischen Parteienrecht über Merkel und Macron zur “Nazikeule” – das muss man erst mal hinkriegen.