Der Effektivitätsgedanke im Wahlprüfungsverfahren
Problemskizze und Reformgedanken
Die Wendung „Justice delayed is justice denied“ bringt zentrale Inhalte effektiven Rechtsschutzes auf den Punkt: Damit dieser wirksam ist, muss er in angemessener Zeit und ggf. vor dem Eintritt irreversibler Folgen gewährt werden. Das Grundgesetz fordert dies insbesondere durch Art. 19 Abs. 4 GG ein. Im Wahlprüfungsverfahren gilt allerdings nur der speziellere Art. 41 GG (hier Rn. 9). Hieraus folgt nicht, dass es kein Gebot effektiven Rechtsschutzes kennt. Dieses gilt jedoch nur unter Berücksichtigung der besonderen Ausgestaltung des Verfahrens. Dessen Ablauf (I.) und seine Exklusivität (II.) sollen eingangs skizziert werden. Auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse werden sodann hieraus resultierende Probleme im Hinblick auf die Effektivität des vorgesehenen Rechtsschutzes sowie mögliche Reformoptionen erörtert (III.).
I. Ablauf des Wahlprüfungsverfahrens
Die Wahlprüfung ist durch das Grundgesetz zweistufig ausgestaltet. Im ersten Schritt ist sie Sache des Bundestages (Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG). Das dortige Verfahren ist in den §§ 2 ff. WahlPrüfG im Wesentlichen wie folgt geregelt: Die Prüfung erfolgt auf Einspruch, der grundsätzlich innerhalb von zwei Monaten zu erheben ist. Die Entscheidung hierüber wird durch den Wahlprüfungsausschuss nach dem Berichterstatterprinzip vorbereitet. Es besteht die kaum genutzte (z.B. hier) Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung. Der Ausschuss fasst einen Beschluss über den Einspruch, in dem er eine Entscheidung vorschlagen muss. Dieser wird als Antrag dem Bundestag zugeleitet, der abschließend entscheidet.
Hiergegen besteht die Möglichkeit der Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht als erster Gerichtsinstanz binnen zwei Monaten (Art. 41 Abs. 2 GG, § 48 Abs. 1 BVerfGG).1) Es handelt sich um „geborene Senatssachen“, da – im Gegensatz zu anderen Verfahrensarten – gesetzlich keine Kammerzuständigkeit besteht. Die Entscheidung wird durch den Berichterstatter vorbereitet, grundsätzlich durch Votum und Entscheidungsentwurf. Von einer mündlichen Verhandlung kann abgesehen werden (§ 48 Abs. 2 BVerfGG). In der Praxis fertigt der Berichterstatter zumeist ein Schreiben an, in dem er den Beschwerdeführer auf Bedenken gegen die Zulässigkeit oder Begründetheit der Beschwerde hinweist und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. Danach ergeht eine A-limine-Verwerfung per einstimmigen Senatsbeschluss, der zur Begründung auf das Berichterstatterschreiben verweist (§ 24 BVerfGG, z.B. hier).
II. Exklusivität des Wahlprüfungsverfahrens
Diese verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Wahlprüfung beansprucht Exklusivität, was in § 49 BWahlG zum Ausdruck kommt (hier Rn. 76). Danach können Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den Rechtsbehelfen, die in diesem Gesetz und in der BWahlO vorgesehen sind, sowie im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden. Das Wahlprüfungsverfahren ist also grundsätzlich der abschließende Rechtsweg für die Wahlanfechtung, soweit nicht ausdrücklich andere Rechtsbehelfe existieren. Auch der Wahl vorgelagerte Handlungen, die mit ihr in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, sind hiervon umfasst (hier Rn. 30). Andere Rechtsbehelfe müssen dabei, sofern es sich nicht um bloß verwaltungsinterne Abhilfeentscheidungen, sondern justizförmige Rechtsschutzmöglichkeiten handelt, verfassungsrechtlich fundiert sein. Andernfalls würde Art. 41 GG unterlaufen (hier S. 1319 (Paywall)). Gerichtlichen Rechtsschutz abseits der Wahlprüfung verschafft beispielsweise die Nichtanerkennungsbeschwerde, mit der Vereinigungen vor der Wahl ihre Nichtanerkennung als Partei für die Bundestagswahl unmittelbar vor dem BVerfG beanstanden können (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 c) GG, § 18 Abs. 4a BWahlG, § 96 ff. BVerfGG). Gegen die Nichtzulassung von Landeslisten existiert hingegen kein vergleichbarer Rechtsbehelf, sondern nur eine verwaltungsinterne Kontrollmöglichkeit durch die Beschwerde an den Bundeswahlausschuss (§ 28 BWahlG).
Die Exklusivität des Wahlprüfungsverfahrens fußt auf zwei Gedanken: Einerseits soll der Rechtsschutz gegen unmittelbar mit der Wahl zusammenhängende Akte zentralisiert werden. Stellt sich die Rechtspflege wegen der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) ansonsten als konstitutionell uneinheitlich dar (hier Rn. 20), wäre ein derartiges Phänomen im Hinblick auf die Wahl zum Bundestag als unitarischem Vertretungsorgan (hier Rn. 72) nicht wünschenswert. Es liegt daher nahe, den Rechtsschutz in eine Hand zu legen. Andererseits handelt es sich bei der Bundestagswahl um ein „Massenverfahren“, das eine Vielzahl staatlicher Handlungen an einem spezifischen Termin fordert. Wäre gegen alle hoheitlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bundestagswahl der normale Rechtsweg (inkl. vorgelagertem Rechtsschutz und Eilverfahren) eröffnet, wäre die termingerechte Durchführung gefährdet (hier Rn. 29, hier S. 130 und hier S. 1154 (Paywall)).
III. Probleme und Reformoptionen
Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes gilt auch im Wahlprüfungsverfahren, allerdings nur unter Berücksichtigung der verfahrenseigenen Besonderheiten (vgl. in diese Richtung hier Rn. 51 ff.). Insoweit bestehen im Wesentlichen zwei Problemkreise:
1. Keine vorgelagerte Wahlprüfung
Zunächst ist eine vorgelagerte Kontrolle der mit der Wahl verbundenen Vorgänge nicht allgemein auf enge Ausnahmen beschränkt. Vielmehr ist sie mit Ausnahme der ausdrücklich vorgesehenen Nichtanerkennungsbeschwerde gänzlich ausgeschlossen, da die (im Übrigen abschließende) Wahlprüfung selbst im Hinblick auf vor der Wahl konkret absehbare potenzielle Wahlfehler erst nachgelagert stattfindet. Dass dies ein virulentes Problem werden kann, zeigte sich etwa 2021 angesichts der Vorgänge um die Zulassung diverser Landeslisten (siehe hier). Die konkreten Sachverhalte sollen hier nicht weiter untersucht werden, sie verdeutlichen aber, dass eine vorgelagerte Gerichtskontrolle sinnvoll sein könnte.
Erstens spricht hierfür, dass etwaige Wahlfehler von vornherein beseitigt werden können bzw. geprüft werden kann, ob solche überhaupt vorliegen. Dies sichert die Akzeptanz des Ergebnisses der Wahl als Grundakt demokratischer Legitimation ab. Stehen ergebnisrelevante Mängel der Wahl im Raum, kann dies die Legitimitätsgrundlage des politischen Prozesses (hier Rn. 51) beeinträchtigen oder diesen sogar destabilisieren (vgl. hier). Dieser Effekt verschärft sich, wenn „sehenden Auges“ bei der Wahl feststehende Fehler in Kauf genommen werden (müssen). Gerade in Zeiten, in denen die Legitimität einzelner Wahlen mit unbewiesenen Betrugsvorwürfen angegriffen wird (vgl. hier), mag das Interesse groß sein, derartigen Vorwürfe oder der Behauptung politischer Einflussnahmen bei der Wahl (Thema etwa hier) von vornherein die Grundlage zu entziehen. Zweitens sichert eine vorgelagerte Kontrolle effektiver die subjektiven Rechte der vom etwaigen Wahlfehler betroffenen Rechtsträger (Parteien, Wahlberechtigte), deren Ausübung ggf. sichergestellt wird. Drittens verhindert sie eine aufwendige Wiederholungswahl, die ggf. absehbar erfolgen muss (§ 44 BWahlG) und bei der möglicherweise veränderte Rahmenbedingungen gelten und es nachträglich zu mitunter erheblichen Verschiebungen kommen kann (vgl. etwa hier). Vergleichbare Gründe bewogen wohl auch den SächsVerfGH dazu, nach dem dortigen Landesverfassungsrecht in Bezug auf die teilweise Nichtzulassung einer Landesliste unter Benennung qualifizierter Voraussetzungen ausnahmsweise die Möglichkeit der (vorgelagerten) Verfassungsbeschwerde gegen einen ersichtlich prinzipiell von der Wahlprüfung umfassten Akt (hier Rn. 43 ff.) zu eröffnen (hier). Dies überzeugt aber de lege lata jedenfalls auf bundesrechtlicher Ebene nicht (hier und hier S. 1815 f. (Paywall)).
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Möglichkeiten vorgelagerten Rechtsschutzes (teilweise) weiter auszubauen, wofür eine Verfassungsänderung notwendig wäre. Begrüßenswert wäre dies vor allem im Hinblick auf die Entscheidung über die Nichtzulassung von Landeslisten (§ 28 BWahlG; siehe dazu auch hier S. 1323 und hier S. 137 (jeweils Paywall)), hinsichtlich derer eine gerichtliche Korrekturmöglichkeit vor dem Wahlakt zu dessen Rechtssicherheit und legitimierender Wirkung beitragen kann. Eine große Zahl von Verfahren wäre grundsätzlich nicht zu erwarten, so dass ein entsprechender Rechtsbehelf die termingerechte Durchführung der Wahl nicht gefährden dürfte. Vergleichbar der Ausgestaltung beim Nichtanerkennungsverfahren liegt es nahe, die Entscheidung in die Hände des BVerfG zu legen, schon um eine einheitliche Rechtsprechungspraxis bezüglich dieser für den Wahlvorgang essentiellen Frage zu gewährleisten (für die Rechtswegeröffnung zu den Verwaltungsgerichten Koch, ZRP 2013, 196 (199)). Freilich müsste dem Gericht ein zwar kurzer, aber ausreichender Zeitraum für die Entscheidungsfindung eingeräumt werden. Daneben böte es sich an, zu prüfen, ob hinsichtlich weiterer Verwaltungsentscheidungen ein vorgelagerter Rechtsschutz das bestehende System sinnvoll ergänzen könnte (zur Thematik etwa Koch, ZRP 2013, 196 (199)). Dabei ist aber zu beachten, dass ein vorgelagerter Rechtsschutz in vollem Umfang insbesondere wegen des Charakters als „Massenverfahren“ nicht möglich ist. Bis zu einem gewissen Grad müssen Wahlfehler und deren nachträgliche Beseitigung bei Mandatsrelevanz oder zumindest Feststellung bei einer subjektiven Rechtsverletzung (§ 1 Abs. 2 Satz 2 WahlPrüfG , § 48 Abs. 3 BVerfGG) letztlich hingenommen werden.
2. Länge des Verfahrens
Das Wahlprüfungsverfahren zeichnet sich darüber hinaus durch seine Länge und die teils erhebliche Distanz zwischen Wahlvorgang und abschließender Entscheidung aus, die von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Schon die zweimonatige Einspruchsfrist kostet Zeit. Der Wahlprüfungsausschuss konstituiert sich und beginnt mit seiner Arbeit erst nach Abschluss der Regierungsbildung (vgl. etwa hier). Hinzu kommt die notwendige Bearbeitungsdauer der nicht geringen Zahl von Einsprüchen (zuletzt rund 2.100, hier), die von etwa zwei Monaten nach Konstituierung (bei Unzulässigkeit, hier) bis hin zu einem knappen halben Jahr (siehe hier) oder sogar noch deutlich länger andauern kann. Auch die sich ggf. anschließende Wahlprüfungsbeschwerde nimmt einige Zeit in Anspruch, bedingt durch die Zahl der Verfahren und der teils aufwendigen Vorbereitung der Senatsentscheidungen. Mitunter werden Wahlprüfungsverfahren endgültig auch erst nach Ablauf der jeweiligen Wahlperiode entschieden und damit vor allem für zukünftige Wahlen relevant (etwa BVerfGE 151, 1 Rn. 36).
Dies soll keine grundsätzliche Kritik sein: Qualitativer Rechtsschutz fordert Zeit, gerade im Zusammenhang mit schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen (vgl. nur BT-Drs. 17/3802, S. 18). Vor allem Bearbeitungszeiten von weniger als einem Jahr durch den Bundestag erweisen sich damit grundsätzlich nicht als unangemessen. (vgl. hier Rn. 8). Parlamentsinterne Verfahrenslaufzeiten von fast drei Jahren im Hinblick auf vergleichsweise einfach gelagerte Sachverhalte (siehe dazu etwa hier, hier und hier zu einem Wahlfehler bei der Landtagswahl 2014 in Sachsen) sind aber durchaus kritisch zu sehen. Insgesamt sollten die beteiligten Akteure nicht die Legitimität stiftende Wirkung der Wahlprüfung aus den Augen verlieren und diese daher im Rahmen des Möglichen zügig durchführen, selbst wenn im Parlament kein großes Eigeninteresse an einer Entscheidung bestehen sollte (vgl. hierzu etwa hier S. 123 (Paywall)). Letzteres sollte das BVerfG im Blick behalten und ggf. in Extremfällen und unter Berücksichtigung des konkreten Streitgegenstandes und der Einzelfallumstände die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung auch vor Abschluss des Verfahrens beim Bundestag im Blick behalten (vgl. dazu andeutungsweise hier Rn. 8), auch wenn die Wahlprüfungsbeschwerde selbst erst gegen den Beschluss des Bundestages erhoben werden kann (Art. 41 Abs. 2 GG). Gerade drängendste Fragen im Zusammenhang mit Wahlen werden aber durchaus auch beschleunigt behandelt (zu schnellem Rechtsschutz im Zusammenhang mit Wahlen bei einem eA-Antrag im Normenkontrollverfahren nur hier).
Daneben erscheinen institutionelle Reformen möglich. Denkbar wäre, das Wahlprüfungsverfahren nur einstufig auszugestalten und die Korrekturmöglichkeit durch den Bundestag zu streichen. Allerdings ist gerade der Bundestag die Instanz, der für die effektive Sachaufklärung die nötigen Mittel zur Verfügung stehen. Die vorgelagerte Prüfung durch den Bundestag erfüllt damit neben der eigenständigen Kontrollfunktion auch den Zweck, das Verfahren aufzubereiten und dem BVerfG, dem eine Sachaufklärung abseits bestimmter Verfahrensarten grundsätzlich fremd ist, eine bessere Entscheidungsgrundlage zu bieten. Dass die Streichung daher zu insgesamt kürzeren Verfahrenslaufzeiten führt, kann mit guten Gründen bezweifelt werden.2)
Die Abschaffung der gerichtlichen Instanz erscheint hingegen ausgeschlossen (offengelassen hier Rn. 120). Möglich wäre dagegen eine Auslagerung des Wahlrechtsschutzes an eine eigenständige Institution. Ferner wäre denkbar und begrüßenswert, vergleichbar den §§ 81a, 93b BVerfGG eine Zuständigkeit der nach § 15a BVerfGG gebildeten Kammer (des für die Materie zuständigen Berichterstatters des Zweiten Senats) zu begründen. Dies könnte aus diversen Gründen die Verfahren beschleunigen: Einerseits ist die Entscheidungsfindung in der Kammer schneller möglich, insbesondere wenn von einer Begründung abgesehen werden kann (vgl. § 93d BVerfGG). Andererseits wird hierdurch der Senat entlastet, was ihm die zügigere Bearbeitung anderer Verfahren (darunter Wahlprüfungssachen) erlaubt. In Anlehnung an bestehende Vorgaben liegt nahe, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Senat geklärt sein und eine einstimmige Entscheidung ergehen muss sowie die Kammer nicht gesetzliche Regelungen (zu Wahlfehlern hierdurch hier Rn. 55) für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklären kann (vgl. insgesamt (§§ 93c, 93d BVerfGG)). So bliebe sichergestellt, dass trotz der Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung durch die Einführung des Kammerverfahrens grundsätzliche Fragen nur durch den Senat entschieden würden.
References
↑1 | Hierzu Misol, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 48 Rn. 28. |
---|---|
↑2 | Vgl. Bechler, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, § 48 Rn. 5; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 52. Ed. 2022, Art. 41 Rn. 12, Stand: Aug. 2022; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 97. EL 2022, Art. 41 Rn. 11, Stand: Jan. 2021. |