Parität und Asymmetrie im Arbeitskampf
Gegen die Dynamik von „Aussitzen“ gegen „kollektives Betteln“
Im Arbeitskampfrecht hat sich über die Jahre hinweg ein produktives Wechselspiel zwischen Bundesarbeitsgericht (BAG) und BVerfG entwickelt: Das BAG gestaltet den verfassungsrechtlichen Rahmen aus, und wird darin vom BVerfG weitgehend unterstützt, das an entscheidenden Stellen immer wieder Leitplanken festsetzt. Am 19. Juni 2020 sowie am 9. Juli 2020 hat die 3. Kammer des Ersten Senats dies wieder in zwei Entscheidungen getan. Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, dass sie die Rechtsprechung zu Parität und Asymmetrie im Arbeitskampf angemessen fortschreiben.
Am 19. Juni ging es um ein gesetzliches Verbot, Leiharbeit für Streikarbeit einzusetzen. Am 9. Juli ging es darum, ob eine Gewerkschaft das Gelände der Betriebsparkplätze eines Arbeitgebers (Amazon) nutzen durfte, um dort bei den Arbeitnehmer*innen für die Teilnahme am Streik zu werben. Beide Entscheidungen setzen die Rechtsprechung von BAG und BVerfG fort, welche die verfassungsrechtliche Gewährleistung von Rechten im Arbeitskampf in einem funktionalen Verhältnis zur Tarifautonomie und damit wiederum zum Arbeitnehmerschutz begründet. In beiden Entscheidungen geht es aber nach langer Zeit auch wieder um die Voraussetzungen einer wirksamen Ausübung des Streikrechts in seiner traditionellen Form.
Die soziale Illegitimität des Streikbruchs
Die Auseinandersetzung mit „Streikbruch“ ist für jeden Streik zentral. Ihre Bedeutung lässt sich nur ermessen, wenn man sich klar macht, wieviel Mut und Courage die Teilnahme an einem Streik für einzelne Arbeitnehmer*innen tatsächlich erfordert und wie sehr die Streikteilnahme als Akt des Ungehorsams sozial wahrgenommen wird. Der Streikbruch untergräbt den Streik also auf vielen Ebenen, nicht nur der wirtschaftlichen. Die Auseinandersetzung zwischen streikenden und nichtstreikenden Beschäftigten wird so zu einer grundsätzlichen Verteidigung der Legitimität des Streiks und der Solidarität.
Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung der Bundesrepublik hat diese Bedeutung sehr früh erkannt. Bereits 1957 erlaubte es das BAG, Streikarbeit zu verweigern: „[…D]ie Solidarität der Arbeitnehmer untereinander [muß…] auch von der Rechtsordnung berücksichtigt werden […]. Es ist dem Arbeitnehmer nicht zuzumuten, den Streikenden in den Rücken zu fallen. [Denn e]s würde sich bei der direkten Streikarbeit um eine unmittelbare Beeinträchtigung der Aussichten des Streiks handeln […].“(BAG, 25.7.1957 – 1 AZR 194/56) Der BGH hält dementsprechend den Gewerkschaftsausschluss wegen „Streikbrecherarbeit“ für zulässig: Die Betreffenden „verstießen […] gegen die […] zu erwartende Solidarität, wenn sie die Arbeiten ihrer streikenden Kollegen verrichteten“ (BGH, 19.1.1978 – II ZR 192/76). Und das BVerfG bezieht sich am jetzt am 19. Juni (Rn. 11) auf eine „Leitentscheidung“ von 1993, in der es den Einsatz von Beamt*innen auf bestreikten Arbeitsplätzen als Arbeitskampfmaßnahme angesehen hatte, für die es einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, da sich hieraus im hoheitlichen Bereich besondere Rechte ergäben. Ausdruck dieses Grundverständnisses sind auch § 36 III SGB III (für Arbeitslose und Kurzarbeiter*innen) sowie § 11 Abs. 5 AÜG, der Leiharbeitskräften schon seit langem ein Leistungsverweigerungsrecht einräumt, wenn sie in einem Betrieb eingesetzt werden sollen, der durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffen ist (aktuell geregelt in § 11 Abs. 5 Satz 3 und 4 AÜG).
Streik und Kommunikation
Diese Normen beschäftigen sich jedoch allein mit der Auseinandersetzung zwischen den Arbeitnehmer*innen und schützen insofern die Solidarität. Sie gehen implizit davon aus, dass die erforderliche Solidarität in den sozialen Beziehungen kommunikativ eingefordert und hergestellt werden können muss. Wo die Voraussetzungen dafür fehlen, wo Streikende und Gewerkschaften keinen Zugang zu Kolleg*innen haben – sei es, weil ihnen der Zugang zum Betriebsgelände verwehrt ist, sei es, weil Leiharbeitskräfte nicht im unmittelbaren Kontakt mit der Kernbelegschaft stehen und deshalb nicht ansprechbar sind –, da müssen alle Bemühungen, Solidarität herzustellen, ins Leere laufen. Und weil jede Streikteilnahme oder -unterstützung die Überwindung hoher psychologischer Barrieren erfordert, haben Arbeitgeber*innen mit ihren Bitten um Streikarbeit dann leichtes Spiel.
Es ist das Verdienst der BVerfG-Entscheidung vom 9. Juli, im Anschluss an das BAG die Bedeutung dieser Kommunikation deutlich und mit überzeugendem Bezug auf die konkreten Gegebenheiten herausgestellt zu haben. „[D]ie grundrechtlich geschützte Befugnis, durch Überzeugungsversuche auf Streikunwillige einzuwirken, erschöpft sich nicht in der bloßen Bekanntgabe, dass gestreikt wird, oder in einer plakativen Aufforderung, sich dem Streik anzuschließen. Sie umfasst die persönliche Ansprache aller zum Streik Aufgerufenen und Versuche, diese im Dialog zur Streikteilnahme zu bewegen.“ (BAG, Rn. 35). Wenn die Arbeitnehmer*innen allein über den Parkplatz zum Betrieb kommen könnten und auf andere Weise nicht ansprechbar seien, müsse der Zugang dort gewährleistet werden. Es gehe hier nicht um höhere oder geringere Wirksamkeit, sondern viel fundamentaler darum, ob die Gewerkschaft unter diesen Bedingungen ihr Streikrecht überhaupt ausüben konnte. Das BVerfG ergänzt (9. Juli, Rn. 19): Es sei „hier auch zu berücksichtigen, dass allein die Arbeitgeberinnen die örtlichen Gegebenheiten ihrer Betriebsstätte auswählen und gestalten. Könnten sie mit ihrer Entscheidung für die räumliche Position einer Betriebsstätte Arbeitskampfmaßnahmen und die Werbung für die Teilnahme an diesen oder auch nur die Werbung für den Gewerkschaftsbeitritt tatsächlich verhindern, bestünde die Gefahr, dass über die Planung von der betrieblichen Fläche Gewerkschaftsrechte gezielt ausgehöhlt werden.“
In der Entscheidung vom 19. Juni spielen diese notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung des Streikrechts indirekt ebenfalls eine wichtige Rolle. Denn die Erforderlichkeit des (in § 11 Abs. 5 Satz 1 und 2 neu geregelten) Verbots an Arbeitgeber*innen, Leiharbeit für den Streikbruch einzusetzen, wird zutreffend damit begründet, dass die Leiharbeitskräfte von dem (aktuell in Satz 3 und 4 geregelten) seit langem bestehenden Leistungsverweigerungsrecht bislang kaum Gebrauch gemacht haben. Das BVerfG nennt auch die Gründe, aus denen zu vermuten ist, dass dieses Phänomen keineswegs darauf schließen lasse, dass die Leiharbeitskräfte grundsätzlich unwillig sein könnten, im Streik Solidarität zu beweisen. Ihr Risiko sei vielmehr deutlich höher als das der Streikenden, denn für sie gehe es nicht nur um Entgelteinbußen, sondern auch um „die Chance, aus einer prekären in eine sicherere Beschäftigungsposition zu wechseln“, sie müssten künftig gravierende Nachteile befürchten (Rn. 28).
„Aussitzen“ gegen „kollektives Betteln“
Dies allein konnte als Argument für den Eingriff des Gesetzgebers mit § 11 Abs. 5 AÜG aber nicht ausreichen. Denn die Regelung stärkt nicht vorrangig die Stellung der Leiharbeitskräfte, sondern macht deren eigenes Engagement entbehrlich, indem sie den Einsatz von Leiharbeit im Arbeitskampf grundsätzlich als „missbräuchlichen Einsatz“ wertet. Mit dieser Ergänzung des § 11 Abs. 5 AÜG geht also ein Wechsel der Perspektive einher: Während das individuelle Leistungsverweigerungsrecht es letztlich den Arbeitskampfparteien überlässt, um die Streikteilnahme der Beschäftigten zu kämpfen, nimmt dieses kollektivrechtliche Verbot der Arbeitgeberseite ein Instrument, das zuletzt häufig genutzt wurde, um auf Streiks zu reagieren.
Und damit stellt sich die Frage, inwieweit der Gesetzgeber eingreifen durfte, um das Paritätsverhältnis zwischen Arbeitskampfparteien unmittelbar zu gestalten. Diese Frage beantwortet das BVerfG am 19. Juni mit einem deutlichen Verweis auf die Asymmetrie, die allen Tarifauseinandersetzungen und Arbeitskämpfen zugrunde liege.
Dieser Hinweis erinnert an einen zentralen Satz aus der Grundsatzentscheidung des Großen Senats des BAG von 1980, mit dem das Arbeitskampfrecht damals neu aufgestellt und verfassungsrechtlich begründet wurde (BAG (GS) 10.6.1980 (1 AZR 168/79)). Dieses Urteil stammt aus der guten alten (d.h. fordistischen) Zeit des Arbeitskampfs, d.h. der Massenstreiks und Massenaussperrungen, wie es sie in den 1970er und z.T. auch noch in den 1980er Jahren (z.B. aus Anlass des Kampfs um die 35- Stunden-Woche in der Metallindustrie) gegeben hat. Streik und Aussperrung waren die Arbeitskampfmittel der Wahl; und die Entscheidung des BAG gewann ihre Bedeutung daraus, dass sie die Zulässigkeit dieser beiden Arbeitskampfmittel mit einem Verständnis der materiellen Parität ausformulierte. Es erkannte einerseits die Aussperrung als Arbeitskampfmittel der Arbeitgeberseite rechtlich an (was damals umstritten war), stellte aber andererseits fest, dass das Streikrecht der Gewerkschaften von größerer Bedeutung sei, die Aussperrung also nur in spezifischen Situationen als „Abwehr“ spezifischer Streikstrategien zulässig sein könne. Der Streik sei das Mittel der Wahl, um Parität überhaupt erst zu ermöglichen. Aus Rn. 22 dieser Entscheidung stammt das berühmte, Roger Blanpain zugeschriebene Zitat: „Bei diesem Interessengegensatz wären Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik im allgemeinen nicht mehr als ‚kollektives Betteln‘ (Blanpain)“.1)
An diese Feststellung knüpft das BVerfG nun in der Entscheidung vom 19. Juni mit der Feststellung an, die von den Gegnerinnen und Gegnern der Regelung „suggerierte Symmetrie entspricht nicht den Tatsachen.“ (Rn. 32). Denn die Arbeitgeberseite sei nicht in gleicher Weise wie die Gewerkschaften darauf angewiesen, durch den Einsatz von Arbeitskampfmitteln ausreichend Druck auf die Gegenseite erzeugen zu können. Hier weist das BVerfG auf die Möglichkeit hin, einen Streik „auszusitzen“ (Rn. 30) und versteht, dass der Gesetzgeber es nicht sehenden Auges zulassen könne, wenn Arbeitgeber*innen „die Folgen eines Arbeitskampfes nahezu folgenlos abfangen“ könnten (Rn. 27), wie dies mit Leiharbeit „insbesondere in Bereichen wie Lager und Einzelhandel“ möglich sei (Rn. 32).
Vor diesem Hintergrund ist es umso interessanter, dass die zweite Entscheidung vom 9. Juli in Rn. 14 den Satz vom „kollektiven Betteln“ nun sogar wörtlich zitiert,2) um die Erforderlichkeit des Streiks (oder „gleich effektive[r] Eskalationsstufen zur Herstellung von Kompromissfähigkeit“) zu visualisieren. Auch die Begründung des Ungleichgewichts mit der „Verfügungsgewalt [der Arbeitgeberseite] über Produktionsmittel, Investitionen, Standorte und Arbeitsplätze“ (19. Juni, Rn. 32) wird nun wiederholt (9. Juli, Rn. 10). Das BVerfG differenziert damit implizit und zutreffend zwischen dem Ungleichgewicht im Arbeitsverhältnis (auf individueller Ebene) und dem Ungleichgewicht in Tarifverhandlungen und im Arbeitskampf (auf kollektiver Ebene).
Aktuelle Dynamiken im Arbeitskampf – und Gefahren
Diese Anknüpfung an die Entscheidung von 1980 könnte verdecken, wie sehr sich das Arbeitskampfrecht in den vergangenen zwanzig Jahren geändert hat, und wie sehr die aktuellen Entscheidungen durch massive Veränderungen der ökonomischen, sozialen und rechtlichen Grundlagen des Arbeitskampfs bestimmt sind.
Diese Veränderungen deuteten sich zum Zeitpunkt der Leitentscheidung von 1995, die das BVerfG am 19. Juni häufig zitiert, bereits an. Damals stellte das BVerfG zwar fest, dass das Neutralitätssicherungsgesetz 1986 (heute § 160 Abs. 3 SGB III), das den Einsatz von Kurzarbeitergeld bei Fernwirkungen von Arbeitskämpfen innerhalb derselben Branche im Prinzip untersagt, zwar die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften beeinträchtige, da es bestimmte Kampfstrategien unmöglich mache bzw. andere vorgebe. Es wies die Verfassungsbeschwerde der IG Metall jedoch dennoch zurück, weil sich „eine verfassungswidrige Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie (noch) nicht feststellen“ lasse (1995, Rn. 125).
Seither hat sich viel verändert. In einem Gutachten von 2017, in dem wir geprüft haben, ob die Bedingungen für das „(noch)“ fortbestehen, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beschränkungen der Kampfstrategien dadurch zu einem gewissen Teil aufgefangen werden konnten, dass die Rechtsprechung Freiräume für die Entwicklung neuer Konzepte für Warnstreiks und alternative Arbeitskampfformen geschaffen und anerkannt habe, dass die Tarifvertragsparteien, „ihre Kampfmittel den sich wandelnden Umständen [anpassen müssten], um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene Tarifabschlüsse zu erzielen“. Dennoch könne der Gesetzgeber entstehende gestörte Paritäten wieder herstellen (1995, Rn. 108). Einen wichtigen Ausschnitt der arbeitspolitischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte stellen die Aufsplitterung von Unternehmen und Betrieben in allen Branchen dar; der zunehmende „Fremdpersonaleinsatz“ (z.B. durch Leiharbeit und On-Site-Werkvertragskonstruktionen, wie sie aktuell in der Fleischindustrie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden) ist eine Erscheinungsform davon. Wir haben es damals (S. 85 des Gutachtens) sogar für verfassungsrechtlich geboten angesehen, die Möglichkeit des Einsatzes von Leiharbeit und anderen Beschäftigungsformen für den Streikbruch im Arbeitskampf zu beschränken.
Das BVerfG hat eine entsprechende Entscheidung des Gesetzgebers nun zwar zu Recht für verfassungsgemäß erklärt. Der Hinweis auf eine zunehmende Zahl von Streiks, die kaum spürbare Auswirkungen zeigen und an Dauer zunehmen (19. Juni, Rn. 32), ist tatsächlich ein Indiz für schwerwiegende Gefahren für das Tarifvertragssystem. Die Entscheidung des BVerfG erlaubt dem Gesetzgeber deshalb zu Recht eine Absicherung an einer wichtigen Stelle. Wie effektiv diese sein kann, muss sich zeigen; das BVerfG hatte jedenfalls anlässlich der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung gegen das Inkrafttreten des Gesetzes selbst schon vermutet, dass es wohl möglich sein werde, im Falle einer Arbeitsniederlegung den Betrieb „ohne den Einsatz von Leiharbeitskräften – etwa unter Rückgriff auf eigene arbeitswillige Arbeitskräfte, auf zu diesem Zweck befristet eingestellte Kräfte oder auf Drittpersonal im Rahmen eines Werkvertrags mit anderen Unternehmen – fortzuführen“ (Rn. 13).
References
↑1 | Martin Franzen, Kampfverbote für einzelne Tarifinhalte?, in: Rieble (Hrsg.), Zukunft des Arbeitskampfs, 2005, 141-167 (dort in Fn. 2) vermutet, dass das Bild auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis zurückgeht, weil es dort Bestandteil eines Wortspiels sein könne (collective bargaining / collective begging); zur Herkunft des Ausdrucks bei Blanpain siehe Gregor Thüsing, ZIP 2003, 693 (701 [dort in Fn. 69]). |
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↑2 | Wenn auch merkwürdigerweise unrichtig aus der Folgeentscheidung des BAG v. 12.9.1984 (1 AZR 342/83) zitiert wird (Rn. 14). |
Die Gewerkschaften haben sich jahrelang nicht wirklich um die Leiharbeitnehmer bemüht. Für die Mitglieder waren sie ein wohlgenommener Puffer zwischen sich und dem Personalabbau. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass keine Solidarität mit Streikenden aufkommt. Die “Zwangssolidarisierung” (Thüsing) ist daher nicht verwunderlich.