Auf der Suche nach der europäischen Solidarität in der Corona-Krise
Von Corona-Bonds zum Europäischen Finanzminister?
In der Corona-Krise wird von vielen Politikern und Kommentatoren europäische Solidarität beschworen. Überzeugende Argumente werden angebracht, aber mitunter auch unbedacht hohe Erwartungen formuliert, die mit der Dramaturgie eines Scheiterns der Europäischen Union (EU) untermauert werden. Gemeinschaftliche Anleihen in Form von „Corona-Bonds“ werden zu einem unverzichtbaren Symbol für europäische Solidarität stilisiert. Zugleich wird das pragmatische Solidaritätspaket der in der Eurogruppe versammelten Finanzminister vom 9. April 2020, das sich im Interesse schneller Hilfe in rechtliche Grauzonen vorwagt, ohne näheres Hinsehen klein geredet und die Rolle der Europäischen Kommission ohne einen Blick auf ihre bescheidenen Handlungsmöglichkeiten in dieser Krise als zu zögerlich kritisiert.
Übersehen wird, dass die EU kein Bundesstaat mit einer starken Exekutive samt Finanzinstrumenten ist und die derzeitige Konzeption des Euroraums mit der sog. No-Bail-Out-Klausel des Art. 125 der EU-Verträge einer gemeinsamen Haftung für Staatsschulden entgegensteht. Gleichwohl ist auch dem Unionsrecht der Gedanke nicht fremd, dass aus einer faktisch bestehenden Solidarität, die sich im Gefühl des „In-einem-Boot-Sitzens“ Ausdruck verschafft, gegenseitige Verantwortung entsteht. Dementsprechend basiert auch die EU als föderaler Verbund ihrer Mitgliedstaaten auf dem Prinzip der Solidarität. Inhalt und konkrete Reichweite europäischer Solidaritätspflichten sind allerdings unbestimmt und bedürfen klarer Anhaltspunkte in den EU-Verträgen.
Inhaltlich kann die Rechtswissenschaft insoweit von der Sozialphilosophie Anregungen empfangen, wonach Solidaritätspflichten zwischen moralisch geschuldeten und freiwilligen Leistungen stehen: Verursacht man selbst die Not eines Anderen, ist man zur Hilfe verpflichtet; verschuldet der Andere selbst seine Not, hilft man freiwillig; gerät er durch Zufall oder durch Schuld eines Dritten in Not, hilft man aus Solidarität.
In dieser Verknüpfung wird deutlich, dass es in der „Corona-Krise“ um drei Stufen und Formen der Solidarität geht, die politisch unterschieden werden sollten.
Zunächst zur 1. Stufe: Die Pandemie beschreibt eine Situation, die gleich einer Naturkatastrophe alle Mitgliedstaaten der EU durch Zufall in eine Notsituation bringt, insoweit sitzen alle „in einem Boot“. Das bringen die allgemeine Solidaritätsklausel in Art. 222 sowie die auf den Euroraum bezogene Solidaritätsklausel in Art. 122 Abs. 2 der EU-Verträge zum Ausdruck, die als Ausnahme vom Haftungsverbot des Art. 125 konkrete Nothilfen der EU zur unmittelbaren Bekämpfung der Krise, etwa zur Ertüchtigung des Gesundheitssektors, ermöglichen. Anstatt Krediten könnten daher aus dem bestehenden Solidaritätsfonds, der dann um eine Corona-Linie aufgestockt werden müsste, oder aber aus einem neuen „Corona-Fonds“ zielgerichtet Gelder in hilfsbedürftige Mitgliedstaaten fließen. Umfasst sind auf dieser ersten Stufe aber auch Nothilfen zum Abfedern des mit der Krise direkt verbundenen ökonomischen Schocks, etwa im Hinblick auf den Arbeitsmarkt.
Auf einer 2. Stufe geht es um eine mittelfristige Form von europäischer Solidarität. Mit guten Gründen befürchtet die Mehrheit der Ökonomen, dass der Euroraum aufgrund der „Corona-Krise“, vor allem im Zuge der mit ihr notwendig werdenden massiven Staatsverschuldung zum „Wachküssen“ der im „Dornröschenschlaf“ liegenden europäischen Wirtschaft, erneut ins Visier der Finanzmärkte geraten könnte. Insoweit sind vor allem Mitgliedstaaten gefährdet, deren Staatsverschuldung schon vor der Corona-Krise über den im Vertrag vereinbarten Stabilitätskriterien lag. Insoweit könnte die zusätzliche Verschuldung zum Brandbeschleuniger werden und die Stabilität des Euroraums insgesamt bedrohen. Vor diesem Hintergrund sind Nothilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) die passende Form europäischer Solidarität. Diese können nach Art. 136 Abs. 3 AEUV freilich nur unter „strengen Auflagen“ gewährt werden, sind also an Strukturreformen in den jeweiligen Empfängerstaaten gekoppelt.
Warum diese sog. Konditionalität von manchen Stimmen freilich als „Stigmatisierung“ gebrandmarkt wird, ist nicht so ohne weiteres ersichtlich. Denn die Mittel dienen dazu, den Empfängerstaat auf das im EU-Vertrag gemeinsam beschlossene Konzept der Stabilitätsgemeinschaft, das als Geschäftsgrundlage der im Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 vereinbarten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) bezeichnet werden kann, zurückzuführen. Insoweit ist Solidarität keine Einbahnstraße, vielmehr gilt das bekannte Musketier-Prinzip „Alle für Einen, Einer für Alle“. Überdies ist die in der Griechenland-Krise zu Unrecht als „Besatzungsherrschaft“ kritisierte „Troika“ längst Vergangenheit: Abgesehen davon, dass diese Sichtweise angesichts der vielfach gewährten personellen und technischen Unterstützung immer eine polemische Übertreibung darstellte, hat man aus den griechischen Erfahrungen gelernt. So wurde bereits das Reformprogramm für Portugal in einem viel stärker kooperativ auf Dialog angelegten Prozess umgesetzt, im Zuge dessen die Expertise der nationalen Akteure besser eingebunden und so die Besonderheiten und Befindlichkeiten im Empfängerland besser berücksichtigen werden konnten. Die Juncker-Kommission hat auf dieser Basis einen Structural Reform Support Service etabliert (inzwischen eine eigene Generaldirektion Reform), der die Mitgliedstaaten berät, technisch und personell mir Expertise bei Reformprozessen zur Seite steht und so in enger Zusammenarbeit mit ihnen Reformprozesse in Gang setzt. Auch Deutschland hat diese Hilfe in Anspruch genommen. Von Stigmatisierung kann daher keine Rede sein.
Wenn gleichwohl Corona-Bonds gefordert werden, so ist damit auf einer 3. Stufe die Frage nach einer grundlegenden Reform des Euroraums gestellt, im Zuge derer gemeinschaftliche Haftung für Schulden und institutionelle Kontrolle notwendig gemeinsam gedacht werden müssen. Ohne Frage hat die Corona-Pandemie einmal mehr gezeigt, dass der Euroraum trotz aller Reformbemühungen der vergangenen Jahre nach wie vor ein „Schönwetterraum“ ist, der im Falle eines Sturms noch nicht jene Resilienz aufweist, mit der eine Krise ohne Gefährdung seiner Stabilität bewältigt werden kann. Bereits im Zuge der weltweiten Finanzkrise und der durch sie befeuerten Staatschuldenkrise hatte sich gezeigt, dass die bisher allein mögliche Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitiken auf europäischer Ebene nicht ausreicht, um die wegen der bestehenden monetären und wirtschaftlichen Verflechtungen in einer Währungsunion notwendige wirtschaftspolitische Anpassung an die gemeinsame Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu ermöglichen .
Wenn nun der gemeinsamen Haftung für Staatsschulden in Form von Corona-Bonds die erwähnte No-Bail-Out-Klausel des Art. 125 der EU-Verträge entgegensteht, dann ist eine Vertragsänderung nötig, die die in Maastricht 1992 vereinbarte Grundkonzeption des Euroraums in Frage stellt. In der Folge stehen nach der Finanzkrise angestellte Reformüberlegungen wieder auf der Agenda, deren Diskussion nach Vorlage des sog. Fünf-Präsidenten-Berichts zur Vollendung der WWU im Jahre 2015 aufgrund der wirtschaftlichen Erholung in der EU in einen „Dornröschenschlaf“ versetzt worden war.
Jede Reform hat sich an den vertraglichen Leitprinzipien zu orientieren. Zu diesen zählen aber neben den europäischen Verfassungsprinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der Demokratie, auch die spezifischen vertraglichen Leitprinzipien der WWU, konkret der Stabilität und Konditionalität. Diese definieren den Rahmen, in dem sich jeder Reformvorschlag in einem fruchtbaren Zusammenspiel mit den jeweils anderen Leitprinzipien einpassen muss. Im Lichte dessen ist Solidarität erlaubt und – zumindest aus europarechtlicher Sicht – sogar geboten, wenn die Stabilität des Euroraums in seiner Gesamtheit gefährdet ist. Jedwede solidarische Hilfen sind in diesem Rahmen aber nur zulässig, wenn sie dazu dienen, die durch einen Mitgliedstaat gefährdete Stabilität des Euroraums wiederherzustellen. An dieser Stelle kommt dem Konditionalitätsprinzip eine Brückenfunktion zu, indem es das Zusammenspiel von Stabilitäts- und Solidaritätsprinzip ausgestaltet. Konditionalität gewährleistet, dass finanzielle Hilfen primär dazu dienen, im Empfängerstaat Strukturreformen zu ermöglichen, die mittelfristig eine nachhaltige Stabilität des Euroraums gewährleisten.
Unter dem Aspekt wechselseitiger Solidarität ist es deswegen legitim, wenn die EU in Ergänzung eines regelbasierten Ansatzes Reformprozesse in den Mitgliedstaaten durch finanzielle Anreize aus einem europäischen Budget unterstützt und erleichtert, diese dann aber zugleich an die Einhaltung von vereinbarten Bedingungen, Auflagen und Regeln koppelt.
Zunächst kann dem Prinzip der Konditionalität ganz einfach dadurch entsprochen werden, dass jedweder Zugang zu Instrumenten der Solidarität wie den geforderten Corona-Bonds an die grundsätzliche Bereitschaft zur Einhaltung der vereinbarten Regeln der WWU, konkret an den Stabilitäts- und Wachstumspakt, das Europäische Semester sowie die Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit, gekoppelt ist.
Zugleich sind Institutionen der Kontrolle erforderlich, die auf Basis ihrer Expertise von der Politik unabhängig agieren können. Diese Aufgabe könnte der ESM, fortentwickelt zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF) in Zusammenarbeit mit einem Netzwerk der bereits etablierten europäischen Stabilitätsräte übernehmen. Deren Einschätzung, Bewertung und Empfehlungen würde primär dazu dienen, die demokratisch legitimierten politischen Entscheidungsträger auf europäischer Ebene, also etwa einen Europäischen Wirtschafts- und Finanzminister oder eine Europäische Wirtschaftsregierung, zu beraten. Eine Abweichung von der Expertise könnte mit der Pflicht zu einer öffentlich nachvollziehbaren Begründung verbunden sein und sollte überdies an qualifizierte Mehrheiten oder gar Einstimmigkeit in den politisch zuständigen Institutionen geknüpft werden. Die Begründung stellt Transparenz her und kann solchermaßen eine solide Grundlage für die am Finanzmarkt zu treffenden Entscheidungen darstellen, wodurch wiederum die (angepasste) Rolle der No-Bail-Out-Klausel gestärkt würde.
Im Zuge dieser Reformen kann es im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund der EU nicht um eine umfassende Zentralisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik auf europäischer Ebene gehen. Vielmehr geht es um eine europäische Überformung nationaler Politiken und eine graduell abgestufte Verzahnung dieser mit der europäischen Ebene. Insoweit kommt es auf die verhältnismäßige Ausgestaltung an. So kann die europäische Kontrolle z.B. erst verbindlich werden, wenn Nothilfen erforderlich werden. Denn ein überschuldeter Mitgliedstaat, der unter den Schutzschirm des ESM bzw. künftigen EWF schlüpft, hat letztlich nur noch die Wahl zwischen einer Staateninsolvenz und der Inanspruchnahme von Nothilfen. Mit der Entscheidung für an Auflagen gebundene Nothilfen willigt der Empfängerstaat zur Vermeidung einer Staateninsolvenz also autonom in eine Beschränkung seiner Haushaltssouveränität ein.
Im Bereich institutioneller Kontrolle geht es aber nicht nur um Aufsicht, sondern auch um ein verbessertes „Ownership“ hinsichtlich der notwendigen Strukturreformen in den Mitgliedstaaten. In diesem Rahmen könnten Verfahren der Zusammenarbeit entwickelt werden, die vom Informationsaustausch bis hin zu einer fachlichen, personellen oder technischen Unterstützung durch die europäische Ebene – etwa nach dem Vorbild des erwähnten Structural Reform Support Service der Europäischen Kommission – reichen können.
Im Zuge einer Reform des Euroraums, die zu einer stärkeren Europäisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik führt, kann demokratische Legitimation nicht allein durch das Europäische Parlament vermittelt werden. Mit Blick auf „Königsrecht“, das Budgetrecht, sollten die nationalen Parlamente in jenen Politikfeldern in die europäischen Entscheidungsprozesse eingebunden werden, die von der erforderlichen Übertragung neuer Kompetenzen (z.B. in den Bereichen Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik) auf die europäische Ebene betroffen sind. Insoweit sind verschiedene Varianten denkbar, die von einem aufschiebenden Vetorecht nationaler Parlamente (sog. orangene Karte) bis hin zu einer nur für diese aus nationaler politisch sensiblen Politikbereiche zuständigen Dritten Kammer bestehend aus Vertretern der nationalen Parlamente reichen können.
Für all das bedürfte es keiner großen Revision der Verträge. Vielmehr könnte nach dem Vorbild der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, mit der das Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes rechtlich und institutionell flankiert wurde, eine kleine Vertragsänderung zur Vollendung der WWU auf den Weg gebracht werden. In diesem Sinne umfassend gedacht, kann Solidarität in der Krise zur europäischen Chance werden.
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