Kein Recht auf Whistleblowing für Anwälte
In diesen Zeiten der Fassungslosigkeit über das Ausmaß überwachungsstaatlicher Methoden im vermeintlichen Rechtsstaats-Paradies westlicher Demokratien verdienen Nachrichten über so genannte Whistleblower besondere Aufmerksamkeit – Leute wie Edward Snowden, die extreme persönliche Risiken auf sich nehmen, um Fälle staatlichen oder privaten Machtmissbrauchs öffentlich zu machen.
Ob Maître Olivier Morice ein Whisteblower ist, weiß ich nicht. Jedenfalls scheint mir aber das Urteil, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute in seinem Fall veröffentlicht hat, für Anwälte als Whistleblower nichts Gutes zu bedeuten.
Hintergrund des Falls ist die Affäre Borrel (von der ich bis heute noch nie gehört hatte), eine verworrene Geschichte um einen französischen Richter, der 1995 in Djibouti unter sonderbaren Umständen ums Leben kam und dessen Hintergründe hier und hier nachzulesen sind. Morice ist der Anwalt der Witwe dieses Richters: Er verdächtigte die Untersuchungsrichterin, die sich des Falls angenommen hatte, nach allerhand Unregelmäßigkeiten, parteilich zu ermitteln und mit hochrangigen Amtsträgern in Djibouti zu kungeln – und zwar, soweit ich das beurteilen kann, durchaus nicht ohne Grund. Morice tat diesen Verdacht nicht nur in einem Brief an den Justizminister, sondern auch gegenüber Journalisten der Zeitung Le Monde kund, die seine Zitate prompt veröffentlichte.
Die Richterin verklagte ihn daraufhin wegen Verleumdung, und der Anwalt wurde in mehreren Instanzen verurteilt. Dagegen zog er nach Straßburg, bekam aber nur teilweise Recht: Dass ein Richter des Kassationsgerichts an dem Urteil gegen ihn teilgenommen hatte, der sich zuvor in einer anderen Sache als Freund und Verteidiger der Untersuchungsrichterin zu erkennen gegeben hatte, sah die Kammer als Verstoß gegen Art. 6 EMRK (Recht auf faires Verfahren) an.
Ein Problem mit der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) konnte die Richtermehrheit dagegen nicht erkennen: Maître Morice habe nicht nur Fakten veröffentlicht, sondern diese auch bewertet, nämlich als Indizien für Parteilichkeit und Kungelei. Damit habe er die Untersuchungsrichterin und die Funktionsfähigkeit der Justiz öffentlich attackiert, ohne das Ergebnis seines tags zuvor an das Justizministerium geschickten Beschwerdebriefs abzuwarten. Natürlich hätten auch Anwälte ein Recht auf Meinungsfreiheit (oh, really??), aber man könne von ihnen auch erwarten, zum “guten Funktionieren der Justiz” beizutragen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in sie nicht zu erschüttern. Wenn es Grund gebe, dem Funktionieren der Justiz zu misstrauen, sei es ihre “erste Aufgabe”, Rechtsmittel einzulegen.
Mit anderen Worten: Ein Anwalt, der glaubt, im Interesse seines Mandanten einen tatsächlichen oder vermeintlichen Justizskandal aufdecken zu müssen und dabei die EMRK auf seiner Seite zu haben, hat sich geschnitten. Er soll keinen Ärger machen, schön die zuständigen Stellen in Regierung und Justiz benachrichtigen, die kümmern sich dann schon um alles, und ansonsten ist es seine vornehmste Aufgabe, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz nicht zu beschädigen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR hängt bei Werturteilen die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs von der Faktenbasis des Werturteils ab, und eine solche gab es hier durchaus. Damit setzt sich die Richtermehrheit, soweit ich sehe, gar nicht auseinander. Vielmehr verdächtigen sie den Anwalt, persönlich etwas gegen die Untersuchungsrichterin zu haben.
Dass in der Justiz die eine Krähe der anderen nicht gern ein Auge aushackt, ist bekannt, jedenfalls was die nationale Justiz betrifft. Aber genau dafür haben wir doch eigentlich den EGMR, nicht wahr?
Ein wahres Manifest der anwaltlichen Meinungsfreiheit ist dagegen das Minderheitsvotum der ukrainischen Richterin Ganna Yudkivska. Die öffentliche Rede sei die wichtigste Waffe des Anwalts, und dem werde man nicht gerecht, wenn man ihn an die offiziellen Beschwerdewege verweist. Dann kommt eine Passage, die es wert ist, wörtlich zitiert zu werden (meine Übersetzung):
Es ist offensichtlich, dass jede Kritik seitens eines Anwalts sehr streng beurteilt werden muss, denn die Öffentlichkeit hat mehr Vertrauen in die Worte des Anwalts, der die Situation von innen kennt, als die der Journalisten, die über den Prozess in den Medien berichten. Aber es ist nicht vernünftig, die Möglichkeit zu kritisieren einzig den “Außenstehenden” zu überlassen, denn die Mauer des Schweigens der Amtsträger (professionels), errichtet rings um einen Prozess von Wichtigkeit für die öffentliche Meinung, diskreditiert das Gericht in deren Augen mehr als Kritik der Amtsträger. Es sind gerade die Juristen, die den Fall vor Gericht vertreten und die unverzichtbare Qualifikation besitzen, die Fehler und Defekte des Prozesses zu erkennen, von denen die Öffentlichkeit erwartet, Informationen zu empfangen. Aus dem Justizverfahren einen geschlossenen Raum zu machen, in dem man nicht gewohnt ist, “schmutzige Wäsche zu waschen”, beeinträchtigt meiner Meinung nach das Ansehen der Justiz mehr als Kritik, die sich expressiv ausdrückt…
Ich kann nur hoffen, dass der Fall vor die Große Kammer kommt.
[…] abklären lassen. Das jedenfalls meint der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie das Verfassungsblog […]
Bedauerlich ist vor allem, dass das “bon fonctionnement de la justice” nur zu Lasten der Meinungsfreiheit des Anwalts angeführt wird, nicht aber als grundrechtsverstärkendes öffentliches Interesse an dem Meinungsbeitrag.
Im Ergebnis hat das Gericht dem Menschenrechtsschutz in Staaten mit einer weniger ausgeprägten Rechtsstaatstradition als Frankreich einen Bärendienst erwiesen. Solche Staaten werden die Argumentation, dass Äußerungen “susceptibles de saper inutilement(!!!) la confiance du public à l’égard de l’institution judiciaire” gewesen seien, begierig aufgreifen.
Anwälte sollen in unfairen Verfahren lieber den Rechtsweg bis zum EGMR bestreiten als einen nationalen Diskurs anzuregen. Das Motto für Anwälte heißt also: “Keep Calm and Litigate On”.
Da der Beschwerdeführer nur teilweise beschwert ist, schätze ich die Chancen auf eine Annahme durch die Große Kammer als eher gering ein. Ich lass mich aber gerne positiv überraschen.
Die Verweisung an die Große Kammer wurde auf Antrag des Beschwerdeführers am 9. Dezember 2013 beschlossen: http://hudoc.echr.coe.int/webservices/content/pdf/003-4604691-5568974
Die Große Kammer hat heute auch einstimmig eine Verletzung von Art. 10 MRK festgestellt: http://dejure.org/2015,7909
@AX (17.07.2013)
Zum Glück ist dem EGMR der typisch deutsche Eiertanz um die Beschwer eher fremd (siehe dazu http://blog.beck.de/2015/03/29/beschwer-trotz-freispruch-verhilft-der-egmr-gustl-mollath-zur-revision#comment-65453 ) 🙂
[…] Europäischen Gerichtshofs in Straßburg den verheerenden Eindruck, den das Gericht in der Sache Morice v. Frankreich vor knapp zwei Jahren hatte entstehen lassen, heute wieder korrigiert: Whistleblowing durch […]