VB vom Blatt: sechs Antworten von VALENTIN AICHELE zum BVerfG-Beschluss zum Wahlrecht von Menschen mit Behinderung
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Ausschluss von Menschen unter Betreuung und von Insassen der forensischen Psychiatrie von der Wahl zum deutschen Bundestag verfassungswidrig ist. Stellt Sie die Entscheidung zufrieden?
Ja, absolut. Das Bundesverfassungsgericht hat den Rechten von Menschen mit Behinderung, die von diesem Ausschluss betroffen sind, zu einem Durchbruch verholfen. Wir vom Deutschen Institut für Menschenrechte haben seit 2011 im Blick auf das Recht auf politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen dafür plädiert, diese zwei Sätze im Bundeswahlgesetz zu streichen und damit alle erwachsenen Deutschen mit Wohnsitz in Deutschland gleich zu behandeln – unabhängig von Art und Schwere einer Beeinträchtigung. Dem entspricht diese Entscheidung im Ergebnis heute voll. Beide Ausschlüsse wurden aufgehoben, insbesondere weil sie keine sachliche Grundlage haben. Im Betreuungs- bzw. Strafrecht, auf das sich beide Regelungen jeweils stützen, kann und soll überhaupt nicht geklärt werden, ob die Betroffenen am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen teilnehmen.
Könnte der Bundestag jetzt einen Ausschluss von Menschen mit Behinderung formulieren, der den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird?
Das Bundesverfassungsgericht gewährt dem Gesetzgeber einen „eng bemessenen Spielraum für Beschränkungen“. Es ist zunächst zu betonen: Eine verfassungsrechtliche Pflicht zu einem erneuten Regelungsversuch besteht also nicht. Damit hat das BVerfG offengelassen, ob der Gesetzgeber über die Streichung dieser beiden Sätze hinaus tätig wird. Ein Ausschluss kann gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht, heißt es im dritten Leitsatz des Beschlusses. „Kann“ heißt nicht „muss“.
Dass ein sauberes Kriterium für eine solche Personengruppe gesetzlich normiert werden könnte, möchte ich ernsthaft bezweifeln. Zweifelhaft ist überdies, wie dies – würde ein Kriterium festgesetzt – praktisch funktionieren soll. Sollen Gerichte in tausenden Fällen vor einer Wahl eine Prüfung vornehmen? Was soll geprüft werden? Wo fängt man an? Ab einem bestimmten Alter? Wir jedenfalls sehen kein wissenschaftlich fundiertes Kriterium, auf das sich so eine Unterscheidung stützen könnte, insbesondere ohne mit dem Diskriminierungsverbot in Konflikt zu kommen oder ohne in weitere fundamentalen Regelungswidersprüche hineinzugeraten.
Das heißt, es gäbe überhaupt keine Fallgruppe bei Menschen mit Behinderungen, für die sich ein Wahlrechtsausschluss noch rechtfertigen ließe?
Verfassungsrechtlich anerkennt das Gericht wie gesagt, dass der Gesetzgeber das Wahlrecht in engen verfassungsrechtlichen Grenzen gestalten darf. Dabei rückt das Gericht das Wahlrecht als Teilnahme an der Kommunikation zwischen Volk und Staatsorganen in den Vordergrund. Diesen Ansatz hat es in seiner Entscheidung zum Auslandsdeutschenwahlrecht entwickelt, jetzt elaboriert es ihn weiter. Mir ist wichtig, den Fokus weg von den Menschen und deren vermeintlichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten zu lenken und vielmehr auf die gesellschaftliche Umgebung zu richten. Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass Menschen etwa mit einer intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigung praktisch nicht deshalb an dieser Kommunikation nicht teilnehmen, weil sie es individuell nicht könnten, sondern weil da historisch gewachsene Hürden sind, weil ihnen Zugänge, etwa zu politischen Informationen und Bildung fehlen oder weil man diese Menschen mit ihrem Willen zur politischen Willensbildung nicht ernst nimmt und ihnen stattdessen mit Vorbehalten begegnet, mit denen man anderen Wählerinnen und Wählern nicht kommt. Gleichwohl es in den letzten Jahren der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention große Fortschritte gegeben haben mag, etwa bei der Information in Leichter Sprache, ist die politische Infrastruktur und politische Kultur immer noch nicht hinreichend darauf eingerichtet, auch diese Menschen in die demokratische Kommunikation hinreichend einzubinden. Das bekommt dann eine Wendung ins Perfide: Die Welt schließt diese Leute praktisch von diesem Kommunikationsprozess aus, indem sie nicht gruppen- oder personengerecht ist, dabei ganz viele Hürden errichtet und Zugänge verwehrt und wendet diese Umstände dann gegen sie, um ihnen das Wahlrecht zu entziehen – mit dem Hinweis, dass sie es nicht könnten. Ich würde mir wünschen, dass sich beim Wahlrecht diese falsche Fixierung auf die Fähigkeiten auflöst und man die Energie da reinsteckt, diesen Menschen die anderen Zugänge zu verschaffen und sie ggf. auch zu unterstützen, damit sie in den Kommunikationsprozess zwischen Staat und Volk endlich reinkommen. Denn die 84.000 betroffenen Menschen gehören genauso zum Staatsvolk wie alle anderen auch.
Also sollte auch jemand, der im Wachkoma liegt, wählen dürfen?
Woher wissen wir, dass jemand, der im Wachkoma liegt, an Kommunikation nicht teilnimmt? Warum sollte man dieser Person das Wahlrecht entziehen? Wenn sie nicht kommunizieren kann, dann wird sie halt nicht wählen. Es gibt viele Fälle, wo man Menschen ein Recht gibt, auch wenn sie es nie ausüben. Man würde ja auch jemandem, der niemals heiraten wird, nicht deshalb gleich das Recht dazu absprechen, es zu tun. Auch dann nicht, wenn er sich nicht bewusst gegen die Ehe entscheidet, sondern es einfach so ausbleibt. Aus der Nichtausübung eines Rechts – die „negative Freiheit“, die ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgt ist – einen Rechtsverlust abzuleiten, finde ich übermäßig. Anders wäre es höchstens, wenn es eine Wahlpflicht gäbe. Aber die gibt es nicht in Deutschland. Ich verstehe Wahlrechtsfreiheit so, dass wir auch frei sind, das Wahlrecht ohne Konsequenzen oder Sanktionen nicht auszuüben. Auch in dieser Freiheit sind Menschen mit Behinderungen zu anderen gleichzustellen.
Ein absolutes Diskriminierungsverbot von Menschen mit Behinderungen hat das Gericht in dieser Konstellation nicht erkannt. Bedauern Sie das?
In unserer Stellungnahme, die wir 2016 auf Einladung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren abgegeben haben und die mit dem heutigen Tage auf unserer Webseite auch abgerufen werden kann, haben wir argumentiert, dass das völkerrechtliche Benachteiligungsverbot sich dort, wo es um Staatsbürgerrechte geht, zum absoluten Diskriminierungsverbot erhärtet: Erwachsene Deutsche mit Wohnsitz in Deutschland sind formal gleich zu behandeln. Dass das Gericht uns da nicht gefolgt ist, bedauern wir natürlich. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Beim Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts hat es ja auch lang gedauert. Die Vorbehalte gegenüber einem Wahlrecht für Frauen waren am Anfang ganz ähnlich. Jetzt, 100 Jahre später, würde niemand mehr auf die Idee kommen, dass ein reines Männerwahlrecht heute noch zulässig sein könnte. Da ist für das Merkmal Behinderung noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Was bedeutet der Beschluss für die anstehende Europawahl im Mai?
Formell betrifft die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst einmal nur das Bundeswahlgesetz, das die Wahlen zum Deutschen Bundestag regelt. Das Gesetz zu den Wahlen zum Europäischen Parlament enthält aber wortgleiche Regelungen. Die Konsequenz aus dieser Entscheidung ist, dass auch sie verfassungswidrig und nichtig wären. Der Bundesgesetzgeber muss auch hier ein Änderungsgesetz verabschieden, um den 84.000 verfassungswidrig von der Wahl ausgeschlossenen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ob dazu rein praktisch die Zeit noch reicht, kann ich nicht beurteilen.
Viele welche nun vielleicht wählen können sollen, wissen unter Umständen weder genau, was Kommunikation, noch was ein Prozess sein können soll.
Ich möchte in eine Gruppe rein aber ich will nicht das ich entfernt werde