Folgt dem Geld
Fünf Jahre ist es her, dass ich und und viele andere durch die europäischen Innenstädte gezogen sind, von Euro-Patriotismus ergriffen, die blaue Fahne mit dem gelben Sternenkreis schwenkend, mit tränenerstickter Stimme die Euro-Hymne singend: The Pulse of Europe pochte stark und lebendig in den Adern der transnationalen urbanen Eliten – das war das Zeichen, das diese Demos senden sollten, ein Zeichen gegen den Brexit, gegen Trump, gegen die AfD, gegen Marine Le Pen, gegen den Anschein, dass den Euroskeptikern die Zukunft gehört.
Schauplatz der Pulse-of-Europe-Demos in Berlin war damals der Bebel-Platz, eine gepflasterte Fläche zwischen der Oper und der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mitten im kryptopreußischen Zentrum der Bundeshauptstadt. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite von Unter den Linden, liegt das Hauptgebäude der Humboldt-Uni. Dort habe ich heute und gestern an einer faszinierenden Konferenz teilgenommen. Einer der Eindrücke, die ich dort empfangen habe, ist dieser: Es ist an der Zeit, das Wort “Euroskeptiker” aus dem innenpolitischen Wortschatz der Gegenwart auszurangieren. Es bezeichnet nichts mehr, suggeriert Kontinuitäten, wo keine sind, und eignet sich dazu, dringend notwendige verfassungspolitische Kontroversen zu delegitimieren und abzutöten.
“Follow the Money” war der Titel dieser Konferenz, organisiert von Ruth Weber und dem DYNAMINT-Graduiertenkolleg, und es ging dabei aus rechtlicher, ökonomischer und politischer Perspektive um die unvorstellbaren Mengen an Geld, die die Europäische Union gerade unter die Leute zu bringen sich anschickt. COVID-Pandemie, Klimawandel, Ukraine-Krieg, lauter Krisen von furchterregendem Ausmaß gilt es zu bewältigen, und das nach einem Jahrzehnt der fortwährenden Ad-Hoc-Krisenbewältigung, während dem im EU-Haushalts- und Finanzverfassungsrecht kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Die alte EU, die finanziell von den Mitgliedstaaten abhängt und alle sieben Jahre von Rat und Parlament ein Budget genehmigt kriegt, mit dem sie dann sich selbst unterhalten und ihre Transfermittel verwalten und verteilen kann – die steckt in der heutigen EU noch drin so wie der Athene-Tempel in der Kathedrale von Syrakus. Aber ihre Gestalt, ihre Architektur, ihre Funktionsweise hat sich radikal verändert.
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Postdoctoral Positions at Max Planck Institute for Social Law and Social Policy
The Max Planck Institute for Social Law and Social Policy is offering Postdoctoral Positions in Social Law, Social Policy, and/or Welfare State History. Comparative, transnational, and interdisciplinary approaches to these research fields are particularly welcome. Applicants should hold a PhD in law, a social science discipline, or history, have experience in research on social protection, and have the ability to work in a team.
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Der Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar (Leiden) schilderte diese Veränderung in drei Schritten: vom “programme spending” der alten, entpolitisierten Struktur- und Kohäsionsfonds-Union über das “emergency spending” des Krisenjahrzehnts mit seinen außerhalb der EU-Institutionen zusammengenagelten Rettungsschirmen und Demokratie und Selbstbestimmung brutal aus dem Weg kickenden Konditionalitätregimes schließlich hin zum “strategic spending” in der kumulativen Megakrise der Gegenwart, in der die Union nicht mehr reagiert, sondern regiert und mit sagenhaften zwei Billionen Euro die grüne und digitale Zukunft gestaltet, ganz im Einklang mit den nationalen Regierungen, und damit die französische Sehnsucht nach einem Souverän erfüllt, dessen erhabene Machtfülle in diesen unsicheren Zeiten Sicherheit verspricht, auch wenn das dem kleinmütig um seinen Steuerpfennig besorgten deutschen Bourgeois noch so unheimlich ist.
Was unterdessen aber gleich geblieben ist, sind die Europäischen Verträge. An der Verfassung der Europäischen Union hat sich diese ganze Umwälzung hindurch nicht ein einziger Buchstabe verändert.
Alberto de Gregorio Merino (Juristischer Dienst des Rates) konnte darin beim besten Willen kein Problem entdecken. Die Verträge seien ein interpretationsoffenes “living document”, die Union immer im Bau und niemals fertig wie die Sagrada Familia in Barcelona mit ihren unzähligen Türmen, und auch die sarkastischen Fragen mehrerer deutscher Europarechtsprofessoren, auf welcher Rechtsgrundlage denn jetzt das angebliche COVID-Wiederaufbauprogramm einfach mal so auf die Befreiung Europas aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas ausgedehnt werde, vermochten ihn nicht weiter aus dem Takt zu bringen. Im AEUV fehlt es nicht an Haken, an denen man so ein Paket als tüchtiger EU-Jurist ohne große Mühe aufgehängt kriegt.
Mancher Rechtswissenschaftler_in fällt das nicht so leicht. Seine schiere Größe, so Claudia Wutscher (WU Wien), mache das NGEU-Programm sowohl europa- als auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Päivi Leino-Sandberg (Helsinki) zitierte David Dyzenhaus’ Bild vom “grauen Loch”, in dem zwar rechtliche Bindungen noch existieren, die aber zu substanzlos sind, um die Regierung effektiv daran zu hindern, einfach zu tun, was sie für nützlich hält. Die Behauptung, das sei alles nur eine einmalige, auf die konkrete Notlage zugeschnittene Maßnahme ohne dauerhafte Konsequenzen, sei unglaubwürdig, wie man an dem REPowerEU-Programm und der Umwidmung nicht ausgegebener COVID-Wiederaufbaumittel für die Aufrüstung im Konflikt mit Russland sehe. Die Ausnahme werde zur neuen Normalität, ohne demokratische Debatte und ohne parlamentarische Kontrolle. Das sei keine Art, eine Fiskalunion zu bauen.
Was tun? Claire Mongouachon (Paris Nanterre) verwies auf den fünf Jahre alten Vorschlag von Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste und Antoine Vauchez, die Eurozone zu demokratisieren und mit einer Parlamentarischen Versammlung aus nationalen und EP-Abgeordneten auszustatten. Frank Schorkopf (Göttingen) erinnerte an die Debatten der 70er Jahre um allgemeine Europawahlen und Budgethoheit des Europäischen Parlaments, die jetzt schnell neue Aktualität gewinnen könnten. Das Europaparlament hat unterdessen gefordert, einen Konvent zur Reform des EU-Vertrags einzuberufen, und die französische Ratspräsidentschaft hat eine Debatte darüber zugesagt, wenngleich in vielen Mitgliedsstaaten die Unlust, sich mit einer Vertragsreform zu befassen, weiterhin kaum überwindbar erscheint.
Trotz alledem. Es wäre nicht das erste Mal, wenn einer frisch mit großer Macht ausgestatteten Regierung die entsprechende Selbstbindung, ihre Macht verlässlich, kontrolliert und gut gerechtfertigt, mit einem Wort: rechtsstaatlich auszuüben, erst abgerungen werden muss. Zu der Ermächtigung kam es jetzt, weil in der aktuellen Großkrise die Ziele kaum kontrovers sind. Wer wäre schon gegen Wiederaufbau nach der Pandemie. Aber erstens heißt das noch nicht, dass sich die Mittel ebenso von selbst verstehen: Regieren durch finanzielle Anreize ist, wie wir in Deutschland auch im bundesstaatlichen Rahmen wissen, eine sehr effiziente Technik der Machtausübung und kann als solche verfassungsrechtlich große Probleme mit sich bringen. Und zweitens werden wieder normalere Zeiten und damit Ziele kommen, die heftig umstritten sind. Dann wird es Verfahren und Institutionen brauchen, um diesen Streit zu führen und zu entscheiden und diese Ziele für alle verbindlich zu priorisieren. Das ist alles hoch politisch. Das bedarf einer informierten, kritischen Öffentlichkeit.
Hier haben wir Jurist_innen einen Job zu erledigen. Gerade in Deutschland sind wir gewohnt, unseren Input an den Rechtsstaat selbst zu adressieren, im Sinn von: könnt ihr so machen, ist rechtlich unproblematisch, oder halt das Gegenteil. Wie wir feststellen, ist die Regierung auf solcherlei vermeintliche juristische Bedenkenträger- und Besserwisserei aber immer weniger interessiert, wenn nicht sogar regelrecht genervt reagiert (woran, das muss man zugeben, die Rechtswissenschaft nicht immer ganz unschuldig war, s. hier und hier). Die Rechtswissenschaft war aber schon immer viel mehr als nur eine Art outgesourctes Regierungs-Justiziariat. Sie verfügt über die Expertise und über die qua Wissenschaftsfreiheit abgesicherte Unabhängigkeit, das faktische Regierungshandeln mit dem normativen Rechtsrahmen zu kontrastieren und zu kritisieren. Wenn sie die Beobachtung macht, dass zwischen dem neuen Programmen und ihren angeblichen Rechtsgrundlagen ein unerklärter Abstand existiert, dann sollte sie diese Beobachtung unbedingt und mit allem gebotenen Nachdruck öffentlich machen. Auch und gerade weil das die Regierung gerade so überhaupt nicht zu scheren scheint.
Und ja, das ist durchaus und emphatisch als Einladung zu verstehen, für den Verfassungsblog zu schreiben.
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Call for Applications – Legal Priorities Summer Institute in Oxford
The Legal Priorities Summer Institute (LPSI) — occurring 3-8 September in Oxford, UK — is an intensive, week-long program with the goal of introducing altruistically-minded law and policy students and recent graduates to projects, theories, and tools relevant to tackling critical issues affecting the long-term future. Food, lodging, and a $2,500 stipend will be provided to successful applicants. Applications are open until June 17.
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Was die EU betrifft, so wäre eine solche Kritik bis vor wenigen Jahren leicht in den Verdacht geraten, von “Euroskepsis” motiviert zu sein. Ich meine, das sollten wir hinter uns lassen. Der Konflikt, um den es da ging, ist entschieden. Die EU hat sich durchgesetzt. Sie muss vor Kritik nicht länger in Schutz genommen werden. Im Gegenteil.
Zumal es das, was damit einst gemeint war, ja kaum noch gibt. Wenn Euroskepsis heißt, die eigene Nation als etwas zu betrachten, das durch die EU-Mitgliedschaft etwas verliert, was es ohne EU-Mitgliedschaft besäße, dann ist damit die Option des EU-Austritts notwendig impliziert. Das will aber niemand mehr, auch nicht Marine Le Pen, und aus gutem Grund. Das Brüssel-Bashing, das sie und alle autoritären Populisten so gerne und erfolgreich betreiben, ist vor allem funktionell motiviert und zielt mitnichten auf Desintegration oder gar Exit ab, sondern im Gegenteil darauf, ihre Mitgliedschaft möglichst effizient für ihre eigenen politischen und finanziellen Zwecke auszubeuten. Vielleicht waren die britischen Euroskeptiker schon immer die einzigen, die ihre eigene Euroskepsis wirklich ernst meinten und nahmen. Die sind jetzt eh draußen.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Polen hat das Gesetz zur Abschaffung der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof verabschiedet, und obwohl jeder weiß, dass das Rechtsstaatlichkeitsproblem damit überhaupt nicht gelöst ist, hat die Europäische Kommission die RRF-Mittel in Höhe von 36 Milliarden Euro freigegeben. Der Inhalt der Entscheidung, so schlecht er auch sein mag, ist nicht einmal das Schlimmste, meint WOJCIECH SADURSKI. Schlimmer noch ist das Timing der Entscheidung, denn damit hat die Kommission ein ausschlaggebendes Druckmittel, dem Gesetz mithilfe der Oppositionsmehrheit im polnischen Senat doch noch Zähne zu verleihen, ohne triftigen Grund aus der Hand gegeben.
Im Europaparlament wird deswegen gegen von der Leyens Kommission ein Misstrauensantrag vorbereitet. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass diese außergewöhnliche, vielleicht verzweifelte Maßnahme die erforderliche Anzahl von Unterschriften erhält. ALBERTO ALEMANNO findet, dass diese Initiative dennoch ernst genommen zu werden – und vielleicht sogar etwas Lob – verdient.
In Portugal hat das Verfassungsgericht eine hitzige politische Debatte über die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung ausgelöst, um den strafrechtlichen Ermittlungsbehörden Zugang zu Metadaten über persönliche Kommunikation zu gewähren. Für TERESA VIOLANTE befindet sich dieser Konflikt an einem größeren kritischen Punkt, an dem sich das EU- und das nationale Verfassungsrecht, der EuGH, das nationale Verfassungsgericht und die ordentlichen Gerichte überschneiden.
Die deutsche Bundesregierung will bis Ende des Jahres 2022 die Gesetzesverkündung auf Papier beenden. Das geplante Gesetz steht allerdings unter dem Vorbehalt einer parallelen Verfassungsänderung, die noch im Innenministerium ausgearbeitet werden müsse, verkündete Justizminister Marco Buschmann. SIMON GAUSEWEG sieht keine Notwendigkeit für eine Verfassungsänderung und in dem Regierungsentwurf vielmehr eine verpasste Chance, die Gesetzesverkündung tatsächlich zu digitalisieren.
Die Generalstabsoffizierin Anastasia Biefang hat einen Disziplinarverweis wegen ihres Tinder-Profils erhalten, das Bundesverwaltungsgericht hat am 25. Mai 2020 entschieden, diesen aufrechtzuerhalten. PATRICK HEINEMANN interessiert an dem Fall die Frage, ob sich soldatische Pflichten etwa von den Beamtenpflichten kategorial unterscheiden.
Der jüngste Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2022 zur Bedeutung der Kindererziehung für das Beitragsrecht der Sozialversicherung bringt für den Bereich der Pflegeversicherung kleinteilige Verbesserungen. ANNE LENZE kommentiert den Beschluss für uns.
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Die Freie Hansestadt Bremen hat mit einem Entschließungsantrag im Bundesrat die Einführung einer Übergewinnsteuer gefordert – der vorläufige Höhepunkt einer schon länger geführten Diskussion. Angesichts der hohen verfassungsrechtlichen Hürden zweifelt TILL VALENTIN MEICKMANN jedoch daran, ob diese Maßnahme überhaupt verfassungskonform wäre.
Der deutsch-italienische Streit um die zivilrechtliche Haftung für die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs könnte bald ein Ende haben. Das Gesetzesdekret Nr. 36 vom 30. April 2022 sieht unter anderem vor, dass die italienische Regierung den Opfern selbst eine Entschädigung zahlt. Eine Lösung, die selbst dann nicht zufriedenstellend wäre, wenn Deutschland in Zukunft beschließt, sich an diesen Entschädigungen zu beteiligen, findet PAOLO CAROLI.
Am 18. Mai 2022 hat der Cour d‘appel de Paris ein u.a. wegen Beihilfe an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Vorwurf der Terrorismusfinanzierung eingeleitetes Strafverfahren gegen das Zementunternehmen Lafarge SA bestätigt. Die französische Justiz zieht das Unternehmen in einem starken Sinne zur Verantwortung. CHARLOTTE SCHMITT-LEONARDY sieht in dem Fall einen möglichen Wendepunkt bei der Adressierung von Kriegsökonomie und Unternehmensstrafbarkeit im Völkerrecht.
So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute, bleiben Sie uns gewogen und bitte lassen Sie uns auf Steady nicht im Stich!
Ihr
Max Steinbeis