Krisen als Normalität
Es gibt in Krisenzeiten wenig Verlässliches. Doch auf eines kann man immer zählen: Irgendwann, und meistens früher als später, fällt der Begriff der Ausnahme oder einer seiner zahlreichen Verwandten. Hierzu gehört vor allem die große Schwester der Ausnahme: der Ausnahmezustand. Da unterscheidet sich die Corona-Krise nicht von der Eurozonenkrise, die Eurozonenkrise nicht von der globalen Finanzkrise und diese nicht von der durch die Terroranschläge vom 11. September ausgelöste Sicherheitskrise. Auch wenn wir über den Corona-Virus selbst nicht viel wissen, scheint vieler Orten Gewissheit darüber zu herrschen, dass wir derzeit im Ausnahmezustand leben.
Natürlich kann man das Ungewöhnliche als Ausnahmezustand bezeichnen – das, was nicht sein soll und was bald wieder zu verschwinden hat, weil es von der Normalität, die quasi über Nacht vom Verdikt der Langweile befreit wurde, abweicht. Gewonnen ist damit nichts. Die Gründe hierfür sind vielfältig: der Begriff polarisiert; er erklärt nichts; er rechtfertigt nichts; er verleitet zu vereinfachenden Erklärungen; er hilft im falschen Moment das Falsche fortzuschreiben und er erlaubt es Juristen und Juristinnen, sich über das vermeintliche Primat des Nicht-Rechtlichen in Krisenzeiten zu echauffieren, um sich dann, nach Überwindung der Krisen, gegenseitig der ordnenden Funktion des Rechts und seiner Macht über die tatsächlichen Verhältnisse zu vergewissern. Außerdem verschleiert die binäre Unterscheidung zwischen Normalität und Ausnahme, dass das, was in Krisenzeiten mit und im Recht passiert, nicht grundsätzlich anders ist als in Nicht-Krisenzeiten.
Dass der Begriff des Ausnahmezustandes polarisiert, dürfte niemanden überraschen. Häufig soll er das ja auch. Schließlich verbindet man mit dem Ausnahmezustand unweigerlich den Namen Carl Schmitt. Man hat den Eindruck, dass diejenigen, die sich in Krisenzeiten auf den Ausnahmezustand berufen, damit vor allem ihr Image als knallharte Realisten unter Beweis stellen wollen – im englischen würden man wohl den Begriff badass verwenden. Für die juristische Zunft kommt noch der pubertäre Reiz des Verbotenen hinzu. Schließlich ging es Schmitt um nichts weniger als die vollständige Suspendierung der Rechtsordnung. Souverän ist, wer diese Entscheidung trifft. Auch wenn Schmitt das meines Wissens nicht ausdrücklich gesagt oder geschrieben hat, so muss man doch davon ausgehen, dass es dabei nicht um ein rechtliches Dürfen, sondern ein faktisches Können geht. Denn in der Umsetzung bedeutet Suspendierung der Rechtsordnung letztlich nichts anderes, als mit Macht, d.h. Gewalt und ohne die Fesseln des Rechts die tatsächliche Ordnung wiederherzustellen. Ist dies erst einmal gelungen, kann die Rechtsordnung erneut in Kraft gesetzt werden, wobei es Schmitt jedoch primär um die Möglichkeit ging, dass eine neue Rechtsordnung etabliert wird. So etwas nennt man gemeinhin einen Putsch.
Was wir derzeit erleben ist kein Schmitt’scher Ausnahmezustand. Vielmehr macht der Staat von bestehenden Eingriffsbefugnissen Gebrauch und legt diese angesichts der Krisenerfahrung extensiv aus. Auch dieses Phänomen kennen wir aus früheren Krisen. In Anbetracht der sich verändernden tatsächlichen Verhältnisse werden bestehende Befugnis-oder Kompetenznormen extensiver bzw. anders ausgelegt. Der Streit um die Maßnahmen der EZB in Reaktion auf die Eurozonenkrise muss als Beispiel hier genügen. Auch in diesem Zusammenhang wird häufig die Ausnahmerhetorik bemüht – entweder als Rechtfertigung oder als Warnung, weil das Recht dabei sei, seine Steuerungsfunktion zu verlieren, und wir keine Macht mehr über die Verhältnisse hätten, sondern diese über uns. Dabei sind auch solche Situationen kein spezifisches Krisenphänomen. In Krisen- wie in Nicht-Krisenzeiten werden Normen aufgrund sich verändernder tatsächlicher Verhältnisse neu und damit anders als bisher ausgelegt – und zwar nicht nur durch die politischen Akteure, sondern auch durch Gerichte. Dieser Wandel vollzieht sich in Nicht-Krisenzeiten nur langsamer, ohne ein prinzipiell anderer zu sein. Das gilt auch für die häufig anzutreffende These, dass es in Krisen von Seiten der Regierung zu systematischen Rechtsbrüchen käme. Natürlich sind wir vor Rechtsbrüchen in Krisenzeiten nicht gefeit, auch nicht vor gravierenden. Aber auch der Rechtsbruch, selbst der gewollte Verfassungsbruch, sind kein Krisenphänomen, sondern politischer Alltag. Hinzu kommt, dass ein Großteil der vermeintlich systematischen Rechtsbrüche in Krisenzeiten nichts anderes sind als Neuinterpretationen bestehender Normen. Diese werden häufig erst dadurch zum systematischen Rechtsbruch, weil man das Ergebnis ablehnt.
Eine abgemilderte Version des Ausnahmezustandes ist der aus dem römischen Recht überlieferte Grundsatz, die Not kenne kein Gebot, der in umfassenden Notstandsbefugnissen und der Konstruktion eines übergesetzlichen Notstandes seine rechtliche Einhegung findet. Nun ließe sich lang und breit über den Sinn und die Zweckmäßigkeit von Notstandsregelungen zur Krisenbekämpfung diskutieren. Allerdings ist auch hier zu beobachten, dass sich ihr Verständnis den jeweiligen Krisenerfahrungen anpasst. Insofern ist es auch nur begrenzt sinnvoll darüber zu debattieren, ob die Not nun ein Gebot kenne oder nicht. Im Rechtsstaat ist das selbstverständlich, gerade wenn man, wie das Grundgesetz, über sehr ausdifferenzierte Notstandsregelungen verfügt. Dass man Innenminister regelmäßig an diese Erkenntnis erinnern muss, gehört zu Skurrilitäten einer jeden Krise. Dass die Not nun sehr wohl Gebote kennt, heißt jedoch nicht, dass die Auslegung und Anwendung von Normen und die Gewichtung betroffener Rechtsgüter sich nicht verändern könnte, d.h. die Antwort auf eine Rechtsfrage kann in der Krise eine andere sein als in Nicht-Krisenzeiten oder, überspitzt formuliert, ein Verhalten, das vorher rechtswidrig war wird nun rechtmäßig. Das hat jedoch nichts mit Ausnahme und Notstand zu tun, sondern mit einer geänderten Faktenlage.
Warum also die Ausnahme? Häufig dient sie der Selbstvergewisserung. Die Konstruktion eines prinzipiellen Unterschieds zwischen Normalität und Ausnahme ist die Grundlage dafür, sich mit dem, was im Ausnahmezustand passiert, aus juristischer Perspektive nicht auseinandersetzen zu müssen. Die vermeintlichen Krisenphänomene werden externalisiert und erlauben die Aufrechterhaltung eines idealisierten Rechtsverständnisses, das für sich in Anspruch nimmt, die tatsächlichen Verhältnisse zu prägen, statt von ihnen geprägt zu werden. Damit bleibt man aber in binären Erklärungsmustern verhaftet, für die die Rechtswissenschaft ohnehin eine erstaunliche Affinität besitzt, wahrscheinlich weil sie auf der Unterscheidung zwischen rechtmäßig und rechtswidrig basiert. Denn auch hier bestätigt das Verdikt der Rechtswidrigkeit das Recht, und genau diese Funktion erfüllt regelmäßig die Ausnahme. Letztlich geht es jedoch um die Frage, ob und wie wir Wechselbeziehungen zwischen dem Verständnis von Rechtsnormen und sich ändernden tatsächlichen Verhältnissen erklären können.
Sich darauf gedanklich einzulassen, setzt allerdings voraus, die These, dass Recht allein die tatsächlichen Verhältnisse prägt und diese keinen Einfluss auf das Recht haben, zu relativieren. Warum? Weil sie tatsächlich nicht stimmt und zwar sowohl in Krisen als auch in Nicht-Krisenzeiten. In letzteren fällt es allerdings weniger auf. Die tatsächlichen Verhältnisse haben immer Rückwirkungen auf den Inhalt und das Verständnis von Normen, d.h. sie spiegeln die Normalitätsvorstellungen wider, die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder ihrer ersten Auslegung vorherrschten. Ändern sich diese Normalitätsvorstellungen oder werden sie durch Krisen in Frage gestellt, so hat dies natürlich Auswirkungen auf den Inhalt der Norm.
Wer darin eine Bedrohung der Eigenständigkeit des Rechts erblickt, verkennt, dass es diese Eigenständigkeit außerhalb der rechtswissenschaftlichen Fakultäten nie gegeben hat. Es handelt sich mithin um ein idealistisches Bild von dem, was Recht ist und leisten kann – um ein an das Recht als Sollens-Ordnung formuliertes Sollen. Dieses Bild lässt sich in Nicht-Krisenzeiten mit einiger Anstrengung aufrechterhalten, nicht jedoch in der Krise selbst und in Bezug auf deren langfristige Auswirkungen auf Recht. Statt nun die Krise zur Ausnahme zu erklären, täten wir gut daran, unsere Erwartungen daran, was Recht generell leisten kann, anzupassen. Das verhindert nicht nur, dass wir in jeder Krise aufs Neue vom Recht enttäuscht werden. Es ermöglicht uns auch, Forderungen nach der Konzentration von Macht in Krisenzeiten, wie wir sie gerade in Ungarn, Polen aber auch Israel erleben, zurückzuweisen. Krisen sind keine Ausnahmen zu einer ansonsten bestehenden Normalität. Sie sind vielmehr Ausdruck und Katalysator von Veränderungs- und Anpassungsprozessen und zwar auch in Bezug auf den Inhalt bestehender Rechtsnormen.
Sehr geehrter Herr Finke,
haben Sie vielen Dank für diesen schönen Beitrag, der die aus meiner Sicht mittlerweile z.T. etwas aus dem Ruder geratene Diskussion – gerade auch hier auf diesem sonst von mir sehr geschätzten Blog – wieder ein wenig “erdet”. (Das gilt im Übrigen auch für den nicht minder gelungenen vorangegangenen Beitrag von Frau Schönberger v. 29.3.) Zutreffend gehen Sie davon aus, dass das Recht ein “atmendes System” ist, das nicht ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit existiert. Ich sehe auch nicht, dass die gegenwärtigen Maßnahmen den Weg in autokratische Verhältnisse ebnen. Das soll Kritik im Detail nicht abwürgen – wobei so manche Detailkritik im Angesicht des Ausmaßes der Krise (und der erheblichen, konkreten Bedrohung einer Viezahl insbes. besonders vulnerabler Personen) für mich zumindest einen gewissen “Geschmack” hat. Mir scheint jedoch der in der Diskussion mitunter zu verzeichnende Hang ins Grundsätzliche, Theoretisierende (z.T. unter Bezugnahme auf fragwürdige historische Parallelen) maßlos übertrieben. Deutschland ist (aktuell) nicht Ungarn. Ich nehme überwiegend verantwortungsbewusste Politiker nahezu jeglicher politischer Couleur wahr, denen es m.E. ebenfalls ersichtlich nicht darum geht, dauerhaft die Machtverhältnisse in Deurschland in Richtung der Exekutive zu verschieben. Es geht momentan schlicht darum, so gut es geht Leben zu schützen – um möglichst bald wieder zur “Normalität” zurückkehren zu können. Wie auch in der “Flüchtlingskrise” rate ich v.a. zu einem: Empathie mit den besonders Schutzbedürftigen.