Das Ende der Isolierungspflicht für COVID-19-Infizierte
Nicht nur rechtspolitische Entscheidung, sondern verfassungsrechtliche Notwendigkeit
Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein haben sich dafür entschieden, die häusliche Isolierungspflicht für COVID-19-Infizierte abzuschaffen. Diese Entscheidung ist nicht nur rechtspolitisch begrüßenswert, sondern bereits verfassungsrechtlich geboten. Konkret verstößt § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG als Rechtsgrundlage der bisherigen Isolierungspraxis gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG. Überdies stellt sich die Isolierungspflicht bei COVID-19 spätestens im dritten Jahr der Pandemie als unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar.
Nach erfolgloser Diskussion über die Aufhebung der Isolierungspflicht auf Bundesebene haben nunmehr vier Länder einen Sonderweg eingeschlagen und die Pflicht zur Isolierung COVID-19-Infizierter in Abweichung von der bisher bundeseinheitlich umgesetzten RKI-Empfehlung durch weniger eingriffsintensive Schutzmaßnahmen ersetzt. In Anlehnung an entsprechende Regelungen in Österreich sind an die Stelle der Pflicht zur Absonderung die mindestens fünftägige Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske in der Öffentlichkeit sowie Betretungs- und Tätigkeitsverbote in medizinischen und pflegerischen Bereichen zum Schutz von vulnerablen Personengruppen getreten. Ausnahmen von der Maskenpflicht gelten beispielsweise für den Aufenthalt unter freiem Himmel, wenn ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen eingehalten werden kann und von dem Betretungsverbot für die Begleitung Sterbender (siehe zu alldem beispielhaft die Bayerische AV Corona-Schutzmaßnahmen vom 15. November 2022).
Unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch die Isolierungspflicht für COVID-19-Infizierte
Dass die Länder die Isolierungspflicht beenden und durch deutlich grundrechtsschonendere Maßnahmen ersetzen, ist nicht nur politisch nachvollziehbar, sondern verfassungsrechtlich geboten. Zunächst stellt sich die in zwölf Ländern fortbestehende Isolierungspflicht in der gegenwärtigen Phase der Pan- beziehungsweise womöglich bereits Endemie als unverhältnismäßiger, weil unangemessener Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar. Der Eingriff in die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, der von einer häuslichen Isolierungsanordnung ausgeht, ist angesichts der langen Absonderungsdauer (mindestens fünf Tage), der fehlenden Ausnahmen während des Absonderungszeitraums sowie der mit einer Absonderung verbundenen weitreichenden Begleiteingriffe in andere Grundrechte, angefangen vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Unterbindung von zwischenmenschlichen Kontakten) und der körperlichen Unversehrtheit (Beeinträchtigung der psychisch-seelischen Gesundheit) über die Berufs(ausübungs)freiheit bis hin zur Religionsfreiheit (keine Partizipation an Präsenz-Gottesdiensten) und dem Recht auf Ehe und Familie (eingeschränkte Gestaltungsfreiheit des familiären Zusammenlebens). Zu berücksichtigen ist aufgrund des in Art. 3 Abs. 2 GG enthaltenen Schutzgebots schließlich auch die patriarchale Rekonventionalisierung von Familienstrukturen, die während Absonderungen zu beobachten ist. Insgesamt handelt es sich bei Absonderungen damit um das wohl schärfste, weil grundrechtsinvasivste „Schwert“ des Infektionsschutzrechts.
Demgegenüber kommt dem staatlicherseits verfolgten Ziel des Lebens- und Gesundheitsschutzes zwar weiterhin ein hoher verfassungsrechtlicher Wert zu. Im Gegensatz zum Pandemiebeginn trifft das Virus allerdings nicht mehr auf eine gänzlich ungeschützte, sondern weitgehend basisimmunisierte Bevölkerung, die über ressourcenreiche Schutzinstrumente in Gestalt von Impfstoffen, Schutzausrüstung, wirksamen antiviralen Medikamenten sowie – zumindest ansatzweise – über wissenschaftliche Kenntnisse über Übertragungswege und Gefährlichkeitsgrad des Virus verfügt. Überdies sind die von einer Infektion mit der vorherrschenden Omikron-Virusvariante ausgehenden Krankheitsverläufe vergleichsweise mild und die für die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsversorgung maßgeblichen Hospitalisierungen somit vergleichsweise selten. In der Folge ist eine Überlastung des Gesundheitssystems auch mit Blick auf die bevorstehende Grippesaison zwar weiterhin nicht ausgeschlossen, aber deutlich unwahrscheinlicher als während der ersten beiden Pandemiejahre. Hierfür spricht auch, dass bereits zahlreiche andere europäische Staaten wie etwa Großbritannien, Spanien und Polen die Isolierungspflicht abgeschafft haben, ohne dass es in der Folge zu einer Überbelastung der dortigen – im Vergleich zu Deutschland zumindest tendenziell leistungsschwächeren – Gesundheitssysteme gekommen ist.
Die mit dem Vorstoß der vier Länder verbundene Neuorientierung des Infektionsschutzes auf das individuelle Verantwortungsbewusstsein der infizierten Personen stellt sich letztlich als Rückbesinnung auf das in § 1 Abs. 2 S. 2 IfSG proklamierte infektionsschutzrechtliche Leitbild der „Eigenverantwortung […] des Einzelnen bei der Prävention übertragbarer Krankheiten“ dar. Während die von der Gesetzesbegründung zur Rechtsgrundlage für Absonderungen (§ 30 Abs. 1 IfSG) angeführte freiwillige „Einsicht in das Notwendige“ bei einer bußgeld- und unter Umständen sogar strafbewehrten Absonderungspflicht fernliegend erscheint, wird ebendiese Einsichts- und Freiwilligkeitslogik nun bei einer Isolierungsempfehlung (siehe etwa Nr. 5 Bayerische AV Corona-Schutzmaßnahmen) nach der Maxime „Wer krank ist, bleibt zu Hause“ handlungsleitend.
Verstoß von § 30 Abs. 1 IfSG gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG
Isolierungspflichten für COVID-19-Infizierte sind aber nicht nur aufgrund des beschriebenen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verfassungswidrig, sondern auch weil § 30 Abs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für jegliche Absonderungsanordnungen mangels Zitats von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verstößt. Entgegen der letztlich fernliegenden, wenn nicht gar abwegigen Auffassung etlicher (Ober-)Verwaltungsgerichte (siehe etwa hier) greift die eine Rechtspflicht statuierende und sanktionsbewehrte Absonderungsanordnung durchaus in das Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit ein. Denn nicht nur der Einsatz physischen Zwangs, sondern auch solche Maßnahmen, die durch psychisch vermittelten Zwang in ähnlicher Weise die Möglichkeit aufheben oder beschränken, von der Fortbewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, können in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingreifen. Nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht in der Bundesnotbremse I-Entscheidung angeführten Kriterien ist ein solcher Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch Absonderungsanordnungen zu bejahen. So wird die Anordnung erstens von hoheitlichen Durchsetzungsmechanismen begleitet, insbesondere in Gestalt der zwangsweisen Unterbringung nach § 30 Abs. 2 IfSG. Zweitens begründet das Verhaltensverbot, einen bestimmten Ort für einen mehrtätigen Zeitraum ganztägig nicht verlassen zu dürfen, einen klaren Bezug zur Fortbewegungsfreiheit. Und schließlich entfaltet die Absonderungsanordnung angesichts der Bußgeld- und Strafbewehrung einer Zuwiderhandlung (§§ 73, 74 IfSG) trotz der schwierigen tatsächlichen Kontrolle und Kontrollierbarkeit der Einhaltung eine hohe psychische Zwangswirkung.
Vorbildwirkung im Bundesstaat
Nach der gescheiterten Diskussion über eine bundeseinheitliche Neuregelung zur Beendigung der Isolierungspflicht zeigen sich am Beispiel des Vorstoßes der vier Länder die Vorteile des in der Pandemie zu Unrecht vielgescholtenen deutschen Föderalismus. Versuche zur Gestaltung einer grundrechtsschonenderen Pandemieregulierung können in Ländern mit entsprechendem politischem Willen gewagt werden, bilden den Ausgangspunkt für eine erneute thematische Auseinandersetzung auf Bundesebene sowie in anderen Ländern und können im zu erwartenden Erfolgsfall Vorbildwirkung entfalten. So hat unter dem Eindruck der vier Vorreiter nun auch Rheinland-Pfalz angekündigt, die Isolierungspflicht abschaffen zu wollen. Weitere Nachahmer werden folgen und dadurch Grundrechte geschont werden.
Hingegen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Aufhebung der Isolierungspflicht die Gesundheitsversorgung in den betreffenden Ländern an oder gar über ihre Belastungsgrenze bringen wird. Solche Anhaltspunkte bedürfte es vor der Folie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes letztlich, um die Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen, die mit einer mehrtägigen Isolierungspflicht verbunden sind. Zwar gibt es laut dem Bundesgesundheitsminister keinen „medizinischen Grund“ zur Aufgabe der Isolierungspflicht, wobei dies selbst innerhalb des medizinischen Diskurses nicht unumstritten ist. Im demokratischen Verfassungsstaat sind freilich auch andere Erwägungen für die Pandemiesteuerung maßgeblich. In diesem Fall ist es das Grundgesetz, das die Abschaffung der Isolierungspflicht gebietet.
Der Beitrag basiert auf einem 2023 im „Verwaltungsarchiv“ erscheinenden Aufsatz.
Viele Worte, aber nichts zum Fremdschutz?
Hier wird ohne medizinisches Grundwissen ein Fundament aus populärwissenschaftlichen Narrativen genutzt, um Art. 2 (2) GG zu ignorieren.
Mich interessiert sehr, wie die Autoren § 223 StGB wegargumentieren.
Wann wird gegen die Masernimpfpflicht (reiner Fremdschutz, die zwangsgeimpfte Altersgruppe ist die am wenigsten vulnerable) und für bislang verbotene Masernpartys angeschrieben?
Wissenschaftliche Evidenz ist uninteressant, PostCovid und Übersterblichkeit ist uninteressant – aber der im Sinne von „harmlos“ politisch falsch verwendete Begriff der Endemie (so wie Ebola endemisch ist) wird argumentativ aufgegriffen.
Es gibt fast täglich neue Studien zu den vielfältigen organischen Schäden selbst bei milden Verläufen durch SARS-CoV-2. Hier ist eindeutig die verfassungsgemäße Schutzpflicht des Staates angezeigt – und zwar unabhängig von der Dauer der Pandemie, wie hier argumentiert wurde.
Sorry, dieser Artikel ist nicht überzeugend.
Vielen Dank Herr Prof. Wolff und Frau Folger für diesen Beitrag, der nach langer Zeit der (un-)verhältnismäßigen Grundrechtseinschränkungen die Rückkehr zur verfassungsrechtlich gebotenen Normalität, nach der staatliche Eingriffe zu rechtfertigen sind, befürwortet.
Die Aufgabe der Isolierungspflicht hätte schon viel früher kommen müssen, insb. in den “infektionsmilden” Sommern.
Wie stehen Sie zur der Diskussion darum, ob auch eine Freiheitsentziehung vorliegt?
Wilfried R. Fuss
Die „infektionsmilden“ Sommer waren gerade der Zeitraum, in denen die Abwägungen Gesundheit vs Einschränkungen besonders klar für eine Isolationspflicht sprachen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie funktionierten und Isolation betraf nur sehr wenige wirklich Infizierte.
Inzwischen ist die Situation eine völlig andere. Die Pandemie ist so dermaßen außer Kontrolle geraten, dass es auf eine Isolationspflicht auch nicht mehr ankommt. Viel weniger einschränkende Maßnahmen wurden gekippt, es gibt so viele nicht offiziell getestete Infizierte, dass auf die paar zusätzliche auch nicht mehr ankommt. Dazu kommt, dass ein Infizierter, der weiß, dass er infektiös ist, eine viel geringere Gefahr für andere darstellt, da er alle nötigen Maßnahmen ergreifen kann, wie Maske tragen, Abstand halten, Kontakte warnen, auf Luftqualität achten. Gerade das außer Kontrolle geraten der Pandemie spricht auch für ein Ende der Isolationspflicht und einer Aufweichung der Maxime „Wer krank ist, bleibt zu Hause“. Die derzeitig entstehenden großen Schäden durch die hohen Ausfälle durch Krankheit und Isolation stehen einer gewissen gesundheitlichen Beeinträchtigung derer, die trotz Corona zur Arbeit gezwungen werden gegenüber.
Wichtig wäre es diese Abwägung klar zu benennen und auf den nötigen Zeitraum zu begrenzen. Schließlich muss man die Isolationspflicht angesichts kaum noch vorhandener Testmöglichkeiten und Erfordernisse als ein Recht Kranker auf Isolierung sehen (Wer krank ist, bleibt zu Hause), das nur solange wie nötig eingeschränkt werden darf.