Radikaler Kosmopolitismus – eine Entgegnung
Zu radikal ist Christoph Brendel der Kosmopolitismus dieser Tage, wenn sich Angela Merkel, zumindest zeitweise, mit Nachdruck zum Grundrecht auf Asyl bekannte. Und darin liegt bereits Stoff für ein Drama. Denn diese Idee, das Recht auf Asyl, ist in der Tat radikal, kann es gar nicht anders sein.
Das Recht des Flüchtlings als weltbürgerliches Recht
Lassen wir die viel debattierte Frage, wer unter den Begriff des Flüchtlings fällt, für einen Moment beiseite, und konzentrieren uns darauf, was dieses Recht des Flüchtlings, nicht abgewiesen zu werden, meint. Wir finden es als Refoulement-Verbot in der Genfer Flüchtlingskonvention und bei Kant als die so schlicht eingeführten „Bedingungen allgemeiner Hospitalität“, die festhalten, dass der Ankommende eben nur abwiesen werden darf, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann“. Das klingt erst einmal eher bescheiden als radikal.
Das Recht des Flüchtlings, nicht abgewiesen zu werden, ist nicht radikal wegen seines Inhalts, sondern weil es überhaupt ein Recht ist. Es ist, um bei Kant zu bleiben, „nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede“. Und dieses Recht stammt, anders als das sonstige Recht nicht aus der Gemeinschaft, sondern tritt ihr gleichsam von außen entgegen. Das Recht des Flüchtlings durchbricht die Logik, dass ein Staat seine Grenzen willkürlich regulieren kann, es beschränkt die Idee einer absoluten territorialen Souveränität. Es ist das eine weltbürgerliche Recht, und damit die radikale Behauptung, dass es überhaupt ein weltbürgerliches Recht gibt.
Natürlich wäre es ein Taschenspielertrick, die kosmopolitische Natur dieses Rechts allein mit Kants Drittem Definitivartikel begründen zu wollen. Zwar bindet die Genfer Flüchtlingskonvention Deutschland und die übrigen 144 Vertragsstaaten an das Prinzip des Non-Refoulement. Darin liegt aber zunächst eine Pflicht nach internationalem Recht wie in vielen anderen Fällen auch. Was also ist das Spezifische an dem Recht des Flüchtlings als dem kosmopolitischen Recht?
Die Regelung von Grenzen als eine politische Frage
Sicherlich nicht seine Durchschlagkraft, darüber kann auch Angela Merkels Beteuerung nicht hinwegtäuschen. Das Recht auf Asyl ist nicht nur wegen seines Umzugs von Art. 16 in Art. 16a GG alles andere als eine verlässliche Grundlage. Von dem Recht des Flüchtlings, nicht an der Grenze abgewiesen zu werden, bleibt in der Praxis oftmals nicht allzu viel, wenn man Rückführungsabkommen, Regelungen zu sicheren Herkunftsstaaten, vor allem aber den fehlenden Zugang zum Territorium mit in den Blick nimmt.
Dass das kosmopolitische Recht des Flüchtlings dennoch radikal ist, liegt weniger an den Folgerungen als an der Fragestellung, die es eröffnet. Als Ausnahme zu der Regel, dass Staaten frei über den Zugang zu ihrem Territorium entscheiden, unterbricht es die nationalstaatliche Logik – wenn auch nur für einen Moment, bis diese wiederum darüber entscheiden können, wie eng diese Ausnahme denn auszulegen sei. Doch auch unter diesen Bedingungen – und das scheint entscheidend – erlaubt es, die Frage, wie Grenzen geregelt werden dürfen, als politische Frage aufzuwerfen. Das heißt als Frage, die nicht einseitig festgelegt wird, sondern diskutiert und in Frage gestellt werden kann.
Hier liegt ein zentraler Punkt: Christoph Brendel überlegt, ob die Menschen, die überall in Europa für eine Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen auf die Straße gehen, sich wohl gleichzeitig auch noch als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger fühlen. Es geht ihm um exklusiven und komplementären Kosmopolitismus, in jedem Fall aber um die Einstellung der Demonstrierenden und sich Engagierenden. Mir ist ein bisschen weniger Staatsbürger-Gefühl nicht unsympathisch, aber ganz unabhängig davon scheint mir diese Frage reichlich nachrangig.
Eher sollten wir, wenn wir es mit solchen begrifflichen Unterscheidungen fassen wollen, den Kosmopolitismus dieser Tage als politischen im Gegensatz zum (nur) moralischen Kosmopolitismus zu verstehen. Denn es ist offensichtlich, dass es hier längst nicht nur um ein wenig mehr oder etwas weniger Großzügigkeit gegenüber den Ankommenden geht. In den divergierenden Haltungen zum Umgang mit Flüchtlingen artikulieren sich grundlegende politische Positionen zu der Frage, wofür Europa im 21. Jahrhundert stehen soll oder wie wir mit der wachsenden globalen Ungleichheit umgehen wollen. Vor allem aber äußern sich dazu nicht nur die Bürgerinnen und Bürger europäischer Staaten, sondern auch die Ankommenden selbst.
In den letzten Tagen haben wir erlebt, wie hunderte über Autobahnen marschierten, sich dagegen wehrten, in Lager gesperrt zu werden, und immer wieder forderten, selbst entscheiden zu können, wo sie Asyl beantragen. Die Flüchtenden äußern sich aber auch, indem sie kommen – trotz der immensen Gefahren der Überfahrt und trotz der teils völkerrechtswidrigen Praktiken, Boote zurückzuweisen. Dass sie trotzdem kommen, bringt etwas über die Welt zum Ausdruck. Hier wird sichtbar, worauf Kant 1795 bereits seine Idee des Weltbürgerrechts gründet: Nicht auf eine abstrakte Notwendigkeit, sondern schlicht auf die Tatsache, „dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“. Darin liegt das Radikale. Dass wir tatsächlich, längst schon, und in diesen Tagen deutlich spürbar, in einer einzigen Welt leben.
Großartig!
Frau Schmalz, was genau meinen Sie mit einem Recht, dass der Gemeinschaft von außen entgegentritt? Eine Art Naturrecht? Ist das Refoulement-Verbot nicht vielmehr aus der Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrages (vielleicht auch durch eine gewisse Staatenpraxis und die mit ihr korrespondierenden Rechtsüberzeugung) entstanden?
Hat der Staat (die Gemeinschaft) durch seine (ihre) Handlung (Vertragsunterzeichnung/Praxis) nicht willentlich bestimmt, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen Zugang zum Terriorium erhält?
Über eine Antwort würde ich mich freuen.
Vielleicht erläutert der Rejoinder – https://verfassungsblog.de/radikale-kosmopolitik-ein-rejoinder/#.VfmwpEJOPJE – Ihre Frage ein wenig? Ich halte das Weltbürgerrecht für den gedanklichen Horizont, vor dem diese konkreten Garantien, die natürlich Staats- oder völkerrechtlicher Natur sind, stehen.
“Ohne einen funktionierenden Staat und eine intakte Gesellschaft gibt es überhaupt kein Asylrecht für niemanden.” – Christoph Brendel
Und vermutlich brauchen wir noch mehr solcher “Events”, wie der vom vergangen Freitag in Paris, um diese Einsicht auch den Elfenbeinturm-Juristen nahe zu bringen.