05 November 2022

Kammer-Netzwerk

I. Ecclesia semper reformanda: Die „Kammern“ der EKD, ein Inbegriff des evangelischen Umgangs mit Glaube und Welt, werden in ihrer bisherigen Form abgeschafft. So will es der Rat, das höchste Leitungsgremium der Evangelischen Kirche in Deutschland, und tritt in diesen Tagen mit seiner Entscheidung vor die Synode in Magdeburg. An ihrer Stelle wird ein sogenanntes „Kammer-Netzwerk“ aus 70 Persönlichkeiten gebildet, die bei Bedarf Stellungnahmen, etwa als „theologische Interventionen“, abgeben sollen. Hat dieser Vorgang für die immerhin noch 20 Millionen evangelischen Christen hierzulande irgendeine Bewandtnis (und damit letztlich für die Rolle der Religion in der offenen Gesellschaft), oder handelt es sich um bloße Feinjustierungen der Kirchenorganisation? Worum geht es überhaupt?

Nun: In den Kammern wurde bisher mit langem Atem Grundlagenarbeit betrieben, um sich der komplizierten Sache des Glaubens immer wieder neu zu vergewissern. Besetzt waren sie mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft und öffentlichem Leben, die hier ihrer Kirche ehrenamtlich dienten, oft über Jahre und Jahrzehnte. Wenn man so will, ein klassisches Beispiel für die Organisation zivilgesellschaftlichen Engagements, das die Verbindung zwischen Sachverstand, gesellschaftlichen Anfragen und Entscheidungsträgern auf Augenhöhe in institutionalisierter Form sicherstellte. Zugleich ist sicher richtig: Wer dort mitgearbeitet hat, wird die Kammern in ihrem bisherigen So-Sein nicht einfach verteidigen wollen. 70 Jahre Tradition haben den gleichen Verschleiß und die gleiche Pfadabhängigkeiten erzeugt, wie wir sie an vielen Orten in Kirche, Staat und Gesellschaft feststellen können. Behäbigkeit, Selbstgewissheit, Redundanz – ja natürlich gibt es sie auch dort. Wer wollte sich also Reformen in der Kirche der Reformation verschließen?

II. Trotzdem stellt sich kirchenrechtlich wie organisationstheoretisch die Frage, nach welchen Maßstäben Veränderungen angezeigt sind, und wer über sie mit welchem Recht verfügt. Zum einen ist die Umformung von bisher sieben festgefügten Kammern zu einem flexiblen Netzwerk ein ziemlich freihändiger Umgang mit dem geltenden Kirchenverfassungsrecht. In der Grundordnung der EKD heißt es in Art. 22 Abs. 2: „Zur Beratung der leitenden Organe sind für bestimmte Sachgebiete kirchliche Kammern aus sachverständigen kirchlichen Persönlichkeiten zu bilden. Dabei ist die Ausgewogenheit des Geschlechterverhältnisses zu beachten.“ Die Organe, um die es hier geht, werden unmittelbar zuvor aufgeführt. Es sind in dieser Reihenfolge die Synode (also gewählte und berufene Vertreter der gesamten Kirche), die Kirchenkonferenz (also die Leitungen der 20 Landeskirchen) und der Rat, der aus 15 Persönlichkeiten gebildet wird, die die Synode wählt.

Es ergibt sich: Die Kammern sind kein unselbständiges Hilfsorgan des Rates, sondern ausdrücklich zur Beratung aller Organe der EKD (in Mehrzahl) bestellt. Und sie sind wohl eigentlich grundsätzlich sachbezogen als abgeschlossene und stetig arbeitende Einheiten aufzufassen, wie es dem Begriff der Kammer auch sonst zugemessen wird (etwa bei Gerichten). Nun mag man darüber philosophieren, ob nicht vielleicht doch vor allem der kirchenleitende Rat als Adressat gemeint sei (wie es fraglos schon bisher der Praxis entsprach), der daher auch die Vorhand für eine Veränderung der bisherigen Praxis in Anspruch nehmen kann; man darf zugleich auch spekulieren, wann denn genau im Lauf des Reformvorhabens im Kirchenamt die Einsicht wuchs, dass man die Kammern ohne Änderung der Grundordnung nicht einfach streichen könne, sondern mindestens den Begriff erhalten müsse. Jedenfalls dürfte richtig sein: Die faktische Abschaffung der Kammern wäre mindestens aus Gründen des institutionellen Respekts eine förmliche Beratung zwischen den Organen statt einer bloßen Mitteilung im Bericht an die Synode wert gewesen.

III. Lohnt nun aber auch die Sache selbst, darüber noch näher nachzudenken? Das rührt an die Frage, wie sich evangelischer Glaube denn überhaupt versteht, wie er zustande kommt, bewirtschaftet wird, sich entäußert – und was die organisatorische Formensprache dazu beitragen kann. Die Kammern der EKD nahmen in Deutschland in der Vergangenheit jedenfalls immer wieder eine wirklich besondere Rolle ein. Sie standen für einen sehr speziellen Diskurs auf höchstem Niveau, der dann für Kirche und Gesellschaft wiederholt wegweisende Bedeutung hatte. Insbesondere die „Denkschriften“ des Rates fassten politische, ethische, theologische Fragestellungen der Zeit in einer Weise zusammen, dass man an diesen Stellungnahmen nicht vorbeikam – und waren regelmäßig jahrelang von den Kammern (etwa „für öffentliche Verantwortung“ oder „für Theologie“) vorbereitet worden. Das bis heute berühmteste Beispiel ist die „Ost-Denkschrift“ von 1965, die die Politik der folgenden Bundesregierungen maßgeblich beeinflusste. Aber auch die die Friedensdenkschrift von 1981 und die Demokratiedenkschrift von 1985 waren solche Markierungspunkte, die Reihe ließe sich um andere Themen und Formate verlängern. Dabei ging es beileibe nicht nur und eigentlich auch nicht vorrangig um Politik. Die theologischen Fragestellungen verlangten schon bisher in einer rasant veränderlichen Gesellschaft neue und anspruchsvolle Antworten, wie Kirche bei den Menschen sein kann, ohne ihr Proprium zu verlieren – was sich mangels Lehramt eben auch nicht einfach amtlich entscheiden lässt. Die theologische Wissenschaft hatte deshalb in den Kammern ihren wichtigen Platz, den sie freilich mit Praktikern und anderen Fächer schon teilte, als Interdisziplinarität noch keine wissenschaftspolitische Vorgabe war.

Damit sind wir bei den Voraussetzungen und Wirkungen solcher Arbeitsformate: Man muss zunächst einmal aushalten, dass bestimmte Dinge Zeit brauchen. Nicht zur akademischen Selbstbespiegelung, sondern aus Gründen der Sorgfalt und Tiefenschärfe – so weiß es jede Organisationssoziologie. Der wiederholte, auf Vertrauen und auch auf Kontinuitäten gegründete Gesprächsgang lässt sich nicht einfach überspringen. Wo die EKD bisher davon abgewichen ist (etwa in der Familien-Orientierungshilfe von 2013, die an den Kammern vorbei durch ein ad-hoc-Gremium erstellt wurde), ist sie böse auf die Nase gefallen. Und die hyperbürokratische Neuorganisation des neuen Kammer-Netzwerks mit „Fachbereichen“, „Arbeitsgemeinschaften“, „TaskForces“, bei denen die ständigen Mitglieder und „special-experts“ durch ein „Steuerungsboard“ geführt werden, macht auch nicht wahrscheinlich, dass es nunmehr wenigstens schlanker und zielgerichteter zuginge als bisher. Ganz im Gegenteil: Die ständige Neukalibrierung bindet zusätzliche Kräfte, die die gewünschte Beschleunigung schon denklogisch nur um den Preis von zunehmender Oberflächlichkeit zulassen – auch der Tag in Kammer-Netzwerken hat nur 24 Stunden.

Letztlich lässt sich zu dem Vorgang eine wirklich evangelische Frage formulieren: Kann die Kirche von oben geleitet werden, mit Beratern nach Bedarf – oder benötigt sie nicht doch um ihrer selbst willen verlässliche andere Formen von Auseinandersetzung, Widerspruch und Einsicht?

Hinnerk Wißmann lehrt Öffentliches Recht in Münster. Er war von 2011 bis 2021 Mitglied der Kammer für Theologie.


SUGGESTED CITATION  Wißmann, Hinnerk: Kammer-Netzwerk, VerfBlog, 2022/11/05, https://verfassungsblog.de/kammer-netzwerk/, DOI: 10.17176/20221105-215632-0.

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