Wir schaffen das
Fünf Jahre ist die letzte große europäische Krise in diesem Sommer her, und ihre Historisierung ist in vollem Gange. Im deutschen Fernsehen gab es letzte Woche einen bemerkenswerten Film zu sehen, der den Flüchtligssommer 2015 als Doku-Fiktion dramatisiert, als Geschichte einer Kanzlerin, die unter immensem, durch die Machenschaften ehrgeiziger Männer um sie herum (Orbán, Seehofer, Söder, Gabriel, Romann, Maaßen) ins nahezu Unerträgliche gesteigertem Druck Entscheidungen treffen muss: Die Opfer des syrischen Bürgerkriegs, Frauen, Männer, Kinder, mit Polizeigewalt von der Grenze wegknüppeln – schaffen wir das? Nein, das schaffen wir nicht. Sie reinlassen und ihnen hier Schutz gewähren? Ja. Wir schaffen das.
Überraschend an dem Film ist, dass er den Geschehnissen einen radikal anderen Spin versetzt als das Buch, das er angeblich verfilmt. Robin Alexanders 2018 erschienener Bestseller „Die Getriebenen“ hatte die Geschichte so erzählt, als sei die Entscheidung eigentlich durch das Recht und den Rat des Sicherheitsapparats bereits vorgegeben gewesen, und als habe sich die Kanzlerin nur aus Furcht vor „hässlichen Bildern“ geweigert, sie zu exekutieren. (Zur Widerlegung der Rechtsbruchthese, an der dieser Spin aufgehängt ist, haben Stephan Detjen und ich ein eigenes Buch geschrieben.) Mit dieser Erzählung hat Robin Alexander, heute stellvertretender Chefredakteur der WELT, jene Mischung aus „Merkel = schwach“ und „Merkel = Diktatur“ anrühren geholfen, von der sich AfD und Pegida bis heute nähren.
Szenen wie die aus Mailand und Bergamo zu vermeiden, sei das “schlichte und gleichzeitig so anspruchsvolle Ziel der Bundesregierung”, hat die Kanzlerin gestern in ihrer Regierungserklärung gesagt. Ein zusammenbrechendes Gesundheitssystem, in dem massenhaft Menschen elend und unnötig zugrunde gehen – schaffen wir das? Nein, das schaffen wir nicht. Masken aufsetzen, zuhause bleiben, Distanz wahren, zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung wahnsinnig werden, die mühsam aufgebaute Firma zusammenbrechen sehen, unbesucht und einsam im Altenheim sterben? Ja. Es ist entsetzlich, aber wir schaffen das. Wie 2015 stehen die gleichen Leute parat und fordern mit heroischer Geste, Leib und Leben anderer Menschen zu opfern, um ihnen die Zumutung dieses Das-Schaffen-Müssens zu ersparen. Anders als 2015 verfängt das aber kaum, weil sie dieser Forderung diesmal keine rassistische Unterscheidung zwischen den Eigenen und den Fremden einziehen können. Es sind alte weiße Männer, für die wir uns das alles zumuten.
Das starre Optimierungs-Auge
Die protestantische Pflichtethik, die die Pastorentochter im Kanzleramt predigt, mag vielen auf die Nerven gehen. Dauernd müssen wir etwas schaffen, an unserer eigenen Vervollkommnung arbeiten, uns disziplinieren und streng gegen uns selbst sein. Wie verlockend erscheint da im Kontrast doch die rheinisch-katholische Durchwurstelei, das Verschieben der Abrechnung auf einen anderen Tag, weit genug entfernt, damit das Leben hier und jetzt ein angenehmes bleibt. Ein Dach wird über uns errichtet, das uns fehlbare Sterbliche vom kalten starren Optimierungs-Auge des Herrn abschirmt und uns einen Raum bereitet, in dem es sich leben lässt, anstatt sich immer nur aufs Sterben vorzubereiten, hübsch geschmückt mit Barockengelchen an der Decke, auch und gerade in der Stunde höchster Not. Es hat schon nicht nur mit dem Wetter zu tun, dass die Bewohner_innen von evangelischen Ländern lieber in katholischen Ländern Urlaub machen als umgekehrt. (Sage ich als in der bayerisch-katholischen Diaspora aufgewachsener Protestant.)
Jenseits aller konfessionellen Prägungen bringt die Pandemie eine ganz eigene Gefahr mit sich – die einer asketisch-autoritären “Tyrannei des Ziels” (Alexander Somek), die jede_r Einzelnen sein Äußerstes abverlangt um eines gemeinsamen Zieles willen, dem man immer nur näher kommen und das man nie ganz erreichen kann: dass keine_r mehr stirbt. Eine solche Tyrannei würde errichten, wer sagt: Niemand soll mehr sterben, und was immer jede_r Einzelne von uns für dieses Ziel tun kann, ist sie uns allen schuldig. Alle sitzen diszipliniert und starr vor Angst, angestarrt vom kalten Optimierungs-Auge des unsere Kontakte trackenden Sicherheitsstaates, vereinzelt in der eigenen Wohnung und im eigenen kleinen Zoom-Fenster eingesperrt.
Aber das ist es gottlob nicht, was die Bundesregierung sagt. Sie sagt: Dies schaffen wir nicht. Das hingegen schon. Dies schaffen wir, um jenes abzuwenden. Dies bleibt zu jenem in einem Verhältnis, über das man diskutieren und sich streiten kann und an dem sich alle Ge- und Verbote messen lassen müssen.
Solange das so ist, macht mir vergleichsweise wenig bange, dass jetzt China und andere autoritäre Regimes behaupten, den Systemwettbewerb mit den liberalen Demokratien gewonnen zu haben. Das wollen wir doch mal sehen. Wir schaffen das.
Europa
Zu der Krise vor fünf Jahren wäre es nicht gekommen, hätten Deutschland und seine Kanzlerin es sich nicht zuvor jahrelang in der Binnenposition ohne EU-Außengrenzen bequem gemacht und es das Problem der Mittelmeeranrainern sein lassen, Asyl für Geflüchtete zu “schaffen”. Und dass jetzt die aktuelle Krise und die mit ihr verbundenen Solidaritätslasten die ganze Europäische Union auseinander zu sprengen drohen, wäre womöglich auch leichter zu schaffen, hätte Deutschland sich nicht jahrelang allen Vorstößen für eine strukturell krisenfestere Eurozone verweigert. Das ist die Kehrseite von Angela Merkels “Wir-schaffen-das”-Medaille: An dem, was es da jetzt zu schaffen gilt, ist sie mitnichten unschuldig.
Am Donnerstag gab es einen weiteren Video-Gipfel der EU-Regierungschefs, um zu klären, was das Gebot der Solidarität in Europa in der gegenwärtigen Krise den unterschiedlich hart getroffenen Mitgliedstaaten abverlangt. CHRISTIAN CALLIESS schlägt vor, zwischen drei Stufen zu unterscheiden: kurzfristig Geld aus dem EU-Haushalt, wo es zur Abfederung des Schocks nötig ist, mittelfristig konditionierte ESM-Hilfen, langfristig und nach der Einführung entsprechender Kontrollkompetenzen für die EU Corona-Bonds.
Kaum weniger große Gefahr droht der EU durch den Konflikt mit Mitgliedstaaten, deren Regierungen die Krise als Gelegenheit nutzen, sich vor das Risiko, eines Tages demokratisch wieder abgewählt zu werden, endgültig vom Hals zu schaffen. Von Polen und Ungarn ist die Rede. Dass die ungarische Regierung verbreitet, ihr Notstandsregime sei überhaupt nichts ungewöhnliches und eben nur ein Notstandsregime, ist nicht weiter erstaunlich, wohl aber, dass Vera Jourová, die zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, diesen Beteuerungen Glauben zu schenken scheint. GÁBOR HALMAI und KIM LANE SCHEPPELE listen ein paar aufklärende Erkenntnisse über die ungarische Realität dieser Tage auf.
Auch die multipolare Weltordnung war schon vor der Corona-Krise bedroht, die aber wie überall wie ein Brandbeschleuniger wirkt: US-Präsident Trump schlägt auf die Weltgesundheitsorganisation WHO ein, um China zu treffen. ARMIN VON BOGDANDY und PEDRO VILLAREAL untersuchen die schwierige Balance, die die WHO zwischen ihrer Abhängigkeit von den Mitgliedstaaten und ihrer Aufgabe, den globalen Kampf gegen die Seuche effektiv zu steuern, finden muss und fordern Deutschland und Europa auf, stärker für den Multilateralismus in der Gesundheitspolitik in die Bresche zu springen.
Soweit meine kleine Auswahl für diese Woche. Ich hatte, wie Sie vielleicht bemerkt haben, mit einem täglichen Newsletter als Überblick über unsere Produktion auf dem Verfassungsblog experimentiert, aber das hat nicht funktioniert. Ich will niemanden zuspammen. Wir arbeiten an einer Lösung.
Ansonsten empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit noch unseren Krisenpodcast Corona Constitutional, mit FRANZ MAYER zum Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, mit DAVID DRIESEN zur Rolle des US Supreme Courts, mit TAMAR HOSTOVSKY BRANDES zu den jüngsten Entwicklungen in Israel und mit CORA CHAN zum Crackdown der chinesischen Zentralregierung in Hongkong.
Mir bleibt noch, denjenigen zu danken, die uns auf Steady unterstützen, was unendlich wertvoll ist. Unsere Paypal-Adresse ist paypal@verfassungsblog.de und unsere Kontonummer IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, und wenn Ihnen unsere Arbeit etwas wert ist, dann bitten wir um eine entsprechende Zuwendung. Vielen Dank und alles Gute!
Ihr
Max Steinbeis
„Zu der Krise vor fünf Jahren wäre es nicht gekommen, hätten Deutschland und seine Kanzlerin es sich nicht zuvor jahrelang in der Binnenposition ohne EU-Außengrenzen bequem gemacht und es das Problem der Mittelmeeranrainern sein lassen, Asyl für Geflüchtete zu “schaffen”.“
Wenn also Deutschland 2010-2014 Flüchtlinge, die in diesen Jahren in Griechenland oder Italien angekommen waren, in größerer Zahl aufgenommen hätte, dann wären die 900.000 Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen, gar nicht nach Deutschland gekommen?
Wie hätte sich die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland in den Jahren 2010-2014 auf das Verhalten der Flüchtlinge des Jahres 2015 ausgewirkt? Wäre Frankreich 2015 bereit gewesen mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wenn Deutschland in den Vorjahren mehr Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufgenommen hätte? Für die steile These von MS hätte ich mir ein paar zusätzliche Ausführungen gewünscht.
@Weichtier: Wenn ich “MS” richtig interpretiere, geht es ihm um einen anderen Punkt: nämlich nicht darum, ob Deutschland 2010-14 mehr oder weniger Geflüchtete hätte aufnehmen sollen (allerdings in der Tat mittelbar letztlich wohl mehr); sondern darum, dass Deutschland vor 2015/16 nach Meinung vieler Beobachter wenig Interesse daran gezeigt hat, einen EU-internen, Solidaritäts-basierten Verteilungsmechanismus zu schaffen. So gesehen scheint mir die These dann auch gar nicht so “steil” zu sein.
In meiner Erinnerung ist die Schaffung eines Verteilungsmechanismus in 2015 und danach krachend gescheitert. Und in den Jahren davor wäre das möglich gewesen? Ohne den Druck der großen Zahl der Flüchtlinge? Weil den Politikern, die 2015ff. die Schaffung eines Verteilungsmechanismus ablehnten, früher dafür waren? Weil ihnen bei geringeren Flüchtlingszahlen die Phantasie gefehlt hätte, sich vorzustellen, was ein Verteilungsmechanismus bei hohen Flüchtlingszahlen bedeuten würde?
MS formuliert es so, dass eine andere Haltung Deutschlands (und seiner Kanzlerin) vor 2015 eine hinreichende Bedingung für eine Krisenvermeidung gewesen wäre.
Für mich bleibt die These von MS „steil“. Unabhängig davon, ob auf die Aufnahme von Flüchtlingen vor 2015 abgestellt wird oder auf die Schaffung eines Verteilungsmechanismus (wenn sich Deutschland nur dafür eingesetzt hätte).