10 November 2022

Versteinerte Verfassungen

Die US-amerikanischen Midterm-Wahlen sind gelaufen. Auch wenn die selbst prophezeite Revanche des Trumpismus ausfiel: einen Ausweg aus der Dauerkrise, in der die älteste Demokratie der Welt gefangen ist, haben auch diese Wahlen nicht aufzeigen können. Im Gegenteil, die tiefe politische Spaltung des Landes hat sich erneut manifestiert.

Die Krise der US-amerikanischen Demokratie ist auch eine Verfassungskrise. Viele Bestimmungen der altehrwürdigsten aller Verfassungen erscheinen heute im Verfassungsvergleich als überholt und dringend reformbedürftig.

Zu diesen Bestimmungen gehören die über das „Electoral College“, das die Stimmengewichtung bei der Präsidentschaftswahl zuungunsten bevölkerungsreicher Staaten verschiebt und damit das „popular vote“, also die Mehrheitsentscheidung der Wähler konterkarieren kann. So entfielen bei den Präsidentschaftswahlen 2000 mehr Stimmen auf Al Gore als auf George W. Bush. Donald Trump wurde 2016 Präsident, obwohl Hillary Clinton mehr Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte. Das Modell der indirekten Wahl begünstigt nicht nur die Wähler in bevölkerungsärmeren Staaten, sondern es führt auch zu einer Konzentration der Kandidaten und Parteien auf die spezifischen Interessen der regelmäßig gleichen „Swing States“, in denen der Wahlausgang noch offen erscheint. Dagegen werden die Staaten vernachlässigt, deren „Wahlpersonen“-Stimmen wegen des vorherrschenden „winner takes all“-Prinzips einem der beiden großen politischen Lager ohnehin sicher sind.

Reformbedürftig erscheinen auch die Bestimmungen über die lebenslange Amtszeit der Richter am US-Supreme Court. Die entsprechende Verfassungsbestimmung, die die richterliche Unabhängigkeit sichern soll, kann – neben anderen problematischen Begleiterscheinungen1) – zur langfristigen Zementierung politischer Mehrheiten am höchsten und höchst einflussreichen Gericht der USA führen. So ist es Donald Trump in seiner nur vierjährigen Amtszeit gelungen, durch die Ernennung von drei neuen Supreme Court Richtern die Mehrheitsverhältnisse auf kaum absehbare Zeit zugunsten einer soliden republikanischen 6-3-Mehrheit auszubauen. Der 74-jährige Clarence Thomas, der derzeit längst amtierende Supreme Court Richter, ist bereits seit 31 Jahren im Amt. Die jüngste – von Donald Trump ernannte – Richterin Amy Coney Barrett ist erst fünfzig Jahre alt.

Andere Schwachstellen der US-Verfassung ließen sich benennen. Zu denken ist etwa an das Waffenrecht, die sehr kurzen Amtszeiten der Mitglieder des Repräsentantenhauses, an die extrem bevölkerungsdisproportionale Zusammensetzung des US-Senats oder die historischen Bedingtheiten geschuldete lange „presidential transition“ zwischen der Wahl und der Amtsübernahme eines neuen Präsidenten. Zu nennen wäre – soweit sie verfassungsrechtlich vorgezeichnet ist – auch die Ausrichtung des politischen Systems auf ein Zwei-Parteien-Modell, das schon für sich genommen die Gefahr der derzeit zu beobachtenden Polarisierung der US-Gesellschaft befördert.

Eine substantielle Reform der US-Verfassung steht dennoch nicht zu erwarten. Denn die US-amerikanische Verfassung macht ihre Veränderung selbst von allzu hohen Hürden abhängig. Nach Art. 5 US-Verfassung kann der Kongress Verfassungsergänzungen (Amendments) vorschlagen, wenn dem jeweils zwei Drittel der Abgeordneten bzw. Senatoren zustimmen. Diese Änderungen bedürfen dann der Zustimmung von drei Viertel der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten.

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich diese großen Mehrheiten für eine Verfassungsänderung an den politisch entscheidenden Stellschrauben nicht finden werden. Zu sehr profitiert derzeit insbesondere die republikanische Partei von den aufgezeigten Verfassungsdefiziten.

Die Situation könnte sich noch verschärfen, wenn sich Tendenzen insbesondere in der Rechtsprechung des US-Supreme Courts verstärken, die auch die Verfassungsinterpretation methodisch gegenüber einer Fortentwicklung abzuschirmen versuchen. Während nämlich europäische Verfassungsgerichte – namentlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – die von ihnen zu interpretierenden Verfassungstexte als entwicklungsoffene Grundlage – als „living instrument“ – begreifen, fordert die hochkonservative Konzeption des Originalismus, wie sie etwa von den Richtern am US-Supreme Court Scalia, Thomas und Barrett vertreten wurde bzw. wird, eine strikte Orientierung am historischen Wortlaut bzw. am Normverständnis des historischen Verfassungsgebers.

Wie alle Verfassungen muss aber auch die US-amerikanische die Frage nach ihrer Beständigkeit und ihrem Wandel und damit nach den Voraussetzungen einer Verfassungsänderung beantworten. Dabei konkurrieren Erwartungen der Rechtssicherheit und der Verfassungsstabilität mit Forderungen der Anpassungsfähigkeit auch der Verfassung an sich wandelnde äußere Umstände und Wertvorstellungen und an die Korrektur eventueller Schwächen der Verfassung. Schon James Madison schrieb in Federalist No. 43 die Regel zur Verfassungsänderung “guards equally against that extreme facility which would render the Constitution too mutable; and that extreme difficulty which might perpetuate its discovered faults”. Im Fall der US-Verfassung ist das Pendel überdeutlich hin zu einer Konservierung ihrer Bestimmungen ausgeschlagen. Die Konsequenz ist eine Versteinerung der Verfassung, die eine adäquate Reaktion auf erkannte Fehler, veränderte Anforderungen, Wertvorstellungen und Rahmenbedingungen nicht mehr erlaubt.

Das historische US-amerikanische Vorbild, das die Verfassungsentwicklung in Europa wie kein anderes geprägt hat, sollte insbesondere der Europäischen Union eine Warnung sein. Gefahren einer Versteinerung lassen sich nämlich auch in der EU-Verfassungsordnung klar erkennen. So ist die Veränderung des EU-Primärrechts – und damit jedenfalls in einem materiellen Sinne der Verfassung der Europäischen Union – immer schwerer erreichbar. Zwar konnten hier mit dem Lissabonner Vertrag von 2009 erst in jüngerer Zeit noch umfangreiche Veränderungen verabschiedet werden. Weil aber jede Änderung der Gründungsverträge der Zustimmung und Ratifikation in allen Mitgliedstaaten der Union und dabei teilweise auch der Zustimmung nicht allein der gesetzgebenden Körperschaften, sondern darüber hinaus der Volksabstimmung bedarf, erscheinen die Hürden für künftige Anpassungen der Verfassungsordnung der Union besonders hoch.

Dies ist umso problematischer, als diese Verfassungsordnung ihrerseits als noch unfertig erscheint und vor allem im Bereich der Mehrheitsentscheidung und der demokratischen Legitimation Defizite aufweist, die durch Verfassungsänderungen zu beheben wären. Mit der potentiellen Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten würden aber sowohl die bereits bestehenden Defizite wie die Hürden zu ihrer Beseitigung weiter ausgebaut. Die Forderung des Europäischen Parlaments zur Einberufung eines Verfassungskonvents zur Reform der EU-Verträge verdient daher Unterstützung. Auch wenn die Aussichten für dieses Reformprojekt aktuell nicht groß erscheinen: spätestens die nächste Erweiterung muss die Europäische Union nutzen, um eine Reform nicht allein ihrer Verfassung, sondern auch des Modus zur Änderung dieser Verfassung zu erreichen.

References

References
1 Kritisch dazu: Gertrude Lübbe-Wolff, Beratungskulturen, 2022, S. 254 ff.

SUGGESTED CITATION  Wegener, Bernhard: Versteinerte Verfassungen, VerfBlog, 2022/11/10, https://verfassungsblog.de/versteinerte-verfassungen/, DOI: 10.17176/20221110-215646-0.

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