Die nukleare Option als ultima ratio im Ukraine-Krieg
Das IGH-Gutachten von 1996 lässt eine Fluchttür, die es zu verschließen gilt
Die nukleare Drohung ist ein ständiger Begleiter des Ukraine-Krieges – von seinen Anfängen über alle bisherigen Wendungen hinweg. Ausgerechnet ein IGH-Gutachten von 1996 hält die Tür zu einem zulässigen Einsatz von Nuklearwaffen einen Spalt weit offen, durch den die russische Föderation mit der Macht der Faktenverdrehung drängt. Es wird Zeit, den Einsatz von Nuklearwaffen pauschal zu ächten und zu verbieten.
Bloße Abschreckung oder Recht des Stärkeren?
Mit nuklearen Drohungen hat sich im Besonderen der frühere Präsident und jetzige stellvertretende Leiter des russischen Sicherheitsrats Dmitri Medwedew hervorgetan. Den jüngsten Anlass für nukleare Drohgebärden boten neben dem sich abzeichnenden NATO-Beitritt der skandinavischen Ländern Schweden und Finnland die kontinuierliche und sich laufend verstärkende Resilienz der ukrainischen Armee, auch und gerade als Folge massiver westlicher Militärhilfe. Die Gefahr eines möglichen Atomkriegs begründete er dabei folgendermaßen:
„Nato-Länder, die Waffen in die Ukraine pumpen, Truppen für den Einsatz westlicher Ausrüstung ausbilden, Söldner entsenden und die Übungen von Bündnisstaaten in der Nähe unserer Grenzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines direkten und offenen Konflikts zwischen der NATO und Russland“.
Damit baut Medwedew weiter an der Drohkulisse, die Präsident Putin schon am Tag der russischen Aggression, am 24. Februar 2022, schuf. Putin hat zwar nicht explizit, aber dennoch unmissverständlich eine nukleare Eskalation für den Fall einer Waffenhilfe für die Ukraine in Aussicht gestellt, indem er „Folgen, wie man sie zuvor in der Geschichte nicht kannte“ ankündigte.
Unendlich weit entfernt scheint damit der Beginn des Jahres 2022, als die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – und damit auch Russland – geschlossen den Einsatz von Atomwaffen ablehnten und verurteilten.
Paradoxerweise spielte die nicht völlig auszuschließende „nukleare Option“ den gesamten Konflikt hindurch zugleich eine eskalierende und deeskalierende Rolle. Deeskalierend wirkte die – explizite oder implizite –Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen in der Hinsicht, als sie einer weiteren Ausdehnung des Konflikts über die beiden unmittelbaren Konfliktparteien hinaus entgegenstand. Eskalierend wiederum wirkte der Umstand, dass Russland den ursprünglichen Angriff und die fortdauernden Kriegshandlungen trotz Völkerrechtswidrigkeit unternehmen konnte – im Vertrauen auf das faktische Recht des Stärkeren, das das nukleare Waffenarsenal zu verleihen scheint.
Die nukleare Drohung präjudizierte bislang alle Handlungsalternativen und Entscheidungen. Die zentrale Frage der Waffenhilfe durch den Westen bzw. durch die Nachbarstaaten stand durchwegs im Schatten der überragenden Gefahr eines russischen atomaren Gegenschlags. Das Maß der gewährten Hilfe zur Selbstverteidigung orientierte sich an der Intensität der (wahrgenommenen) nuklearen Bedrohung, unabhängig von der rechtlichen Beurteilung des Angriffs im Lichte des Art. 2 Abs. 4 der Satzung der Vereinten Nationen und der Selbstverteidigung auf der Grundlage von Art. 51 der Satzung. Was hat das Völkerrecht dazu zu sagen? Welche Optionen stehen der Staatengemeinschaft hier offen?
Das IGH-Gutachten im Lichte russischer Fake-News
Medwedew verwies auf die russische Sicherheitsdoktrin aus 2020, die nukleare Gegenschläge auch im Falle eines konventionellen Angriffs erlaubt. Auf den ersten Blick könnte eine solche Äußerung sogar eher beruhigen, denn verängstigen, kann doch die Ukraine in sachlicher Betrachtung sicherlich nicht eines Angriffs geziehen werden, weder nuklearer noch konventioneller Art. Zweifelsohne ist sie Opfer einer (bislang konventionell geführten) Aggression. Zudem ist die russische Sicherheitsstrategie des Jahres 2020 – soweit sie sich auf Nuklearwaffen bezieht – grundsätzlich auf Abschreckung und nicht auf Angriff ausgerichtet.1)
Das Problem ist allerdings, dass in diesem Konflikt Fakten in großem Stil verdreht werden und das Opfer des Angriffs, die Ukraine, von russischer Seite als Aggressor dargestellt wird, während Russland sich selbst als Schutzmacht des manipulierten und unterdrückten Brudervolkes präsentiert. Der argumentative Schritt hin zur Behauptung einer Selbstverteidigungssituation ist auf dieser Grundlage nicht mehr weit, insbesondere wenn sich die militärische Lage gegen Russland wenden oder Irrationalität auf der Seite des Aggressors definitiv die Oberhand erlangen oder – soweit dies überhaupt noch möglich ist – eine weitere Steigerungsstufe erfahren sollte.
Auf rechtlicher Ebene verschärft die Tatsache, dass das einschlägige Völkerrecht Auslegungsspielräume offen zu lassen scheint, diese Problematik weiter. Maßgeblicher Referenzpunkt ist das IGH-Gutachten des Jahres 1996 über die Zulässigkeit der Drohung mit und des Einsatzes von Atomwaffen. Es ist dem IGH zugute zu halten, dass er den Einsatz und die Drohung mit Nuklearwaffen im Prinzip für unvereinbar mit dem geltenden Völkerrecht qualifiziert hat. Dabei hat er maßgeblich auf das humanitäre Völkerrecht Bezug genommen: die unterschiedslose Wirkung von Nuklearwaffen (die nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden), die Zufügung unnötigen Leids durch solche Waffen (auch gegenüber Kombattanten) und die sogenannte Martensche Klausel, die in jedem Fall die Einhaltung humanitärer Grundprinzipien im Krieg verlangt, stehen dem Einsatz von Atomwaffen klar entgegen.
Aber der IGH ließ 1996 auch eine Fluchttür offen: Er wollte sich nicht zur Frage äußern, wie ein Staat auf eine extreme Bedrohung reagieren dürfe, die seine Existenz bedroht. Schon 1996 wurde diese Ausnahme zugunsten der Nuklearmächte massiv kritisiert. Auch auf die Frage der Umweltschäden durch den Einsatz von Atomwaffen ist der IGH nicht hinreichend eingegangen. Angesichts der Entwicklungen im letzten Vierteljahrhundert wären diese Fragen heute wohl in einer ganz neuen Perspektive anzugehen. Ein uneingeschränktes Verbot der Drohung mit und des Einsatzes von Atomwaffen würde sich in das Gesamtsystem der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung wohl besser fügen und auch jene Lücken schließen, die von autoritären Kriegsherren allzu leicht missbraucht werden können. Denn auf den ersten Blick könnte die Auffassung vertreten werden, dass die russische Verteidigungsdoktrin nicht wesentlich über die Grenzen hinausgehe, die das IGH-Gutachten des Jahres 1996 gesetzt hat. Wenn hier differenziert werde, dann sei die Unterscheidung eher akademischer Natur. Zwar wird der Einsatz von Nuklearwaffen im russischen Dokument von 2020 als legitime Reaktion auf einen Angriff dargestellt und nicht – gemäß dem IGH-Ansatz – als (mögliche) Ausnahme in einer weitgehend ungeregelten Extremsituation (und geht damit über die 1996 gesteckten Grenzen hinaus). Wer dieser Unterscheidung aber zu großes Gewicht einräumen wolle, der übersehe den Umstand, dass letztlich die Unterscheidung zwischen (stark limitiertem, aber dennoch klar geregeltem) Sonderrecht und (vage umrissenem, sich möglicherweise knapp unterhalb der Grenze zur Normativität stehendem) Ausnahmerecht viele Grauzonen aufweise und letztlich politischer Natur sei. Tatsächlich hatte die – wenn auch nur theoretische, für Extremsituationen gedachte, gar nicht explizite, sondern als Möglichkeitssituation qualifizierte – Zulassung eines Nuklearwaffeneinsatzes dadurch einen legitimierenden, den Nuklearwaffeneinsatz potentiell fördernden Effekt. Nachdem mehr als ein Vierteljahrhundert seit der Veröffentlichung des nicht unproblematischen IGH-Gutachtens vergangen ist, wäre nun wohl der Zeitpunkt für eine Klärung, auch im Lichte der zwischenzeitlich erfolgten Fortentwicklung des Völkerrechts.
Ausblick
Damit wären wir auf der Suche nach neuen Verfahren, die es vermögen, die Frage der Zulässigkeit des Nuklearwaffeneinsatzes zu präzisieren. Der IGH könnte sich mit einem Gutachtensansuchen neuerlich damit befassen, wenngleich dazu hohe Hürden zu überwinden wären. Es gibt innerhalb der Vereinten Nationen aber genügend andere Wege, um weitere Fortschritte auf dem Weg zur Ächtung eines Nuklearwaffeneinsatzes zu erzielen. Die Befassung der Generalversammlung der Vereinten Nationen – durchaus unter Bezugnahme auf die hier eingangs zitierte Äußerung des Sicherheitsrats, die in dieser Form gegenwärtig wohl nicht mehr zu erreichen wäre – könnte wertvolle Beiträge in diesem Sinne herbeiführen.
Dabei ginge es nicht darum, die Generalversammlung etwa im Sinne der „Uniting-for-Peace-Doktrin“ an die Stelle des Sicherheitsrats zu setzen. Vielmehr kann die Generalversammlung, unabhängig von der formellen Rechtsnatur ihrer Resolutionen Äußerungen kundtun, die in gehöriger Sprache und mit breitem Konsens einen wichtigen Beitrag zur weiteren Ausformung von entsprechenden Rechtsüberzeugungen leisten können. Auch an eine Erweiterung des „Responsibility-to-Protect“-Ansatzes2), der zu Unrecht letzthin an Ansehen verloren hat, wäre zu denken. In diesem Zusammenhang könnte der Generalversammlung eine qualifizierte Verantwortung für die Brandmarkung schwerer Völkerrechtsverstöße und für das Aufzeigen von Lösungsalternativen zugedacht werden.
Mag damit auch der Einsatz von Nuklearwaffen nicht definitiv verhindert werden können, so stünde damit zumindest von vornherein fest, wo Recht und wo Unrecht stehen.
References
↑1 | “Nuclear deterrence is carried out continuously in peacetime, during the period of direct threat of aggression, and in wartime, up to when nuclear weapons begin to be used”. Vgl. CNA, Foundations of State Policy of the Russian Federation in the Area of Nuclear Deterrence, Juni 2020. Übersetzung durch die CIA, Abs. 11. |
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↑2 | Vgl. dazu P. Hilpold (Hrsg.), Responsibity to Protect (R2P), Brill/Martinus Nijhoff 2015. |