Notparlament in die Verfassung
Schleswig-Holstein macht Ernst wegen Corona
Ist die Corona-Pandemie ein Grund dafür, Verfassungen zu ändern und Regelungen über ein Notparlament zu verankern? Diese Frage wird in vielen Parlamenten in Deutschland diskutiert und in Schleswig-Holstein meint man es nun ernst.
Die Fraktionen von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sind sich einig, auch mit den Abgeordneten des SSW, der Partei der dänischen Minderheit: Es soll einen Artikel 47a über einen Notausschuss geben, der bei Handlungsunfähigkeit des Landtages dessen Rechte im Wesentlichen wahrnimmt. Der interfraktionelle Gesetzentwurf vom 06.11.2020 hat gute Realisierungschancen, er wird von 68 der 73 Abgeordneten des Landtages unterstützt. Zwar läuft aktuell noch eine Sachverständigenanhörung des Innen- und Rechtsausschusses, aber üblicherweise führt das eher zu Korrekturen im Detail, als zum Scheitern eines so breit aufgestellten Verfassungsänderungsprojekts.
Gerade deshalb bedarf es kritischer Begleitung. Das betrifft nicht nur die Ungereimtheiten im Entwurf, sondern auch die Frage, ob die Thematik der Handlungsunfähigkeit des Landtages nicht weitgehend durch andere Verfassungsänderungen gelöst werden kann, etwa im Bereich der Beschlussfassung und der Digitalisierung. So würde auch die im Gesetzentwurf klar zum Ausdruck kommende Angst vor einem tatsächlichen Tätigwerden des Notparlaments und einer damit einhergehenden „Herrschaft der Wenigen“ reduziert.
Corona-Pandemie als berechtigter Anstoßgeber
Niemand wird in Zweifel ziehen, dass die Corona-Pandemie zu Recht eine Diskussion über Verfassungsänderungen ausgelöst hat. Verfassungen müssen Lösungen enthalten, nicht nur, wenn die Sonne scheint, sondern auch in der Not. Parlamente, die nicht mehr zusammentreten oder keine wirksamen Beschlüsse mehr fassen können, machen den Staat im legislativen Bereich handlungsunfähig. Sie kappen die demokratische Nabelschnur zwischen den anderen Verfassungsorganen und dem Volk als Souverän. Deshalb muss ein Handlungsunfähigwerden des Parlamentes so lange wie möglich verhindert werden. Gelingt dies nicht mehr, dann bedarf es einer Ersatzlösung.
Das Corona-Virus trifft Parlamente besonders, weil sie viele Mitglieder haben und viele Personen für längere Zeit diskutierend nah miteinander zusammenkommen. Die Beschlussfassung im Plenum lebt davon, dass alle Mitglieder des Parlaments an ihr teilnehmen können, auch wenn das in der Realität selten der Fall ist. Erkrankungen, vorsorgliches Fernbleiben gesundheitlich gefährdeter Abgeordneter oder Quarantäne-Maßnahmen können nicht nur einzelne, sondern sehr viele Abgeordnete an der Teilnahme einer Präsenzsitzung hindern. Denkbar ist auch, dass ganze Fraktionen in Quarantäne gehen müssen und deshalb in einer Präsenzsitzung im Plenum die in demokratischen Wahlen herbeigeführten Mehrheitsverhältnisse, insbesondere die Mehrheiten von Regierungskoalitionen, nicht mehr hergestellt werden können. Es ist deshalb sinnvoll, die jeweilige Verfassung darauf zu untersuchen, ob sie für diese Problematik ausreichend Lösungen bereit hält, oder ob solche Regelungen im Wege der Verfassungsänderung eingeführt werden sollen.
Drei Gruppen von Verfassungen
Vereinfacht gesagt, gibt es in Deutschland drei Gruppen von Verfassungen. Die erste Gruppe bilden das Grundgesetz und Landesverfassungen wie diejenige von Schleswig-Holstein, die für Notfälle, die zur Handlungsunfähigkeit des Parlaments führen können, gar keine Regelungen enthalten, oder nur für in diesem Zusammenhang nicht interessierende Sonderfälle. So kennt das Grundgesetz in Art. 115e zwar eine Regelung, bei deren Eingreifen die Rechte des Bundestages und des Bundesrates vom Gemeinsamen Ausschuss wahrgenommen werden, aber das ist auf den Sonderfall der vorherigen Feststellung des Verteidigungsfalles beschränkt.
Die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und andere haben in ihren Verfassungen allgemeinere Notfallregelungen aufgenommen, denen nach die gesetzgebende Gewalt in Krisensituationen von der Landesregierung übernommen werden kann. Das folgt dem bekannten Motto, die Not sei die Stunde der Exekutive. Diese Landesverfassungen lassen parlamentarischen Gremien nur noch ergänzende Mitwirkungsmöglichkeiten, was der Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit eines Staates, gerade im Bereich der Gesetzgebung, den Vorrang gegenüber der Aufrechterhaltung des parlamentarischen Prinzips gibt.
Den umgekehrten Weg gehen die Verfassungen des Landes Baden-Württemberg und des Freistaat Sachsen (vgl. Lenz/Schulte, Die „Herrschaft der Wenigen“: das Notparlament nach Art. 62 LV und die Corona-Seuche, VBlBW 2020, 309 ff.). Ähnlich wie im Fall des Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 115e GG, gehen hier die Rechte des Parlamentes auf einen Ausschuss über, der entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Parlament aus einer kleinen Gruppe von Abgeordneten gebildet wird und als Notparlament die Rechte des eigentlichen Parlaments bis zur Beseitigung der Notlage wahrnimmt. Mit diesem „Parlament en miniature“ wird zwar die Mehrheit der Abgeordneten von der Ausübung der Parlamentsfunktion ausgeschlossen, die Funktion aber weiterhin von einem parlamentarischen Gremium ausgeübt.
Dieser durch die Notlage begründete und zugleich begrenzte Übergang zur „Herrschaft der Wenigen“ ist das prinzipielle Vorbild des Gesetzentwurfs zur Verfassungsänderung in Schleswig-Holstein.
Regelungskonzept des vorgeschlagenen Art. 47a der Verfassung
Nach Absatz 1 bestimmt der Landtag einen Notausschuss. Die Regelung der Zahl seiner Mitglieder bleibt der Geschäftsordnung des Landtages überlassen. Vorgegeben ist, dass die Ausschussmitglieder entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt werden, fraktionslose Abgeordnete in ihm also nicht vertreten sind. Außerdem dürften Mitglieder der Landesregierung dem Ausschuss nicht angehören.
Die zentrale Kompetenzzuweisung erfolgt in Absatz 2. Danach hat der Notausschuss im Notfall als Notparlament die Stellung des Landtages und nimmt dessen Rechte wahr (Satz 1).
Nach Absatz 3 liegt ein Notfall vor, wenn aufgrund von bestimmten Umständen der Landtag seine Funktion nicht mehr oder nicht schnell genug wahrnehmen kann. Die Umstände sind umschrieben als Naturkatastrophe, Seuchengefahr oder besonders schwerer Unglückfall sowie als drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung des Landes. Einen Notfall löst ein solcher Umstand nur dann aus, wenn er kausal dafür ist, dass dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann.
Erkennbare Angst vor einem Tätigwerden des Notausschusses als Notparlament
Offenbar haben die Initiatoren des Gesetzentwurfs aber Angst davor, dass die von ihnen vorgeschlagene Regelung tatsächlich zur Anwendung kommt. Deutliches Anzeichen dafür ist, dass die Regelung schon mit Ablauf des 31.12.2023 automatisch wieder außer Kraft treten soll (Art. 70 Abs. 3 Satz 2 Verfassung). Das erinnert an eine Drehtür, die jemand in Absicht betritt, sich dort eine Weile im Kreis zu drehen, um sie dann wieder an der Stelle zu verlassen, an der er sie betreten hat.
Die Sorge vor einem zu intensiven Tätigwerden des Notparlaments spiegelt sich auch in den Kompetenzbeschränkungen, die in Art. 47a Abs. 2 Sätze 2 – 4 des Entwurfs vorgeschlagen werden. Danach darf das Notparlament nur erforderliche Maßnahmen treffen, um die Handlungsfähigkeit des Landes im Notfall zu sichern. Im Klartext: Alles was warten kann, muss bis zum Ende des Notfalls liegen bleiben. Anders als nach der Rechtslage in Baden-Württemberg und Sachsen darf das Notparlament nicht einmal die für es geltenden Regelungen der Geschäftsordnung des Landtages ändern. Im Vordergrund steht also die Fesselung des Notparlaments, nicht seine in einer Notlage durchaus sachgerechte effektive Handlungsfähigkeit.
Das setzt sich fort bei der Feststellung, ob ein Notfall vorliegt. Die Regelungsvorbilder in Baden-Württemberg und in Sachsen geben das in die Hand des jeweiligen Landtagspräsidenten. Nach dem Gesetzentwurf soll in Schleswig-Holstein der Landtagspräsident die Feststellung des Notfalls nur beim Landesverfassungsgericht beantragen dürfen, welches das Vorliegen des Notfalls „innerhalb Tagesfrist“ entscheidet und einstweilen bestätigt. Hier wird die Erwartung vorausgesetzt, das Landesverfassungsgericht sei in einer möglichen Notlage nicht nur noch handlungsfähig, sondern auch noch überaus schnell entscheidungsfähig (kritisch auch die Stellungnahme des LVerfG selbst, hier). Vorsorge gegen Missbrauch ist den Initiatoren wichtiger als Effizienz bei der Bewältigung der Notlage.
Die Effizienzdefizite vergrößern sich, weil der Notausschuss zu Beginn jeder Sitzung mit 2/3 Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden muss, ob die Voraussetzung des Notstands noch fortbesteht (Art. 47a Abs. 4 Satz 4 des Entwurfs). Weil die Koalitionsfraktionen in der Regel keine entsprechende Mehrheit haben werden, könnte die parlamentarische Opposition jederzeit den Abbruch der Tätigkeit des Notausschuss erzwingen – und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der in Absatz 3 definierte Notfall, also letztlich die Handlungsunfähigkeit des Landtages, wirklich weggefallen ist.
Sicherung des Handlungsfähigkeit durch andere Verfassungsänderungen
Der Notfall ist im Entwurf an zwei Problemlagen festgemacht. Erstens, wenn dem unaufschiebbaren Zusammentritt des Landtages unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen. Zweitens, wenn seine Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann. Strenggenommen ist letzteres überflüssig, weil ein Landtag, dessen Beschlussfähigkeit nicht hergestellt werden kann, eben auch nicht zusammengetreten ist. Daraus ergeben sich aber auch die beiden Ansätze für alternative Regelungen auf Verfassungsebene: Eine Erleichterung der Herstellung der Beschlussfähigkeit. Und eine Erleichterung des Zusammentretens des Landtages durch Zulassung einer digitalen Teilnahme der Abgeordneten.
Aufhebung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Beschlussfähigkeit
Die Verfassung von Schleswig-Holstein bestimmt in ihrem Art. 22 Abs. 3, dass der Landtag nur dann beschlussfähig ist, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder anwesend ist. Das hat mit der Realität in vielen deutschen Parlamenten, insbesondere im Deutschen Bundestag, nichts zu tun. Die Regelung schafft eine völlig unnötige Gefahr, dass sich die Beschlussfähigkeit des Landtages in einer Krisensituation, etwa in einer Pandemie, nicht herstellen lässt. Würde sie ersatzlos aufgehoben, dann wäre die Frage aus der Verfassung herausgenommen und der Geschäftsordnungsautonomie des Landtages übertragen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Verfassung). Dies hätte den Vorteil, dass die Regelungen zur Beschlussfähigkeit in speziellen Krisensituationen schnell angepasst werden könnten (vgl. Möllers, Verfassungsblog 2020/3/20). Das entspräche auch der Regelung im Grundgesetz. Dort konnte das Fehlen verfassungsunmittelbarer Vorgaben für die Beschlussfähigkeit durch den Geschäftsordnungsgeber dazu genutzt werden, für Krisenzeiten Erleichterungen vorzusehen. Nach der befristeten Regelung des § 126a Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags ist für die Beschlussfähigkeit die Anwesenheit eines Viertels der Mitglieder des Bundestages ausreichend. An einem solchen Schritt zur Sicherung seiner Handlungsfähigkeit ist der Landtag von Schleswig-Holstein derzeit noch durch Art. 22 Abs. 3 Verfassung gehindert. Schon die derzeitige Regelung (§ 59 Abs. 2a Geschäftsordnung des Landtags Schleswig-Holstein), wonach in einer mehrheitlich festgestellten unaufschiebbaren Notlage die Beschlussfähigkeit schon bei Anwesenheit von mindestens 11 Abgeordneten gegeben ist, lässt sich mit dem Verfassungswortlaut nicht ohne weiteres in Einklang bringen (zum Pro und Contra vgl. hier und hier). Sie zeigt aber, wo eine Verfassungsänderung ansetzen sollte.
Zulassung digitaler Teilnahmeformen
Eine zweite Möglichkeit, den Zusammentritt des Landtages rechtlich zu erleichtern, bestünde darin, den Abgeordneten eine Teilnahme an Sitzungen auch in digitaler Weise zu ermöglichen. Dies wäre auch ohne Verfassungsänderung zulässig, denn weder das Grundgesetz noch die Verfassung Schleswig-Holsteins verpflichten die Abgeordneten der jeweiligen Parlamente zur körperlichen Anwesenheit (zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit digitaler Anwesenheit im Bundestag s. Lenz/Schulte, Sitzungen des Bundestages per Videokonferenz – Gehst Du noch hin oder streamst Du schon?, NVwZ 2020, 744 ff.). Selbst Stimmen, die die derzeitige Verfassungslage auf Bundes- und Landesebene anders sehen, halten die digitale Teilnahme für zulässig, sofern die Möglichkeit ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen wird oder als zulässiger Regelungsgegenstand der Geschäftsordnung benannt wird (vgl. Stellungnahme wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages). Andere Landtage und auch der Bundestag haben bei vergleichbarer Normenlage schon Ausschusssitzungen in digitaler Form durchgeführt, teilweise sogar ohne vorher die Verfassung oder auch nur die Geschäftsordnung entsprechend geändert zu haben. Gründe der Klarstellung und Rechtssicherheit sprechen dafür, die Verfassung entsprechend anzupassen. Lässt man die digitale Anwesenheit ausreichen, ist eine Unmöglichkeit des Zusammentritts des Landtages wohl nur noch bei einem Zusammenbruch der elektronischen Kommunikation vorstellbar. Das ist aber im Rahmen der Corona-Pandemie nicht zu befürchten.
Macht die Einführung eines Notparlaments trotzdem Sinn?
Würde die Verfassung in Bezug auf Beschlussfähigkeit und digitale Teilnahme angepasst, dann stellt sich die Frage, ob eine Regelung über den Notausschuss nach Art 47a des Entwurfs noch sinnvoll ist. Das ist mit einer klaren Maßgabe zu bejahen.
Keinen Sinn macht es, eine solche Notregelung unter ein Verfallsdatum zu stellen. Das liefe auch der Würde der Verfassung als einer auf Dauer angelegten, grundlegenden Rechtsordnung zuwider.
Wird die bislang geplante dreijährige Befristung aufgegeben, ist der vorgeschlagene Art. 47a im Kern durchaus zweckmäßig. Die meisten Anlässe für das Vorliegen eines Notfalls wird man zwar schon durch Verfassungsänderungen im Bereich der Beschlussfähigkeit und der digitalen Teilnahmemöglichkeit verhindern können. Für die dennoch verbleibenden Fälle ist es besser, eine Regelung über ein Notparlament zu haben. Denn bisher stellt die Verfassung die anderen Staatsorgane in einer solchen Situation vor die Wahl, entweder die Handlungsfähigkeit des Landes preiszugeben oder unter Missachtung der Verfassung selbst zu handeln. Diese Situation sollte beendet werden. Das ist der richtige Kern des interfraktionellen Gesetzesentwurfs.