Europapolitik ist keine Geheimdiplomatie
Wie Regierung und Parlament in europapolitischen Angelegenheiten zusammenzuarbeiten haben, ist keineswegs eine ungeregelte Materie. Dafür gibt es ein ziemlich ausführlichen Gesetz. Das braucht man nicht mehr. Der Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute ein Urteil verkündet, das alles Wissenswerte zu dieser Zusammenarbeit direkt aus dem Grundgesetz ableitet. Da steht jetzt alles drin. Das vom Bundestag höchstselbst verabschiedete EuZBBG kann man eigentlich in die Blaue Tonne entsorgen.
Es ist schon immer spaßig zu beobachten, wie nahe Erhöhung und Demütigung des Parlaments immer beieinander liegen in der europapolitischen Rechtsprechung des BVerfG.
Das nur als Vorbemerkung. Zur Sache selbst: Die Bundesregierung, so der Senat, hätte den Bundestag in Sachen ESM und Euro-Plus-Pakt vorab umfassend informieren müssen. Dass es sich formell um völkerrechtliche Verträge außerhalb des Rahmens der EU gehandelt hatte, spielt keine Rolle. Denn beide sind so eng mit der EU verwoben, dass sie unter Art. 23 II 2 GG (“Angelegenheiten der Europäischen Union”) fallen.
Damit stellt das BVerfG klar, dass die “Unionsmethode” Angela Merkels, die Krise an den Gemeinschaftsinstitutionen vorbei durch intergouvernementelle Absprachen der Regierungschefs zu bekämpfen, nicht auf Dauer gestellt werden kann. Europa lässt sich nicht zu einem Feld der Exekutive umdeuten, ist keine Domäne der Diplomaten, wo Regierungen hinter verschlossener Tür verhandeln im Namen der Interessen ihrer jeweiligen Nationen. Sondern Europa ist ein Ort, wo Recht entsteht, das uns alle unmittelbar bindet. Was Deutschland da tut, gehört ins Plenum des Bundestags, und zwar nicht erst dann, wenn alles schon unter Dach und Fach ist. Vor allem, Stichwort Budgetverantwortung, wenn es um so viel Geld geht.
In bewährter Manier gründet der Senat dies nicht zuletzt auf das hohe Gewicht der Öffentlichkeit – nicht irgendeiner, sondern der parlamentarischen Öffentlichkeit:
Entscheidungen von erheblicher rechtlicher oder faktischer Bedeutung für die Spielräume künftiger Gesetzgebung muss grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen zu klären (…). Exemplarisch dafür ist, dass der Deutsche Bundestag auch in einem System intergouvernementalen Regierens die haushaltspolitische Gesamtverantwortung nach diesen Grundsätzen wahrzunehmen hat. Nach seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung muss der Deutsche Bundestag der Ort sein, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten.
Zwar gibt es auch in dieser Konstellation so etwas wie einen “Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung”, innerhalb dessen die Regierung sich von der Wissbegier des Parlaments unbehelligt bewegen darf. Aber als Anwendungsfall fällt dem Senat in diesem Kontext nur die interne Willensbildung der Regierung ein: Solange die Minister streiten, muss man noch nicht informieren, erst wenn sie sich einig sind. Ansonsten müssen sie informieren – wenn nötig, mit einer Vertraulichkeitserklärung.
Keine Rolle spielt dagegen das Argument, dass es die Verhandlungsposition in Brüssel schwächen könnte, wenn die eigene Position zu früh publik wird:
Verhandlungen im Vorfeld völkerrechtlicher Verträge, die auf eine Bindung der Bundesrepublik Deutschland zielen und Gesetzesqualität erlangen sollen, sind gegenüber dem Deutschen Bundestag von vornherein nicht geheimhaltungsbedürftig,
schreibt der Senat in wünschenswerter Klarheit. Wir dürfen, wir sollen sogar wissen, mit welcher Position Deutschland in Brüssel antritt. Damit aber nicht genug: Auch die Positionen der Kommission, des Parlaments und anderer Mitgliedsstaaten muss dem Bundestag offengelegt werden, sobald die Regierung davon erfährt, auf welchem Wege auch immer. Jedes Papier, das in der deutschen Vertretung in Brüssel jemand zugesteckt bekommt, muss auf den großen Verteiler, und zwar von Verfassungs wegen.
Mal sehen, ob das auch so praktiziert werden wird.
Öffentlichkeit
Das passt jedenfalls in die Linie des Zweiten Senats, exekutivische Gründe, das Parlament nicht zu informieren, so gut wie immer falsch zu finden, ob bei privatrechtlichen Verträgen oder bei Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Mir kommt dieses Beharren darauf, dass die Plenardebatte im Bundestag ein so unverzichtbarer Vorgang in einer lebendigen Demokratie sein soll, immer ein bisschen komisch vor, ehrlich gesagt. Dass das Plenum nicht der Ort ist, an dem das deutsche Volk in heißer Kontroverse seine Willens- und Meinungsbildung betreibt, das liegt doch für jeden, der jemals auf der Besuchertribüne Platz genommen und sich so eine Debatte angehört hat, völlig auf der Hand. Und das liegt allen antiparlamentarischen Vorurteilen zum Trotz nicht daran, dass die Abgeordneten keine Ahnung haben.
Die Öffentlichkeit insgesamt war eigentlich gar nicht so schlecht informiert, wie man glauben möchte. Der Sachverhaltsteil des Urteils liest sich fast komisch, weil dort aufgelistet ist, was alles an Informationen nach draußen drang: Mal hatte die Süddeutsche ein Papierchen, mal das Handelsblatt, mal der Spiegel. Und so erfuhr auch der Bundestag davon, um dann meist bei der Regierung nachzufragen, was es damit auf sich habe.
All diese Papiere, das weiß ich zufällig aus eigener Erfahrung, kommen nur selten durch investigativen Heldenmut der Medien ans Tageslicht, sondern meist, weil irgendein Insider ein taktisches Interesse daran hatte, das Papier einem Journalisten zu “stecken”, wie man so schön sagt – und sei es auch nur, etwas gut zu haben bei diesem Journalisten, damit der beim nächsten Mal was Nettes über einen schreibt.
Vielleicht ist das das eigentliche Verdienst der Entscheidung: Künftig muss die Regierung ihre Europa-Papiere dem Bundestag geben, was gleichbedeutend damit ist, dass die Medien sie haben. Das steigert die Transparenz der Europapolitik enorm und nimmt gleichzeitig dem “Stecken” von Papieren viel von seinem taktischen Wert. Und das ist bestimmt gut so.
Über Europa wird offener, informierter und umfassender diskutiert werden – von mir aus auch im Bundestagsplenum, aber jedenfalls in der Öffentlichkeit insgesamt. Darauf kommt es an, und deshalb ist dies eine bedeutende und gute Entscheidung.
Schöner Kommentar, aber schlimmes Foto: Deutschland besetzt England?
oder umgekehrt 🙂
Das Urteil war in der Form durchaus zu erwarten und man kann ihm in weiten Teilen auch zustimmen. Insbesondere der Betonung der parlamentarischen Öffentlichkeit kann ich einiges abgewinnen. Denn diese ist für die parlamentarische Opposition entscheidend, um Alternativen aufzuzeigen usw.; sie ist daher strukturell doch etwas anderes als die reine Medienöffentlichkeit (Die erbärmliche Lage der derzeitigen Regierungskoalition lässt dies zugegebenermaßen leicht in Vergessenheit geraten, da schon koalitionsintern genügend opponiert wird). Gänzlich euphorisch stimmt mich das Urteil dennoch nicht. Erstens bestätigt es noch einmal die dominante Rolle der Exekutive außerhalb von Art. 23 GG, also iRd Art. 24, 59 GG (Rz. 91). Die demokratische Heilsverkündung steht in diesem Bereich noch aus. Zweitens ist das Urteil hinsichtlich der Grenzen des Informationsanspruchs – Stichwort Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung – enger als die Regelung in § 4 I 2 EuZBBG. Danach ist nämlich gerade auch die interne Willensbildung der Bundesregierung vom Informationsanspruch umfasst. Sollte diese Norm nun verfassungswidrig sein oder der Gesetzgeber sie nun anpassen, wäre das Urteil aus der Sicht der Parlamentsrechte wohl nach hinten losgegangen. Auf die Reaktion Heribert Prantls wäre ich jetzt schon gespannt.
Die eigentliche Botschaft des Urteils steckt im Sachbericht – es handelt sich, wie Geyer es heute im FAZ-Feuilleton treffend beschreibt, um einen “Observationsbericht”. Nach der Lektüre des neutralen Berichts steht uns das Problem klar vor Augen und die Schlussfolgerung ergibt sich fast von selbst. Ihr solltet Euch aber nicht der Illusion hingeben, dass das Problem von der politischen Farbenlehre mitgeprägt ist – “die anderen” hätten ebenso gehandelt.