Zeitenwende? Zeitenwende!
Der Krieg in der Ukraine wird derzeit geradezu inflationär als eine Zeitenwende (Olaf Scholz) bezeichnet oder als der Beginn einer anderen Welt, in der die EuropäerInnen quasi über Nacht erwachten (Annalena Baerbock). Von einer Zeitenwende zu sprechen ist ein großes Wort. Eine Zeitenwende konfiguriert das identitäts- und orientierungsstiftende Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu, wenn im Koselleckschen Sinne Erfahrungsraum und Erwartungshorizont beginnen auseinanderzuklaffen. Dem linearen europäischen Zeitregime der Moderne folgend, sprechen Politik und Medien nunmehr davon, dass Putins Angriffskrieg einen unzeitgemäßen Erfahrungsraum darstellt, der unserem europäischen und mithin modernen Erwartungshorizont zuwiderläuft. Der Krieg demonstriert die Rückkehr eines Politikstils, der längst überwunden und vergangen geglaubt wurde: die traditionelle Großmachtpolitik, die Kriege um Territorien und Grenzverschiebungen „kleinerer Staaten“ nicht ausschloss, sondern als legitimes Mittel der Politik und Machtbalance stets mitdachte und ausführte. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach im Übrigen bereits während der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland in ihrer Regierungserklärung am 13. März 2014 im Bundestag davon, dass es sich bei dieser Verletzung der territorialen Einheit und staatlichen Souveränität der Ukraine um einen „Konflikt wie im 19. oder 20. Jahrhundert“ handelt, „ein Konflikt, den wir für überwunden gehalten haben. „Aber“, so Merkel ebenfalls an einem Donnerstag, „offensichtlich ist er nicht überwunden.“ Wenn die Zeitenwende der Gegenwart also vor mindestens acht Jahren begann, darf gefragt werden, was in der Zwischenzeit so passiert oder eben nicht passiert ist, dass eine längst überfällige Beobachtung noch als grundstürzende Erkenntnis verkauft werden kann.
Dass allzu Offensichtliches in einer zu Superlativen neigenden politischen Rhetorik aufgewärmt und „hocheskaliert“ wird, ist nicht das einzige Problem, dass sich mit der Rede von der Rückkehr eines überwunden geglaubten Politikstils verbindet. Aus historiographischer Perspektive betrachtet, ist sie aus mindestens zwei Gründen problematisch. Einerseits verkennt die Rhetorik den Charakter der traditionellen Großmachtpolitik, die in der Geschichte auch eine Form des europäischen Friedenssystems war. Ihren Vertretern, Diplomaten und Monarchen, ging es nicht allein um Krieg und Machthunger, sondern auch um eine stabile europäische Ordnung. Sie muss nicht die unsere sein, doch dazu ist Geschichte ohnehin nicht da. Andererseits ist fraglich, ob diese traditionelle Großmachtpolitik jemals verschwunden war. Beiden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden. Wovon sprechen also HistorikerInnen, wenn sie die Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts betrachten? Prinzipiell ist ein System der politischen und diplomatischen Friedenssicherung über und durch die Machtbalance der Großmächte gemeint; ein System, das nach den antinapoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress von 1815 installiert wurde, um das imperiale Übergewicht eines einzelnen europäischen Staates zu verhindern und so den Frieden in Europa zu bewahren. Zur so genannten Pentarchie der europäischen Machtstaaten gehörten Frankreich, das Königreich Preußen, die Habsburger Monarchie, das britische Empire und das Russländische Imperium (bis zur bolschewistischen Revolution im Jahr 1917). Die Friedenssicherung in Europa auf der Grundlage der multipolaren Fünfherrschaft basierte freilich auf einem asymmetrischen Machtverständnis, das nationale oder gar nationalstaatliche Emanzipationsbestrebungen der so genannten kleinen Völker ignorierte oder gar bekämpfte. Die „kleinen Völker“ hatten ebenfalls im Zuge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege gerade erst begonnen, ihren Verbleib in den Imperien wie der Habsburger Monarchie, dem Osmanischen Reich oder dem Zarenreich infrage zu stellen. Für die „Pentarchie“ aber blieben die Gebiete Ost- und Südosteuropas weiterhin eine politische Verfügungsmasse, die im Interesse der Bewahrung der europäischen Machtbalance geteilt, zugeschlagen oder abgetrennt werden konnten. Die dazu nötigen „kleinen“ Kriege waren das legitime Mittel, um den „großen“ Krieg auf dem Kontinent zu vermeiden. Selbst als aus den Nationalbewegungen um die Wende zum 20. Jahrhundert Nationalstaaten wie die Königreiche Serbien, Bulgarien oder Rumänien entstanden waren, regierten dort Prinzen und Fürsten aus den Dynastien der Wittelsbacher oder Sachsen-Coburg-Gotha. Um zu existieren bedurften die „kleinen Staaten“ einer Schutzmacht und letztendlich wurden ihre Grenzen weiterhin von den Großmächten gezogen, wie die europäischen Konferenzen um die Balkankriege 1912/1913 kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs offenbarten.
Der Erste Weltkrieg schien das Europa der Großmächte und ihrer Kabinettspolitik zu beenden. Die kontinentalen Imperien zerfielen in Staaten, denen nicht zuletzt das Vierzehn-Punkte-Programm des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ein staatliches Souveränitätsrecht, verbunden mit territorialer Integrität zuerkannte. Der ebenfalls in Wilsons Programm für den modernen Frieden in Europa vorgeschlagene Völkerbund und das moderne Völkerrecht sollten für die Sicherheit dieses Souveränitätsrechts sorgen. War dies das Ende der europäischen Großmachtpolitik und „territorialer Verhandlungsmassen“? Mitnichten. Die neu gegründeten Staaten Polen, die Tschechoslowakei und die Ukraine, die 1918 ihre Unabhängigkeit ausrief, blieben im Zweifelsfall und im Angesicht drohender großer Kriege weiterhin Verhandlungsmasse. Es war der britische Premierminister Neville Chamberlain, der sich im September 1938 als Bewahrer des Friedens in Europa gerierte, nachdem er im Einklang mit dem französischen Premierminister Edouard Daladier und Benito Mussolini die Sudentengebiete auf der Münchner Konferenz aus der Tschechoslowakei herauslöste und dem „Dritten Reich“ Hitlers übertrug. Die tschechoslowakische Regierung konnte der „ohne uns und gegen uns getroffenen Entscheidung“ letztendlich nur zustimmen. Sie saß nicht einmal am Verhandlungstisch.
Der Kalte Krieg wurde in Europa auch zum „langen Frieden“ (John Lewis Gaddis), weil die Nachkriegskonferenzen der Siegermächte über Territorien verhandelten, Interessen anerkannten und Einflusssphären verteilten. Als ziemlich berüchtigtes Beispiel für die Longue durée einer ideologieübergreifenden europäischen Großmachtmentalität kann das so genannte Percentages-Agreement (Prozent-Abkommen) gelten, das Großbritanniens legendärer Realpolitiker Winston Churchill und der sowjetische Diktator Stalin auf der Moskauer Konferenz im Oktober 1944 vereinbarten. Beide verhandelten über den Einfluss in Ost- und Südosteuropa: Fifty-Fifty in Jugoslawien, Fifty-Fifty in Ungarn, während Rumänien und Bulgarien klar der sowjetischen Sphäre zugeschrieben wurden. In Europa waren die Claims abgesteckt. Die Stellvertreterkriege um – na, Einflusszonen und Interessensphären – fanden außerhalb Europas statt, verschwunden waren sie nicht. Führten sie dort, wie in der Kuba-Krise 1962 beinahe geschehen, zu empfindlichen Störungen der Machtbalance, wurde diese durch Kompromisse beider Supermächte wiederhergestellt. Es gilt in der Geschichtswissenschaft mittlerweile als belegt, dass der sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow in der Kuba-Krise nicht an einer Eskalation interessiert war, sondern der Druck eher von Fidel Castro und der kubanischen Revolutionsregierung ausging.
Mit dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung verknüpft, dass der „lange Frieden“ global in eine Zeit der demokratischen und marktwirtschaftlichen Prosperität führen würde. Momentan wird diese Hoffnung als so genannte Friedensdividende bezeichnet, die in der Gegenwart aufgebracht scheint. Tatsächlich genoss Europa die Dividende volle zwölf Jahre – bis zum 11. September 2001; ein Datum, das ebenfalls als Zeitenwende bezeichnet wird. Seitdem dominiert eine globale Unruhe, die mit Russlands Einmarsch in die Ukraine als Krieg in Europa Einzug gehalten hat. Wie die neue Weltordnung aussehen wird, werden wir erst in ein paar Jahren wissen. Ist die Angst der so genannten kleinen Staaten in Europa in dieser Situation wieder zur Verfügungsmasse der großen Staaten zu werden berechtigt? Sicher. Die Ukraine, die baltischen Staaten, Polen und die Länder Südosteuropas wissen, dass die alte Mentalität nicht verschwunden ist. Würden sie auf die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki von 1975 vertrauen, würde die Ukraine nicht unter den rechtlich verbindlicheren Schutzschirm der NATO flüchten wollen und die Republik Moldau hätte ebenso wenig wie Georgien und die Ukraine einen Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union gestellt. Ihrer historischen Erfahrung zufolge steht im Regen (oder im Bombenhagel), wer es nicht unter einen Schutzschirm schafft. Wie sicher dieser tatsächlich ist, bleibt abzuwarten. Im Frühjahr 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich der von Hitler und Stalin bedrohten Zweiten Polnischen Republik eine umfassende Garantie, die am 25. August 1939 – wenige Tage vor Hitlers Überfall auf Polen – noch einmal verstärkt wurde, um nach dem 1. September nicht mehr das Papier wert zu sein, auf dem sie stand.
Die historische Erfahrung, im Namen des europäischen Friedens, der im 20. Jahrhundert oft nur den Frieden für eine Hälfte des Kontinents meinte, hilflos zu sein, motiviert den Widerstand der Ukrainer ganz beträchtlich. Um die Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu verteidigen, bleibt nur die Flucht nach vorn. In erster Linie geht es natürlich darum, den Aggressor abzuwehren und Putin die Stirn zu bieten. Darüber hinaus aber auch um den Appell an Europa, den Osten nicht wie so oft in der Geschichte zur Verhandlungsmasse werden zu lassen. Die Frage, was mit der Ukraine geschieht, wenn Putin gewinnen sollte und das Land vollständig besetzt, hängt wie ein Damoklesschwert über den Solidaritäts- und Beistandserklärungen. Wird sie „geopfert“ werden, auf einer internationalen Konferenz, um für den Rest des Kontinents den Frieden zu wahren? Das wäre eine moralische Kapitulation. Historisch betrachtet ist es kein abwegiges Szenario. Fast zwingt die Ukraine derzeit das westliche Europa und – wie an den Paradigmenwechseln zu erkennen ist – auch Deutschland aus der Komfortzone und zu nachgerade unhistorischem Verhalten. Sollte Europa die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der mit dem Mut der Verzweiflung kämpfenden Ukrainer tatsächlich dauerhaft und sicher schützen, so wäre dies tatsächlich ein Novum, eine Zeitenwende und ein wirklicher Bruch mit der historischen Großmachtlogik. Die Rede von ihrer ungewollten Rückkehr lässt dagegen Schlimmes ahnen.
Dieser Text referiert und reflektiert, dass der erste und der zweite Weltkrieg zu den Nationalstaaten geführt haben, die seit 45 bestehen, und dass diese Nationalstaaten auch vor und nach dem Eisernen Vorhang des Kalten Kriegs in ihrer Freiheit eingeschränkt sind durch die von Großmächten festgeleten Einflusssphären.
Ich möchte ein ethnographisch-soziologisch-politologisches Argument bringen. Könnte es sein, dass die Ukraine angegriffen wird von Russland, weil sie divers ist? Mit divers meine ich, dass es mehrere Bevölkerungsgruppen gibt und die Ausübung von Macht nicht von einer Bevölklerungsgruppe dominiert wird, sondern die Macht geteilt wird.
Die Ukraine ist, so scheint mir, der einzige Staat, der noch die Diversität hat, die bis 1945 alle Nachbarstaaten auch hatten. Nun überfällt Russland die Ukraine und meint, dass es das Recht hat, die Diversität zu beenden und durch russische Herrschaft ersetzen. Damit würde der in meinen Augen letzte Staat in Europa, der noch die Diversität von 1914 trägt, zu einem durch Majorisierung der Minderheiten geprägten.
Es trifft wohl zu, dass der Ukraine-Konflikt ein Kampf um Einflusszonen ist und solche Kämpfe nie wirklich aufgehört haben. Aber mir scheint, im Narrativ “Es war schon immer so” gehen leicht die Spezifika des Konflikts, z.B. der Revanchismus eines Teils der russischen Eliten, verloren.
Auch die Ausgangsthese, kleine Länder als Verfügungsmasse zu behandeln, sei ein Instrument der Friedenssicherung, kommt mir gewagt vor. Ist es nicht eher so, dass sich an diesem Verfügen zeigt, dass die Balance der Großmächte ins Rutschen gekommen ist? Chamberlains Appeasement-Versuch war jedenfalls nicht erfolgreich.