Irrationale Farbenlehre
Eigentlich wäre es sowieso mal wieder Zeit, über Flaggen zu reden. Es ist (Männer-)Fußball-EM und Fußball und Flaggen geben schließlich immer einen Anlass, darüber zu spekulieren, wie (un-)verkrampft das Verhältnis der Deutschen zu ihrem „Vaterland“ gerade so ist bzw. sein sollte. Während die Nationalmannschaft unter schwarz-rot-goldener Flagge auf dem Rasen um den Sieg kämpft, führte die Innenministerkonferenz letzte Woche eine andere Schlacht – eine Schlacht um die symbolische Ordnung des öffentlichen Raums.
Am 29. August 2020 hatten Protestierende bei einer Corona-Demo die Treppen des Reichstags gestürmt und sich mit wehenden Reichs- und Reichskriegsflaggen einen Platz im kollektiven Gedächtnis verschafft. Seitdem tauchen solche Flaggen, die mit rechtsextremem Gedankengut in Zusammenhang gebracht werden, immer wieder auf. Schon bei der letzten Innenministerkonferenz im Dezember 2020 sahen die Regierungen in Bund und Ländern daher Handlungsbedarf. Statt eines anfangs angedachten generellen Verbots der Reichskriegsflaggen über den Straftatbestand der §§ 86 f. StGB, greifen sie nunmehr auf das Ordnungsrecht zurück. Die Innenministerkonferenz beschloss einen Mustererlass, den die Länder noch umsetzen müssen und der den Ordnungsbehörden Eingriffsmöglichkeiten gegen die Flaggen eröffnet. Mit dem Erlass verbannt der Staat die Flaggen damit von der Straße; die antidemokratischen Projektionen, für die die Flaggen eine Fläche bieten, bleiben aber bestehen und werden sich womöglich eine neue Symbolik suchen. Und was dann?
Mustererlass der Innenministerkonferenz
Den ersten Zug hatte Bremen im letzten Jahr mit einem ähnlichen Erlass gemacht, der an § 118 OWiG anknüpfte. Die Nutzung der Flaggen ist demnach als eine grob ungehörige Handlung anzusehen, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden oder die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Das war dem Verwaltungsgericht Bremen in zwei Entscheidungen (Beschl. v. 22.10.20, 5 V 2328/20 und v. 15.10.20, 5 V 2212/20) nicht differenziert genug. Es argumentierte, dass die Meinungs- und im konkreten Fall auch die Versammlungsfreiheit stärker zu berücksichtigen seien und für eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung weitere Umstände hinzutreten müssten. Diese hat der Mustererlass nunmehr laut Presseberichterstattung durch sechs Konstellationen konkretisiert. Grob ungehörig iSd § 118 OWiG ist das Flaggen-Wehen demnach: (1) Bei einer demonstrativen Präsentation der Flaggen „an einem Ort oder Datum mit historischer Symbolkraft“; (2) beim gleichzeitigen Skandieren „ausländerfeindlicher oder sonst einschüchternder“ Parolen; (3) bei Kombination mit „Symbolen mit Bezug zum Nationalsozialismus“; (4) wenn sie im Rahmen eines „bedrohlichen Auftretens“ zu „Einschüchterungswirkungen“ führen; (5) bei „paramilitärisch anmutenden“ Versammlungen sowie (6), wenn sie Assoziationen zu „Fahnenaufmärschen der Nationalsozialisten“ hervorrufen.
In diesen Fällen können die Einsatzkräfte die Flaggen sicherstellen und Verstöße mit bis zu 1000 Euro Bußgeld sanktionieren. Außerdem kann im Vorfeld einer Versammlung eine entsprechende Auflage erteilt werden.
Auf der einen Seite steht also die öffentliche Sicherheit und Ordnung, auf der anderen Seite die Meinungs- bzw. die Versammlungsfreiheit. Doch inwiefern sind diese Schutzgüter genau betroffen?
Öffentliche Ordnung als symbolische Ordnung
Soweit es um die öffentliche Sicherheit im Sinne der Sicherheit vor Aufwiegelung und zum Schutz der Grundrechte Dritter geht, bereitet der Erlass noch relativ wenig Kopfschmerzen. Würde mit der Reichskriegsflagge zum gewaltsamen Umsturz der Bundesrepublik aufgerufen, dann bedürfte es wahrscheinlich auch keiner weiteren rechtlichen Regelung mehr (vgl. § 130 StGB). Interessant ist der Erlass, soweit er über § 118 OWiG auf eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung Bezug nimmt.
Die Ordnung, die hier gemeint ist, ist genau genommen die symbolische Ordnung des demokratischen Rechtsstaats. Dass der Staat auf Symbole angewiesen ist, belegen alle Länderflaggen, zentrale staatliche Gebäude und Feiertage. Rudolf Smend hatte Flaggen und ähnliche Symbole daher auch als Mittler sachlicher Integration angesehen. Smend zufolge lässt sich die kaum zu fassende Fülle an Werten und die Bandbreite des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Symbolen verdichten und repräsentieren. Diese Qualität der Symbole können sowohl der Staat als auch die Staatsangehörigen nutzen: Zum einen kann der Staat, wie Smend unter Bezugnahme auf Hegel schreibt, „seine Unendlichkeit und Ehre in jede seiner Einzelheiten“ also zum Beispiel in seine Flaggen legen.1) Zum anderen bieten Symbole durch ihre – irrationale und individuelle – Verdichtung der Fülle eine intensivere Integrationskraft, dabei aber gleichzeitig auch eine größere Elastizität an. Die integrative Wirkung, die eine Identifikation der auf diese Weise befüllten Symbole eröffnet, löst dann aber auch – wie das Beispiel des Reichstagssturms im letzten Jahr zeigt – Unruhe aus, wenn Orte wie das Parlament von den falschen Symbolen eingenommen werden.
Tücken symbolischer Repräsentation
Die US-amerikanisch-deutsche Politikwissenschaftlerin Hanna Pitkin hat in ihrem grundlegenden Werk zu politischer Repräsentation „The Concept of Representation“ (1967) unter anderem auf diese Überlegungen Smends Bezug genommen, sie aber kritisch gewendet. Pitkin konstatiert zunächst einmal, dass Repräsentation bedeute, etwas im wörtlichen Sinne Abwesendes im nicht-wörtlichen Sinne (wieder) anwesend zu machen. Die Besonderheit bei der symbolischen Repräsentation bestehe jedoch darin, dass das Symbol keine in ihm selbst liegende Information vermittle. Ob eine Flagge schwarz-rot-gold oder schwarz-weiß-rot ist, hat für sich genommen keine Bedeutung. Laut Pitkin ist das Symbol leer, insoweit es sich entweder auf etwas Anderes bezieht oder Rezipient von etwas Äußerem ist. Dieses Andere sind zum Beispiel Emotionen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Projektionen.
Zwar räumt sie auch diesen eine Berechtigung in der politischen Auseinandersetzung ein. Als Repräsentationsmechanismus funktioniere es aber aufgrund des willkürlichen Zusammenhangs von Symbol und Symbolisierten nicht. Insofern wundert es nicht, dass es im Englischen auch das Wort missymbolizing, analog zum misrepresenting nicht gibt. Symbole lassen sich demnach nicht wirklich falsch benutzen oder interpretieren. Sie sind irrational und unkontrollierbar. Wenden wir diese Analysekategorien auf den Fall der Reichskriegsflaggen an, dann stellt sich die Frage, worauf sich diese beziehen und womit sie die Nutzer*innen aufladen.
Was weht denn da?
Das führt zur anderen Seite der Abwägung, zu den Meinungen der Fahnenwehenden, die geschützt werden sollen. Der Mustererlass bezieht sich auf die Kriegsflaggen des Norddeutschen Bundes/Deutschen Reiches von 1867 bis 1921, des Deutschen Reiches von 1922 bis 1933 und des Deutschen Reiches von 1933 bis 1935, sowie die Reichsflagge ab 1892 bzw. die Flagge des „Dritten Reichs“ von 1933 bis 1935. Gemeinsam ist diesen Flaggen, dass sie einen schwarz-weiß-roten Hintergrund wählen oder ein Kreuz in der Mitte tragen; sie unterscheiden sich von der schwarz-rot-goldenen Farbkombination, die in Art. 22 II GG festgelegt ist. Die Flaggen reproduzieren einen Streit, der vor allem in der Weimarer Republik hochgekocht ist. Die Farben Schwarz-Rot-Gold, zwar auch schon historisch belegt, wurden als Farben der neu gegründeten Republik vorgeschlagen. Ihnen stand der Antrag rechtskonservativer und monarchistischer Kräfte entgegen, die eine stärker antirepublikanische Tendenz vertraten. Der in Art. 3 WRV eingegangene Kompromiss einigte sich auf Schwarz-Rot-Gold als Farben des Reichs, Schwarz-Weiß-Rot als zentrale Farben der Handelsflagge. Die aufgezählten Flaggen verweisen also auf ein antirepublikanisches Moment; eindeutig ist das aber nicht. Ein generelles Verbot würde daher eine Meinung unterstellen, eine Interpretation vornehmen, die angreifbar wäre. Die rechtsextremistische Richtung erhalten die Flaggen durch den Kontext ihrer Verwendung, durch die Befüllung mit Ideologien (wobei man sich auch fragt, was die Fahnen heutzutage eigentlich sonst noch meinen sollen).
Teilerfolg oder Pyrrhussieg?
Damit bleibt das Problem: Sind die Meinungen, die die Demonstrierenden mit den Flaggen ausdrücken, schützenwert? Das ist normalerweise keine Frage, die der liberale demokratische Rechtsstaat stellt. Wenn eine Meinungsäußerung vorliegt, dann schützt er sie formal. Das hat die bekannten Vorteile, dass staatliche Institutionen nicht auf den Meinungspluralismus inhaltlich zugreifen und im Namen der Freiheit, Freiheiten einschränken.
Die auffälligste Ausnahme bilden die Regelungen in den §§ 86 f; 90 ff. StGB, die nationalsozialistisches Gedankengut aus dem politischen Diskurs ausschließen und die Verunglimpfung der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung unter Strafe stellen. Wie die Wunsiedel-Entscheidung zeigt, hat dieser Ausschluss das Bundesverfassungsgericht in mancherlei Hinsicht in eine argumentative Bredouille gebracht. Damals hat das Verfassungsgericht die großen Geschütze ausgepackt und das Grundgesetz als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus modelliert. Ein generelles Verbot von Reichskriegsflaggen über die Regelungen im Strafgesetzbuch wäre für diese zwar antirepublikanische, aber nicht eindeutig nationalsozialistische Symbolik vor diesem Hintergrund eine Kanone, die auf Spatzen schießt (vgl. dazu auch hier).
Der Mustererlass ist insoweit ein adäquaterer Umgang, weil er die Nutzung der Flaggen kontextualisiert und die rechtsextreme Prägung nicht pauschal unterstellt, sowie administrative und gerichtliche Ermessensspielräume lässt. Dabei greift er über § 118 OWiG aber auf eine ohnehin schon höchst unbestimmte Norm zurück und führt ein De-facto-Verbot über die Hintertür eine Auslegungsvorgabe ein.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Recht für das Problem der Flaggen das richtige Mittel ist. Es kann nicht rationalisieren, was irrational bleiben muss, ohne selbst irrational zu werden. Das Musterbeispiel für irrationale Rationalisierung in diesem Sinne ist die symbolische Gesetzgebung. Gemeint ist damit eine Gesetzgebung, die aufgrund der geringen Anzahl von potenziellen Fällen nicht darauf ausgelegt ist, einen Missstand durch das Gesetz einzudämmen, sondern stärker als Aussage über die symbolische Ordnung zu deuten ist. Es geht dann nicht um Effektivität, sondern um’s Prinzip.
Zwar handelt es sich bei dem Mustererlass nicht um ein Gesetz, aber auch in dem Erlass lässt sich eine Irrationalität ausmachen: Angst. Angst vor antidemokratischen Kräften, die weitere Bilder produzieren könnten, die den öffentlichen Raum einnehmen. Daran wird vielleicht auch deutlich, dass eine Kritik an der Irrationalität von Symbolen zu kurz greift. Mit dem Label „irrational“ können die Emotionen und Projektionen nicht ausgeschlossen werden, da sie notwendigerweise Teil der politischen Auseinandersetzung von allen Seiten sind.
Was den Mustererlass aber auch von symbolischer Gesetzgebung unterscheidet, ist, dass es tatsächlich und zunehmend auch Fälle gibt, auf die der Erlass Anwendung finden wird, es geht also auch um die Effektivität. Dann bleibt eigentlich nur noch eine pragmatische Überlegung: Bringt der Erlass was? Es liegt die Vermutung nahe, dass die Demonstrierenden bereits von den verbotenen Symbolen auf diese Flaggen ausgewichen sind. In ihrer Selbstwahrnehmung fühlen sie sich marginalisiert und dieser Eindruck wird sich durch ein De-facto-Verbot verstärken.
Selbst wenn im Kampf um die symbolische Ordnung durch den Ausschluss der Reichskriegsflaggen eine Schlacht gewonnen werden könnte, bleibt daher abzuwarten, ob es sich bei dem Sieg in dieser Schlacht am Ende nicht doch nur um einen Pyrrhussieg gehandelt hat.
References
↑1 | Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl., Berlin 2010, S. 163. |
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Vgl. auch Chistian Rath letzten Oktober in der taz zur gleichen Frage, der sich noch etwas deutlicher positioniert: https://taz.de/Verbot-von-Reichskriegsflaggen/!5717013