Der Kampf der Zeugen Jehovas: Grundrechte vs. föderales Kompetenzgefüge
Föderalismus und Länderkompetenzen treffen auf Grundrechte – so könnte man die Kernproblematik, die in dem jüngsten Urteil des BVerfG zu den Zeugen Jehovas (2 BvR 1282/11) steckt, auf den Punkt bringen. Grundrechte wie die Religionsfreiheit gewähren Freiheiten, die im Grundsatz keine Ländergrenzen kennen. Sie berechtigen im gesamten Bundesgebiet. Wenn die föderale Kompetenzordnung sich einer Entfaltung von Grundrechten erheblich in den Weg stellt, sind die Länder gehalten, auf das Engste mit einander zu kooperieren, um Divergenzen soweit wie möglich zu verhindern – ein Grundsatz, den man bereits der Rechtsprechung des BVerfG in Sachen Hochschulzugangsberechtigungen entnehmen kann. Gerade auch im Falle der Verleihung des Körperschaftsstatus an eine Religionsgemeinschaft sollte er strikt beachtet werden, rückt aber im jüngsten Urteil in den Hintergrund. Zu Unrecht.
In dem vom BVerfG entschiedenen Fall geht es um die Zeugen Jehovas, die seit vielen Jahren um ihre Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft in Deutschland kämpfen. Eine Religionsgemeinschaft, die diesen Status besitzt, ist nicht nur rechtsfähig, sondern verfügt auch über eine Reihe von so genannten Körperschaftsrechten, zu welchen zumindest die Dienstherrenfähigkeit, die Rechtsetzungsautonomie sowie das Steuererhebungsrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 VI WRV) zählen. Das Land Berlin hatte den Zeugen Jehovas 2006 diesen Status eingeräumt. In dem aktuellen Rechtsstreit geht es um die Frage, ob daraus folgt, dass die Zeugen Jehovas auch in Bremen als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt werden müssen. Die Bürgerschaft, die in Bremen zur Entscheidung über die Verleihung des Körperschaftsstatus berufen ist, lehnte es 2011 ab, den Zeugen Jehovas diese privilegierte Stellung einzuräumen. Hierdurch fühlten sich die Zeugen Jehovas in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V 2 WRV, Art. 3 I, II und Art. 4 I, II GG verletzt und erhoben Verfassungsbeschwerde. Darüber hinaus machten sie vor dem BVerfG geltend, die Verleihung im Wege eines Gesetzes und nicht durch einen Akt der Exekutive verletzte sie in Art. 19 IV und Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG. Hauptproblem ist also: Das „körperschaftliche Gewand“, in das sich die Zeugen Jehovas hüllen wollen, dürfen sie in Berlin tragen, nicht aber in Bremen. Das könne nicht sein.
Die Mehrheit der Mitglieder des Zweiten Senat des BVerfG bleibt auf der bekannten Linie und bestätigt die grundsätzliche Länderzuständigkeit zur Verleihung des Körperschaftsstatus sowie die sogenannte „Spaltungsthese“. Hiernach erlangt eine Religionsgemeinschaft öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus und die damit einhergehende bundesweite Rechtsfähigkeit kraft Erstverleihung durch irgendein Land, die mit dem Körperschaftsstatus einhergehenden Rechte begründet jedoch jedes Land für sein Hoheitsgebiet selbst. Dabei haben die Länder bei einer „Zweitverleihung“ des Körperschaftsstatus keinen Ermessensspielraum, wohl jedoch eine eigenständige Überprüfungskompetenz im Hinblick auf die geschriebenen und ungeschriebenen Voraussetzungen des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V 2 WRV (Rn. 110). (Dass die Verleihung des Status durch die Legislative gekippt wurde (Rn. 123 ff.), ist indes durchaus eine kleine Revolution, hat man sie doch lange Zeit für wenig bedenklich gehalten). Und doch lassen die Urteilsgründe einen Aspekt vermissen.
Können Grundrechte Auswirkungen des föderalen Kompetenzgefüges relativieren?
Letztendlich geht es hier um eine Kollision von bundesweit berechtigenden Grundrechten einerseits und dem föderalen Kompetenzgefüge andererseits. Zwar fließt nach herrschender Auffassung aus der grundrechtlich verbürgten korporativen Religionsfreiheit in Art. 4 I, II GG kein Anspruch auf Einräumung des Körperschaftsstatus bzw. dessen Zweitverleihung. Den Anspruch auf Verleihung begründet Art. 4 I, II GG nur in der Gesamtschau mit Art.140 GG i.V.m. Art. 137 V 2 GG, so denn seine Voraussetzungen erfüllt sind. Unstrittig ist allerdings, dass die Verleihung des Körperschaftsstatus mit der korporativen Religionsfreiheit auf das Engste zusammenhängt. Das BVerfG betont in dem hiesigen Urteil selbst, dass Art. 4 I, II GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V 2 WRV ein „organisches Ganzes“ bildeten (Rn. 89) und der Körperschaftsstatus „ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit“ sei (Rn. 91). Zwischen der Glaubensfreiheit und Art. 4 I, II GG und Art. 137 V 2 WRV bestünde eine „interpretatorische Wechselwirkung“ (Rn. 90). Es ordnet ferner die rechtswidrige Vorenthaltung des Körperschaftsstatus als Eingriff in Art. 4 I, II GG ein (Rn. 147). Für Religionsgemeinschaften ist der Körperschaftsstatus zentral. Er erlaubt ihnen, ihre korporative Religionsfreiheit auf eine besondere Art und Weise zu entfalten – und zwar durch die Wahrnehmung von Körperschaftsrechten. Vor diesem Hintergrund bietet Berlin den Zeugen Jehovas zur Zeit einen viel umfassenderen Raum zur Entfaltung ihrer korporativen Religionsfreiheit als Bremen.
Darf eine solche „intraföderale Ungleichbehandlung“ sein? Grundsätzlich ja. Die Kompetenz zur Verleihung des Körperschaftsstatus und von Körperschaftsrechten steht – so die Richtermehrheit – nach Art. 30 GG den Ländern zu (Rn. 98, Rn. 107). Ihnen obläge die landesrechtliche Regelung des Verleihungsverfahrens, siehe Art. 140 i.V.m. Art. 137 VIII WRV (Rn. 105). Rechtsgrundlage der Verleihung sei ein Landesgesetz (Rn. 107). Der Vollzug eines Landesgesetzes ist ein Akt originärer Landesstaatsgewalt. Seine Wirkungen sind demgemäß auf das Gebiet des verleihenden Bundeslandes beschränkt. Divergenzen sind Konsequenzen der Bundesstaatlichkeit (Rn. 122). Dies vermögen auch Gleichheitsrechte – die das Urteil nicht einmal erwähnt – nicht zu ändern. Weder Art. 3 I GG noch Art. 33 I GG kann entnommen werden, dass Angehörige eines Landes von diesem die Einräumung von Rechten verlangen dürfen, die ein anderes Land aufgrund eines Landesgesetzes seinen Landesangehörigen gewährt. Weder Art. 3 GG noch Art. 33 GG beinhalten einen Gleichbehandlungsgrundsatz über Ländergrenzen hinaus. Ungleichbehandlung darf in einem Bundesstaat sein, sie ist sogar – in gewissen Grenzen – Kern des Föderalismus.
Und dennoch: Die Verleihung des Körperschaftsstatus und die damit einhergehende Einräumung von Körperschaftsrechten ist ein Verwaltungsakt, der enorme Auswirkungen auf die Verwirklichung von Art. 4 I, II GG zeitigt. Die mit dem Körperschaftsstatus einhergehenden Privilegien erlauben einer Religionsgemeinschaft faktisch einen völlig anderen Wirkungsradius. Die grundgesetzliche Religionsfreiheit – auch die korporative – ist jedoch nicht territorial beschränkt, sie gilt bundesweit.
Grundrechte und kooperativer Föderalismus
Ein ähnlich gelagertes Problem stellt sich auch bei der Frage von Hochschulzugangsberechtigungen. Zwar sind auch die Bindungswirkungen des Abiturs als eines Verwaltungsaktes, der von den Ländern in der Ausführung eines Landesgesetzes ergeht, auf das Gebiet des jeweiligen Landes beschränkt. Schon früh erkannte das BVerfG jedoch die zentrale Bedeutung des Abiturs für die Verwirklichung des Art. 12 I GG. Da das Abitur wesentliche Voraussetzung für den Hochschulzugang und somit für die effektive Wahrnehmung des Rechts auf Zugang zur Ausbildungsstätte, das Art. 12 I GG absichert, ist, träfe es einen Abiturienten hart, wenn Niedersachsen sein „NRW-Abitur“ als inexistent betrachtete.
Nicht fern lag hier der Ruf nach gegenseitigen Anerkennungspflichten der Länder, die womöglich Art. 12 I GG zu entnehmen wären. Diese Idee fand jedoch keinen Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung. Wohl pochte das BVerfG angesichts der Grundrechtsrelevanz im Hochschulwesen jedoch auf eine enge Kooperation der Länder untereinander (Numerus-Clausus-I-Entscheidung). Das Grundgesetz verpflichte die Länder zur Zusammenarbeit, „um ihrer Mitverantwortung für eine kooperative Verwirklichung des Grundrechtschutzes gerecht zu werden.“
Bestätigt hat sich diese Rechtsprechungslinie in den Urteilen zur Rechtschreibreform. Das BVerfG stellte fest, einer „Regelungsbefugnis der Länder“ stünde „auch nicht entgegen, daß Schreibung als Kommunikationsmittel im gesamten Sprachraum ein hohes Maß an Einheitlichkeit voraussetzt, wenn die grundrechtlich verbürgte Kommunikationsmöglichkeit erhalten bleiben soll. Den Ländern ist die Herstellung von Einheitlichkeit verfassungsrechtlich im Wege der Selbstkoordinierung, durch Abstimmung mit dem Bund und durch Absprachen mit auswärtigen Staaten, in denen deutsch in einem ins Gewicht fallenden Umfang gesprochen und geschrieben wird, auf der Grundlage des Art. 32 Abs. 3 GG möglich.“
Man kann hier mit Bullinger in der Tat von einer „gemeinschaftlichen Gewährleistungspflicht der Länder“ sprechen. Der Bund katalysierte durch Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes die Kooperation unter den Ländern und förderte eine umfassende gegenseitige Anerkennungspraxis. So obliegt ihnen nach § 32 III Nr. 1 S. 3 des HRG die Sicherstellung einer Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse. Nach § 35 Hs. 1 HRG darf die Zulassung eines Studienaspiranten, der Deutscher i. S. d. Art. 116 GG ist, insbesondere nicht von dem Ort, an dem er seine Qualifikation erlangt hat, abhängig sein. Konkrete Regelungen zur Anerkennung landesfremder Abschlüsse finden sich – angesichts der bestehenden Länderkompetenz – in Landesgesetzen, die auf Länderabkommen basieren. In Hamburg ist das Hamburger Abkommen vom 28.10.1964 Grundlage der Anerkennungspraxis. Dessen § 17 I 1 etabliert einen Anerkennungsmechanismus: „Die in den Ländern ausgestellten Reifezeugnisse und sonstigen Abschlusszeugnisse von Schulen, die Gegenstand dieses Abkommens sind, werden anerkannt.“
Ein eigenständiger Überprüfungsspielraum der Länder besteht im Bereich der Hochschulzugangsberechtigung in praxi kaum mehr. Ganz anders sieht es im Falle des Körperschaftsstatus aus – so nunmehr bestätigt durch das BVerfG. Jedes Land prüft für sich, auch wenn es die Augen vor anderen Länderentscheidungen nicht verschließen darf (Rn. 120).
Verleihung des Körperschaftsstatus und Abitur – Äpfel und Birnen?
Natürlich ist die Verleihung des Körperschaftsstatus etwas anderes als die Aushändigung der Allgemeinen Hochschulreife. Mit dem Körperschaftsstatus geht die Übertragung von originären Hoheitsrechten (z. B. dem Steuererhebungsrecht) der Länder einher. Ein stückweit delegiert das Land etwas von seiner „Staatsgewalt“ an eine religiöse Gemeinschaft, auch wenn diese hierdurch nicht in die Staatsorganisation eingegliedert wird. So unterliegen inkorporierte Religionsgemeinschaften nicht der staatlichen Aufsicht und nehmen keine Staatsaufgaben wahr (Rn. 91). Vor dem Hintergrund der Eigenstaatlichkeit der Länder macht es Bauchschmerzen anzunehmen, Berlin könne faktisch über die Verleihung von Hoheitsrechten Bremens entscheiden (Rn. 116, 117).
Trotz dieser Unterschiede besteht eine fundamentale Gemeinsamkeit: Für die Entfaltung der Religionsfreiheit einer Religionsgemeinschaft ist ein „bundesweiter“ Körperschaftsstatus mit „bundesweiten“ Körperschaftsrechten ebenso wichtig wie die Anerkennung des Abiturs eines Kölner Gymnasiasten und Hochschulaspiranten in den 15 anderen Bundesländern. Angesichts der Relevanz der Körperschaftsstatus für Art. 4 I, II GG hat der Ruf nach einer besonders engen Länderkooperation in diesem Bereich Berechtigung. Ob dem Kooperationserfordernis bereits dadurch genügt wird, dass Länder die Verleihungsentscheidungen anderer Länder – als Ausfluss bundesfreundlichen Verhaltens wie das BVerfG es darstellt – „angemessen berücksichtigen“ (Rn. 120) und nach den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz vom 12. März 1954 andere Länder vor der Verleihung zu konsultieren sind, ist zweifelhaft. Der Stellenwert der Religionsfreiheit und die Bedeutung des Körperschaftsstatus für diese spricht zumindest dafür, dass Länder bei einer bereits erfolgten Verleihung des Körperschaftsstatus prima facie davon auszugehen haben, die Voraussetzungen, die Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V 2 WRV an die Verleihung stellt, seien erfüllt. Dies ist nicht nur als ein Gebot bundesfreundlichen Verhaltens, sondern auch Ausfluss des Art. 4 I, II GG i.V.m. Art. 140 GG, Art.137 V 2 WRV selbst. Auch böte der Abschluss eines Staatsvertrages einen Ausweg. Auf diese Weise könnten die Länder vereinbaren, dass die Verleihungsentscheidung eines Landes in den Hoheitssphären der anderen Bindungswirkung entfaltet, was auch das BVerfG andeutet (Rn. 99).
Das gerade auch grundrechtlich gewünschte Ergebnis erreichen die von der Mehrheitsauffassung abweichenden Richter Voßkuhle, Hermanns und Müller über eine andere Konstruktion (Rn. 1 ff.). Sie erachten Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 V 2 WRV als Bundesgesetz, das die Länder gem. Art. 83 GG ausführten. Die bundesweite und umfassende Bindungswirkung bzw. „Wirkungserstreckung“ der Verleihungsentscheidung folgt dem folgend aus dem Bundesgesetz als solchem, auch wenn kraft Landesgesetzes wohl noch eine Übertragung konkreter Hoheitsbefugnisse zu erfolgen hat (Rn. 5, 9). Dies bedeutet: Verleiht ein Land den Körperschaftsstatus, berechtigt dieser in allen Ländern. Diese haben der Religionsgemeinschaft die „Mindesthoheitsrechte“ zu übertragen. Eine Überprüfungskompetenz im Hinblick auf die Verleihungsvoraussetzungen wie Rechtstreue besteht nicht. Diese Argumentation ist eines zweiten Blickes würdig, aber Art. 4 I, II GG und seine bundesweite Dimension kommen hier auch nicht zur Sprache, obwohl es gerade die Religionsfreiheit ist, auf die sie sich auswirkt. Insofern sollte der grundrechtliche Aspekt nicht außen vor bleiben. Gerade darum geht es den Zeugen Jehovas.