04 March 2022

Was will die „letzte Generation“?

Ein juristischer Zwischenruf in einer aufgeheizten Debatte

Seit einigen Wochen sorgt die so genannte „letzte Generation“ mit spektakulären Aktionen für bundesweites Aufsehen. Neben Hauptverkehrsstraßen und Flughäfen blockierten Aktivisten auch das Landwirtschaftsministerium. Im Mittelpunkt des Protests steht dabei die Forderung, ein sog. „Essen-retten-Gesetz“ zu verabschieden.

Dieses Gesetz möchte auf ein drängendes Problem reagieren, setzt in der jetzigen Form jedoch nicht an den erforderlichen Stellschrauben an. Selbst wenn dieser Vorschlag umgesetzt werden würde, kann die gewollte effektive Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung in der Form nicht erreicht werden.

Was wollen die Aktivisten?

Hinter der Forderung, gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen, steckt das übergeordnete Ziel der „letzten Generation“, für den Klimaschutz einzutreten. Nur noch ihrer Generation sei es möglich, eine Klimakatastrophe zu verhindern. Viele Aktivisten der „letzten Generation“ praktizieren, teilweise im Rahmen von Protestaktionen, das sog. Containern, also die Entnahme noch genießbarer Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen, um sie zum Verzehr zur Verfügung zu stellen.

Bei der Kernforderung, der Verabschiedung des „Essen-retten-Gesetzes“, handelt es sich um einen Gesetzesvorschlag, den die Initiative „GermanZero“ ausgearbeitet hat. Nach dem Gesetz soll es Supermärkten verboten werden, noch genusstaugliche Lebensmittel wegzuwerfen. Dabei wird auf das französische Gesetz LOI n° 2016-138 verwiesen. Dieses verpflichtet Lebensmitteleinzelhändler, deren Verkaufsfläche größer als 400 m² ist, genusstaugliche Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden sollen, an Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. Zudem sieht der Gesetzesvorschlag vor, die Haftung von Supermärkten bei Lebensmittelspenden auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu begrenzen. Dies umfasst die Überprüfung der Waren auf offensichtliche Mängel, die produktgerechte Lagerung und Einhaltung der Kühlkette sowie die Sicherstellung der erforderlichen Hygienestandards.

Juristischer Hintergrund

Um die Forderungen richtig einordnen zu können, muss zunächst die lebensmittelrechtliche Haftung beleuchtet werden. Die allgemeinen Haftungsregelungen für Lebensmittel finden sich in der Lebensmittelbasisverordnung VO (EG) Nr. 178/2002 (BasisVO). Das Ziel der Verordnung ist dabei vor allem, einen hohen Gesundheits- sowie Verbraucherschutz zu gewährleisten. Dementsprechend hoch sind die Anforderungen an die Verantwortlichen. Der Hauptadressat für die Einhaltung der Anforderungen des Lebensmittelrechts ist gem. Art. 17 Abs. 1 BasisVO der Futtermittel- bzw. Lebensmittelunternehmer. Zu diesen Anforderungen gehört neben der Lebensmittelhygiene vor allem die Lebensmittelsicherheit. Nach Art. 14 Abs. 1 BasisVO dürfen unsichere Lebensmittel nicht in Verkehr gebracht werden. Inverkehrbringen meint dabei gem. Art. 3 Nr. 8 BasisVO jede Form der Weitergabe, unabhängig davon, ob unentgeltlich oder nicht. Davon sind auch Spenden erfasst. Folglich haben Einzelhändler, wenn sie Lebensmittel spenden wollen, auf deren Qualität und Sicherheit zu achten.

Hiermit ist ein weiteres Problem verknüpft: Um die Qualität der Spenden zu überprüfen und Spendenvorgänge zu koordinieren, bedarf es geschulten Personals. Für Einzelhändler kann es daher schlicht einfacher sein, Lebensmittel wegzuwerfen, anstatt den bürokratischen Mehraufwand selbst bei Kleinstspenden in Kauf zu nehmen.

Auf der anderen Seite stehen die Empfängerorganisationen von Lebensmittelspenden, allen voran die Tafeln. Auch sie sind Lebensmittelunternehmen im Sinne des Art. 3 Nr. 2 BasisVO, da sie eine mit dem Vertrieb von Lebensmitteln zusammenhängende Tätigkeit ausführen. Für die Einstufung als Lebensmittelunternehmen ist es dabei irrelevant, dass Tafeln nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Dem Gesundheitsschutz wird in der EU eine so hohe Bedeutung beigemessen, dass ein einheitlicher Standard entlang der Lebensmittelkette eingehalten werden muss. Empfänger- und Spenderorganisationen haben somit dieselben Standards beim Vertreiben von Lebensmitteln einzuhalten. Es liegt auf der Hand, dass kleinere Tafeln vor Ort nicht dieselben Möglichkeiten haben, diese Standards einzuhalten, wie global operierende Lebensmittelhersteller.

Deswegen stellen auch die Tafeln hohe Anforderungen an die gespendeten Lebensmittel. Sie dürfen zwar Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, annehmen und weitervertreiben, jedoch müssen auch die Tafeln für die Qualität und Sicherheit der Lebensmittel einstehen. Viele nehmen daher solche Lebensmittel gar nicht erst an. Es erscheint fraglich, ob dieses Ergebnis durch die gängigen Regelungen wirklich gewollt war.

Umsetzbarkeit der Forderungen

Keine Lösung für die eben skizzierte Problematik ist das Containern. Selbst wenn man das Containern von Lebensmitteln aus dem Straftatbestand des Diebstahls ausklammern würde, stünden Lebensmittelhändler vor dem Problem, bei Erkrankungen infolge des Verzehrs gegebenenfalls zu haften, da die Entsorgung von Lebensmitteln unter den weit gefassten Tatbestand des Inverkehrbringens fällt. Dies ist in Art. 3 Nr. 8 BasisVO geregelt. Die BasisVO kann als unmittelbar geltende unionsrechtliche Verordnung nicht einfach durch einzelstaatliche Gesetze geändert werden. Hier ist also ein Handeln auf unionaler Ebene erforderlich.

Interessant erscheint dagegen der Ansatz, Supermärkte nach französischem Vorbild zu verpflichten, noch verzehrtaugliche Lebensmittel zu spenden. Dieser Vorschlag ist auch dahingehend lobenswert, dass nicht nur Lebensmittel davor bewahrt werden, im Müll zu landen, sondern gleichzeitig eine Umverteilung an Bedürftige erfolgt. Allerdings würde sich in diesem Fall weiterhin das Problem einer möglichen Haftung von Lebensmittelhändlern stellen. Der Gesetzesvorschlag von „GermanZero“ greift dies auf. So sollen Lebensmittelhändler etwa diverse Anforderungen bei einer Spende beachten müssen (z.B. eine Mindesthaltbarkeit beim Verbrauchsdatum von 48 Stunden am Spendentag).

Daneben wird in dem Gesetzesvorschlag von „GermanZero“ – ebenfalls wie in Frankreich – keine Mindestmenge an Spenden vorgeschrieben. Das bedeutet, dass der Einzelhändler seiner Spendenverpflichtung bereits dann nachkommt, wenn er lediglich 1% der nicht verwendeten Lebensmittel spendet. Es gäbe dann allerdings weiterhin Lebensmittelunternehmer, die Lebensmittel wegwerfen und nur einen Teil ihrer Ware spenden würden.

Ein weiteres Problem betrifft die Organisation der Lebensmittelhilfsorganisationen. Die deutschen Tafeln sind dezentral organisiert. Diese bauen vor Ort direkte Kooperationen mit den Einzelhändlern auf. In Frankreich wiederum besteht durch Lebensmittelbanken eine zentrale Verteilerstruktur. Diese sind darauf spezialisiert, mit weiten Lagerflächen Großspenden in Empfang zu nehmen. Die bloße Übertragung des französischen Modells auf Deutschland hat damit zum Problem, dass eben diese überregionale Struktur fehlt. Im Ergebnis könnten vor allem kleinere Tafeln nicht alle gespendeten Lebensmittel aufgrund fehlender Lagerkapazitäten annehmen.

Eine Möglichkeit, auf die oben angesprochene Haftungsproblematik zu reagieren, bestünde darin, die Haftung der Supermärkte bei Lebensmittelspenden auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Lebensmittelbasisverordnung unmittelbar geltendes Unionsrecht ist. Es stellt sich also die Frage, ob die strikte Haftung der Lebensmittelunternehmer, darunter vor allem die Haftung der Tafeln, überhaupt auf nationaler Ebene abweichend geregelt werden kann.

Weitere Ansätze

Es gibt jedoch Ansätze, die es ermöglichen, Lebensmittelspenden für Einzelhändler attraktiver zu machen. In Frankreich gab es bereits vor dem Gesetz zur Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung steuerliche Anreize zum Spenden. Diese werden von „GermanZero“ allerdings mit der Begründung abgelehnt, dass ein stärkerer Anreiz für eine bessere Einkaufsplanung gesetzt werden sollte.

Italien verfolgt einen anderen Ansatz, um das Spenden von Lebensmitteln zu vereinfachen. Bereits 2003 wurde mit dem „Guter-Samariter-Gesetz“ legge 155/2003 ein Gesetz verabschiedet, welches die Haftung der Wohltätigkeitsorganisationen massiv beeinflusst. Wohltätigkeitsorganisationen, wie etwa Lebensmittelbanken, gelten hier nämlich nicht als Lebensmittelunternehmer, sondern werden als Endverbraucher qualifiziert. Während Einzelhändler gegenüber den Wohltätigkeitsorganisationen weiterhin dieselben Haftungsmaßstäbe zu erfüllen haben wie gegenüber privaten Verbrauchern, unterliegen Lebensmittelbanken weniger hohen Standards. Unterstellt, diese Auslegung des Endverbraucherbegriffs ist unionsrechtskonform (was durchaus bezweifelt werden kann), so ergibt sich als positive Folge, dass die Haftungserleichterung den Tafeln zugutekommt.

Der richtige Weg?

Unabhängig von der Frage, wie tragfähig die Ideen der „letzten Generation“ sind, stellt sich abschließend jedoch die Frage, ob die oben genannten Maßnahmen die richtigen Adressaten treffen. Denn lediglich 5 % der Lebensmittelverschwendung sind auf den Groß- bzw. Einzelhandel zurückzuführen, während die privaten Haushalte mit 53 % für den Großteil der Lebensmittelverschwendung verantwortlich sind. Es ist daher jedenfalls auch erforderlich, die Aufmerksamkeit der Verbraucher auf ihr eigenes Verhalten zu lenken.

Schließlich soll erwähnt werden, dass sich inzwischen ebenfalls die Europäische Union mit dem Problem der Lebensmittelverschwendung befasst. Im Rahmen der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung haben sich die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung pro Kopf auf Einzelhandels- und Verbraucherebene bis 2030 zu halbieren und die Lebensmittelverluste entlang der Produktions- und Lieferketten zu verringern. Als ersten Schritt hat die Kommission hierzu einen delegierten Beschluss erlassen, um eine gemeinsame Methodik und Mindestqualitätsanforderungen für die einheitliche Messung des Umfangs von Lebensmittelabfällen sicherzustellen


SUGGESTED CITATION  Springer, Laura: Was will die „letzte Generation“?: Ein juristischer Zwischenruf in einer aufgeheizten Debatte, VerfBlog, 2022/3/04, https://verfassungsblog.de/was-will-die-letzte-generation/, DOI: 10.17176/20220305-001104-0.

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