Auch in Frankreich darf man amnestierte Verbrecher als Verbrecher bezeichnen
Frankreich ist derzeit offenbar dabei, sein Strafrecht in punkto Meinungsfreiheit auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen. Der Straftatbestand “Beleidigung des Staatschefs”, der kürzlich den EGMR auf den Plan gerufen hatte, soll abgeschafft werden. Schon 2011 hatte der Verfassungsrat ein Gesetz gekippt, wonach man auch dann wegen Verleumdung bestraft werden konnte, wenn die angebliche Verleumdung völlig wahr war, soweit diese Tatsache länger als zehn Jahre zurücklag. Dass es diese Rechtsnormen überhaupt bis zum heutigen Tage gab, erstaunt einen als Außenstehenden. Aber immerhin, jetzt scheint da etwas in Bewegung zu kommen.
Heute hat der Verfassungsrat einen weiteren Fleck vom Ehrenschild der französischen liberté d’expression weggeputzt: Es ging dabei wiederum um das Verleumdungsstrafrecht. Das sah vor, dass man sich gegen den Vorwurf der Verleumdung auch dann nicht mit dem Argument der Wahrheit verteidigen kann, wenn sich die behauptete Tatsache auf eine verjährte, amnestierte oder per Revision oder Wiederaufnahme für nicht kriminell erklärte Straftat bezieht.
Mit anderen Worten: Ein Historiker, der ein Folterer aus dem Algerienkrieg als Folterer bezeichnet, kann von diesem wegen Verleumdung verklagt werden. Eine Journalistin, die einen Jahre zurückliegenden Korruptionsfall aufdeckt, muss fürchten sich selber strafbar zu machen, wenn sie das schreibt. Selbst wenn sie ihre Vorwürfe hieb- und stichfest beweisen können – sie dürfen diesen Beweis nicht führen.
Das, so der Conseil Constitutionnel, ist als Eingriff in die Meinungsfreiheit unverhältnismäßig.
Ein Land, das so viele Revolutionen erlebt hat, wie Frankreich, neigt zu besonderer Vorsicht im Umgang mit der Vergangenheit. Das Ancien Régime ist gestürzt, aber mit seinen Anhängern, soweit sie noch leben, muss man irgendwie weiter zusammenleben. Die Dreyfus-Affäre ist überstanden, aber die Leute, die sich darüber an die Gurgel gegangen waren, sind alle noch da. Das dürfte der historische Resonanzboden sein, auf dem diese Regelung aufsetzt.
Doch jetzt, im 55. Jahr der Fünften Republik und im 51. Jahr nach dem Ende des Algerienkriegs, scheint eine Lockerung möglich.
Was ist denn eine Verleumdung, wenn es um nicht Strafbares geht? Darf ich von einem Politiker wahrheitsgemäß behaupten, dass er raucht, trinkt, sich abfällig über andere äußert, in seinem Garten in die Büsche pinkelt, in bestimmter Begleitung unterwegs war oder sich die Haare färbt?
§ 90 Abs. 1 StGB: “Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.”