Ein Hoch auf das weltweit erfolgreichste Friedenssicherungs-Projekt ever!
Mir ging es wie vielen: Erst dachte ich WTF. Dann: Warum eigentlich nicht? Und dann: Fantastische Sache.
Gab es jemals auf der ganzen Welt ein erfolgreicheres Projekt der Friedenssicherung als die Europäische Union? Mir fällt keins ein. Ein Preis, zu dessen früheren Trägern so notorisch friedliebende Leute wie Theodore Roosevelt, Henry Kissinger, Yassir Arafat und Menachem Begin gehören, ist zwar nicht einschränkungslos ernst zu nehmen. Aber dass er in diesem Jahr an eine Organisation geht, die ihn verdient hat, scheint mir – einstweilen, s.u. – unbestreitbar.
Anders als Manuel Müller halte ich auch das “Friedensnarrativ” als Grund und Rechtfertigung für die europäische Integration mitnichten für veraltet. Das hört man immer wieder. 60 Jahre Frieden, das sei etwas für Adenauer-Nostalgiker und andere alte Knacker, aber heute seien wir doch ohnehin alle viel zu cool für gewalttätige oder gar militärische Konflikte.
Diese Art von herablassender Zuversicht scheint mir nicht besonders gut begründet. Natürlich denkt in Deutschland auch ohne die EU niemand mehr über Revanche am Erbfeind oder die Rückeroberung des Elsass nach. Aber erstens gibt es auch noch andere Gegenden in Europa, in denen durchaus noch der Boden voller scharfem irredentistischem Sprengstoff steckt, das Karpatenbecken beispielsweise. Und zweitens gelingt es mir durchaus, mir politische Interessengegensätze vorzustellen, die ohne bändigende supranationale Strukturen ganz schnell außer Kontrolle spiralen könnten.
Gerade in Demokratien ist für Politiker die Versuchung sehr groß, Interessengegensätze mit anderen Ländern nach Kräften zuzuspitzen und sie in Begriffen von Sieg und Niederlage darzustellen. Wer verspricht, dem Gegner die eiserne Faust zu zeigen, mobilisiert im Zweifel mehr Anhänger als der, der mit ihm über einen Kompromiss verhandeln will. Wer auf Härte setzt statt auf Kompromiss, folgt im Normalfall kühlem politischem Kalkül: So gewinnt man Wahlen, wie Mitt Romney und Mahmud Ahmadinedschad wissen.
Interessengegensätze, die diese politische Strategie ermöglichen, gibt es in Europa nicht mehr? Das stimmt genau so lange, wie es supranationale Strukturen gibt, um sie aufzufangen. Kaum war Dublin II kaputt, gingen Berlusconi und Sarkozy in der Frage der tunesischen Flüchtlinge mit Fäusten aufeinander los. Das hat natürlich mit Krieg nichts zu tun. Aber mit befestigten waffenstarrenden Grenzen und einer Außenpolitik des wechselseitigen Misstrauens sehr wohl.
Der schärfste und gefährlichste Interessengegensatz dieser Art ist der zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten im Euroraum. In Griechenland und womöglich auch in anderen südeuropäischen Staaten, aber durchaus auch bei uns entsteht gerade ein Maß an haßerfülltem Ressentiment, aus dem machtbewusste Politiker auch so schon mehr Kapital schlagen als uns allen lieb sein kann. Jetzt stelle man sich erst vor, Markus Söder bekäme seinen Willen und bräuchte beim Griechenbashing auf keinerlei gemeinsame EU-Bande mehr Rücksicht zu nehmen.
Das bezeichnet zugleich auch – und darin stimmen Manuel und ich wie gewohnt wieder völlig überein – die größte Herausforderung, die sich dem frisch gebackenen Friedensnobelpreisträger jetzt stellt. Die EU muss einen Weg finden, die Zahlungsbilanz-Ungleichgewichte auf eine Weise zu lösen, die diese Ressentiments nicht mehrt, sondern abbaut. Sie muss Griechen wie Deutschen einen Grund geben, zu glauben, dass ihnen hier nicht gewaltsam etwas weggenommen wird, sondern ein gemeinsames Problem gemeinsam gelöst wird. Mit anderen Worten: Sie muss sich demokratisieren.
Misslingt ihr das, könnte sie, wie schon der Preisträger 2009, in einigen Jahren als ein weiteres Beispiel dafür herhalten müssen, dass man den Friedensnobelpreis nicht recht ernst nehmen kann.
Foto: Perry French, Flickr Creative Commons
Karpatenbecken: Point taken. Sicher, es gibt nicht nur auf dem Westbalkan (von dem ich geschrieben habe), sondern auch in einigen der heutigen EU-Mitgliedstaaten noch scharfe nationale Ressentiments, die es zu überwinden gilt. Aber folgt man der These vom “demokratischen Frieden”, dann würde es für die Verhinderung militärischer Konflikte durchaus genügen, wenn alle europäischen Staaten Demokratien sind. Dass alle europäischen Staaten Demokratien sind, ist natürlich mit der EU zu verdanken. Aber den ganzen supranationalen Überbau damit rechtfertigen zu wollen, erscheint mir eine ziemliche Überfrachtung: Letztlich spielt man damit argumentativ nur den Intergouvernementalisten in die Hände, die die EU am liebsten auf eine Freihandelszone mit ein paar demokratisch-rechtsstaatlichen Mindeststandards für die Mitgliedstaaten und regelmäßigen zwischenstaatlichen Konferenzen reduzieren würden.
Mein eigentlicher Punkt war ja, dass die EU inzwischen mehr ist als ein Friedensprojekt. Auch das deutsch-griechische Bashing wird wohl in absehbarer Zeit nicht in eine militärische Auseinandersetzung ausarten. Aber darum geht es auch gar nicht: Das entscheidende politische Thema der Eurokrise ist doch vielmehr, wie die europäische Gesellschaft organisiert sein soll, wie große Unterschiede in den Lebensverhältnissen wir zu akzeptieren bereit sind und ob Bürger in der Peripherie dieselben demokratischen Teilhaberechte besitzen sollten wie die Bürger im Zentrum des Kontinents.
Nun kann man (wie Eric Bonse) von “struktureller Gewalt” sprechen und auf diese Weise den Unterschied zwischen den Konzepten “Frieden” und “Demokratie” einebnen. Mir soll es recht sein – dass zwischen beidem ein Zusammenhang besteht, merkt man spätestens, wenn es in Athen nach Tränengas riecht. Aber wenn man mich fragen würde, was die größte Leistung und das wichtigste Ziel der europäischen Integration ist, dann würde mir heute (anders als vor fünfzig Jahren) nicht als Erstes die Befriedung des Kontinents einfallen, sondern die Schaffung einer supranationalen Demokratie.
Hm, die Software scheint den Hyperlink auf den Bonse-Artikel nicht lesen zu können. Ich meinte diesen hier: http://lostineurope.posterous.com/ein-gewaltverhaltnis
Man kann durchaus froh und dankbar über die EU sein und ihr ein langes Leben wünschen, aber die Fehlentwicklungen der letzten 20 Jahre trotzdem kritisieren.
Natürlich hat die EU ihre Verdienste. Für mich ist der Preis für eine Institution, die Flüchtlinge misshandelt und die eigene demokratische Legitimation ständig untergräbt, sehr fragwürdig. Schade, es diskreditiert den Friedensnobelpreis. Meine Meinung dazu: http://blog.jens-bertrams.de/2012/10/meine-personliche-dankesrede-fur-den-friedensnobelpreis-2012/
@Manuel: och, die Theorie vom demokratischen Frieden hat doch stark an Evidenz verloren, seit sie nicht mehr dazu herangezogen werden kann, sich den Irakkrieg schönzulügen. Natürlich ist die EU mehr als ein Friedensprojekt, das steht ja außer Frage. Sie ist auf dem Weg zu einer supranationalen Demokratie, aber noch nicht am Ziel, und ob sie ans Ziel kommt, remains to be seen. Einstweilen aber ist sie als Friedensprojekt jedenfalls schon mal in hohem Maße preiswürdig, und zwar ganz aktuell und nicht wegen irgendwelcher Nachkriegsgeschehnisse vor 50 Jahren.
Die Europäische Union is ein Produkt bzw. ein Zwischenprodukt der Anstrengungen vieler Leute und einiger Länder, deren Interessen natürlich sehr unterschiedlich waren und noch sind.
Daher verstehe ich die diesjährige Preisvergabe nicht, denn nach dieser Logik müsste man dem Quatentencomputer den Preis für die förderung der internationalen Forschung statt den ersten Ideenträgern den Preis übergeben. Zudem hat nach deren Logik eigentlich die Menschheit alle vergangenen und zukünftigen Nobelpreise verdient.
Klar ist es schwierig eine einziges und eine kleine Gruppe von Individuen zu finden, die in allen Augen so einem Preis gerecht werden, wo doch so viele bei der Umsetzung dieses Projektes teilgenommen haben. Doch deswegen darf das Komitee doch nicht irrational handeln, sonst entwürdigt sie den Preis wie schon einmal bei der Vergabe an Obama.
Auch wenn die EU keine Vorgeschichte hätte und aus dem nichts entstanden wäre, so zeichne man doch die Gründerväter aus und nicht die entstandene Vereinigung aus, die möglicherweise mehrheitlich dem Projekt ignorant, defensiv oder sogar feindlich steht.
Selbst der Spiegel konnte in kurzer Zeit eine recht gute Alternative finden: http://www.spiegel.de/politik/ausland/kommentar-friedensnobelpreis-besser-fuer-jacques-delors-statt-eu-a-860932.html
der link auf die hasserfüllten ressentiments hierzulande ist vielleicht etwas schlecht gewählt. da steht von hass nichts drin. das war in dieser zeitung nicht immer so, aber das ist doch ein recht gemäßigter artikel über – fraglos – dämliche nazikostüme griechischer demonstranten.
ansonsten würde ich einfach mal behaupten, dass es der erste friedensnobelpreis nicht für taten, sondern für die bloße existenz des geehrten ist. denn das ist ja die – von jens bertrams in der oben verlinkten laudatio übersehene – pointe der europäischen union: die solidarität der tat (bzw. solidarité de fait bzw. de facto solidarity), nach der der frieden gerade nicht selbständig erstrebt werden muss, sondern (neben-)produkt gerade der interessenpolitik sein kann/soll.
Das nachvollziehbare Motiv dieser Erzählung des schwedischen Friedenspreises ist in dem friedensstiftenden Moment der Integration leicht ausgemacht. Man könnte in diesem Zusammenhang zwar vieles anführen, was die Auszeichnung konkret in Frage stellt (insbesondere die Frage, ob ein im Selbstverständnis staatsähnliches Gebilde einen solchen Preis erhalten sollte). All das vermag sehr unterschiedlich beurteilt werden. Ich möchte daher nur auf einen Aspekt hinweisen, der in Auseinandersetzung mit dem Preis (wohl intendiert) immer wieder angesprochen wird und den „Krisendiskurs“ konstant begleitet:
Das friedensstiftende Narrativ als Appell an das Denken in der Gegenwart. Dies ist als Vergegenwärtigung natürlich völlig unproblematisch. Zum Problem wird es erst in dem Moment, wo Gefahren und Risiken künftiger politischer Gestalt der Union auf eine trivialisierte Alternativität gezwängt werden, die in der Vorstellung von rückwärtsgewandten nationalem Gebaren mit Kriegsgefahr oder postnationalem Frieden besteht. Die Erfolgsgeschichte der Union ist (anders als dies wohl auch Habermas im Sinne einer Durchgangsetappe auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft erhofft) keine lineare Entwicklung, die Gesetzmäßigkeiten gehorcht (mehr Integration als Versprechen auf mehr Sicherheit oder Frieden). Die Zukunft ist niemals eine lineare Projektion der Gegenwart. Der Glaube hieran kann aber gefährliche Einflüsse ausüben, insbesondere wenn er als Risiko rechtstaatliche und demokratische Kollateralschäden in Kauf nimmt.
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Wenn es die EU nicht geben würde wäre ich meinem französischen Nachbarn sicher längst an die Gurgel gegangen. Und der Italiener ausm Cafe hätte dem Briten, der zum Cappuccino trinken kommt sicher längst erstochen. Danke EU. Ohne EU wäre wir alles kriegslüsterne Militaristen, Tötungsmaschinen, Killer, auch ohne Ego Shooter. LOL