Stell Dir vor, Deine Menschenrechte werden verletzt, und Du merkst es gar nicht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat in den letzten Jahren viel Kritik einstecken müssen, seiner Neigung wegen, Menschenrechtsverletzungen auch dort festzustellen, wo sie niemand so leicht vermutet hätte.
Jetzt kommt auch Deutschland mal in den Genuss einer solchen Entscheidung, wenngleich der Fall in einem Feld spielt, das mir persönlich und wohl auch den meisten anderen Deutschen nicht so nahe liegt, dass mir gleich die Galle hochkäme: Es geht um das Jagdwesen, genauer um die Pflicht von Grundeigentümern, zu dulden, dass auf ihrem Grund und Boden Jäger Tiere töten.
Das fand ein Grundeigentümer aus Baden-Württemberg aus Gewissensgründen so schlimm, dass er nach Straßburg zog. Das Kammerurteil gab ihm unrecht, aber er ging in Berufung. Und siehe: Die Große Kammer kam tatsächlich zu dem Schluss, mit dieser Pflicht werde das Recht auf Eigentum nach Art. 1 Prot. 1 EMRK mit Füßen getreten.
Die Urteilsgründe bemühen sich hauptsächlich darum, zu belegen, dass der Fall nicht wesentlich anders liegt als in Frankreich und in Luxemburg, wo der EGMR schon früher entsprechende Jagdgesetze gekippt hatte.
Das wäre alles ziemlich langweilig – wäre da nicht das Minderheitsvotum dreier Richter, zu denen auch die deutsche Richterin Angelika Nußberger zählt. Das nämlich hat es in sich.
While it is true that human rights protection has to be practical and effective and not theoretical or illusory, it is also true that the Court should take into account whether there is a real or only a theoretical human rights problem.
In dem Fall hatte der Kläger, nachdem er das Land von seiner Mutter geerbt hatte, bereits zehn Jahre lang unter der Verletzung seines Eigentumsrechts gelitten, ohne überhaupt etwas davon mitzukriegen. Er wusste nämlich überhaupt nichts von seiner Pflicht, und Jagden auf seinem Gelände hat er auch nie selber erlebt.
In real human rights cases applicants know (and feel) that their rights are being violated,
schreiben die Minderheits-Richter mit spürbarem Sarkasmus.
All in all, the Court has allowed itself to be drawn unnecessarily into the micromanagement of problems which do not need a solution at European level and would be better solved by national Parliaments and the national hunting authorities. In our view this is an excellent example of a case in which the principle of subsidiarity should be taken very seriously.
Foto: Peter Anderson, Flickr Creative Commons
Eigentlich müsste dann der Grundeigentümer sich an den Kosten der Verbissschäden durch das Wild in der Landwirtschaft beteiligen.
“Die Große Kammer kam tatsächlich zu dem Schluss, mit dieser Pflicht werde das Recht auf Eigentum nach Art. 1 Prot. 1 EMRK mit Füßen getreten.”
Wurde die Pflicht etwa erst eingeführt, nachdem er das Grundstück erworben hatte? Wenn nein, was genau fordert der EGMR hier? Eine umfassende institutionelle Garantie von Privateigentum an Grundstücken?
Der EGMR war zwar wirklich schon immer sehr kreativ darin, Schutzbereiche für Menschenrechte zu erfinden, aber die Aussage
“In real human rights cases applicants know (and feel) that their rights are being violated”
ist unzutreffend. Der Belauschte und Ausgespähte weiß und fühlt nicht, dass gerade massiv in seine Menschenrechte eingegriffen wird. Ist seine Beschwerde, wenn er denn einmal von der Überwachung erfährt, kein “real human rights case”?