Es war einmal in Straßburg
Die Prinzessin, die Tochter des Schusters und die Meinungsfreiheit
Ein Märchenbuch für Kinder, in dem gleichgeschlechtliche Beziehungen dargestellt werden, (vorübergehend) aus dem Verkehr zu ziehen und es anschließend als „schädlich für Kinder unter 14 Jahre“ zu kennzeichnen, verstößt gegen das in Art. 10 EMRK gewährleistete Recht auf freie Meinungsäußerung. Dies hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in ihrer richtungsweisenden Entscheidung Macatė v. Lithuania festgestellt. Der Gerichtshof betonte außerdem, dass die gleiche und gegenseitige Anerkennung von Personen unterschiedlicher sexueller Orientierungen der gesamten Konvention inhärent ist: Den Zugang von Kindern zu Darstellungen gleichgeschlechtlicher Beziehungen einzuschränken ist mit den Grundsätzen der Gleichheit, des Pluralismus und der Toleranz in einer demokratischen Gesellschaft jedenfalls dann nicht vereinbar, wenn die Einschränkung ausschließlich darauf beruht, dass verschiedengeschlechtliche Beziehungen als sozial akzeptabler eingestuft werden.
Gleichgeschlechtliche Liebe als Bruch zivilrechtlicher Exklusivität
Ende 2013 veröffentlichte die litauische Dichterin und Illustratorin Neringa Dangvyde Macatė das Märchenbuch Gintarinė širdis (Amber Heart). Sie interpretierte darin klassische Märchen in zeitgemäßer Form neu, um Kindern im Alter von 9-10 Jahren gesellschaftliche Themen wie etwa die Ausgrenzung von marginalisierten Gruppen nahe zu bringen. So führen Märchenfiguren in zwei der sechs Erzählungen eine gleichgeschlechtliche Beziehung: In The Three Princes‘ Search for Wisdom heiratet der jüngste Königssohn einen Schneider; die Prinzessin in The Princess, the Shoemaker‘s Daughter and the Twelve Brothers verwandelt sämtliche männlichen Brautwerber in Vögel und wählt stattdessen die Tochter des Schuhmachers zur Frau. Bereits kurz nach der Veröffentlichung kam es zu einer Beschwerde an das Kultusministerium, da das Buch angeblich zu „Perversionen“ anrege. Die vom zuständigen Ministerium um ihre Einschätzung gebetene Aufsichtsbehörde für ethischen Journalismus stellte fest, dass die Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in Gintarinė širdis einen negativen und schädlichen Einfluss auf Kinder habe. Insbesondere verstoße die Darstellung gegen Abschnitt 4 § 2 (16) des litauischen Jugendschutzgesetzes, da sie von jenem Konzept der Ehe und Familie abweiche, das der litauischen Verfassung und dem litauischen Zivilgesetzbuch zugrunde liegt. Obwohl das Buch ein peer review durch Pädagog:innen durchlaufen hatte und die Veröffentlichung von der litauischen Universität für Pädagogik gefördert worden war, wurde der Verkauf des Buches nur wenige Monate nach seinem Erscheinen gestoppt. Seit der Vertrieb von Gintarinė širdis ein Jahr später wieder aufgenommen wurde, ist das Buch in Litauen mit einem Warnhinweis „schädlich für Kinder unter 14 Jahre“ versehen.
Schädliche Märchen?
The Princess, the Shoemakers Daughter and the Twelve Brothers ist eine Neuinterpretation des Märchens Die zwölf Brüder, das sich auch in der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm findet. In der Version der Gebrüder Grimm befiehlt der König, seine zwölf Söhne zu töten, falls seine Frau als dreizehntes Kind ein Mädchen zur Welt bringt: „Er ließ auch zwölf Särge machen, die waren schon mit Hobelspänen gefüllt, und in jedem lag das Totenkißchen“. Dass in Macatės Neuerzählung vorkommende Sätze wie „I will love you for a lifetime – said the princess with a revealed heart“ und „the happy princess fell asleep with the shoemaker’s daughter in her arms“ eher geeignet sein sollen, die „ethisch-moralische Entwicklung“ von Kindern zu beeinträchtigen, als der dutzendfach und penibel geplante Infantizid in der Originalversion, scheint schwer vorstellbar. In dem wegen der zitierten Passagen verhängten Verkaufsstopp beziehungsweise dem – späteren Ausgaben beigegebenen – Warnhinweis „schädlich für Kinder unter 14 Jahre“ sah die Autorin der Märchen einen Verstoß gegen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK und erhob Beschwerde an den EGMR. Zusätzlich brachte die Autorin eine Verletzung des Diskriminierungsverbots im Sinne des Art. 14 EMRK vor.
Die Entscheidung Macatė v. Lithuania
Die Beschwerde wurde zunächst einer Kammer der zweiten Sektion zugewiesen. Diese gab die Rechtssache gemäß Art. 30 EMRK an die Große Kammer ab, da der Fall schwerwiegende Fragen der Auslegung der Konvention aufwerfe. Zum ersten Mal setzte sich die Große Kammer des EGMR damit auseinander, ob die Beschränkung der Verbreitung eines Buches, das gleichgeschlechtliche Beziehungen in einer an Kinder gerichteten und für sie verständlichen Sprache schildert, eine Verletzung von Art. 10 EMRK darstellt.
ILGA-Europe, ARTICLE 19 u.a. unterstützen die Beschwerde. Sie machten geltend, dass der Fall Macatė schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Meinungsfreiheit und des Zugangs von Kindern zu Informationen aufwerfe: Art. 10 Abs. 2 EMRK und Art. 19 Abs. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte erlauben Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur in sehr engen Grenzen. Sie müssen gesetzlich vorgesehen und zum Schutz eines berechtigten Interesses notwendig und verhältnismäßig sein. Darüber hinaus dürfen sie auch nicht gegen die menschenrechtlichen Prinzipien der Gleichheit und Nicht-Diskriminierung verstoßen. Ein „Warnhinweis“ in Bezug auf Inhalte, die eine nach internationalem Recht vor Diskriminierung geschützte Gruppe betreffen, sei daher von vornherein verdächtig. Er drücke eine diskriminierende „Sorge“ aus, die auf Stereotypen und überkommenen Vorstellungen der „traditionellen Familie“ beruhe.
Auch die Große Kammer sah in der Beschränkung des Verkaufs von Gintarinė širdis und dem Warnhinweis einen Eingriff in die Meinungsfreiheit der Antragstellerin. Die Verfügbarkeit des Buches sei durch den kurzzeitigen Rückruf reduziert und dadurch die Reputation der Autorin beschädigt worden. Warnhinweise würden typischerweise dafür verwendet, um die Gefährlichkeit von Waren zu veranschaulichen. Der Hinweis auf dem Buch („schädlich für Kinder unter 14 Jahre“) erweckte den Anschein einer solchen Warnung. Er hielt die Autorin davon ab, ihre Ideen der beabsichtigten Zielgruppe der 9-10-jährigen Kinder zugänglich zu machen. Die Maßnahmen gegen das Buch zielten nach Ansicht des Gerichtshofs ausschließlich darauf ab, Kinder am Zugang zu Informationen zu hindern, die gleichgeschlechtliche Beziehungen als gleichwertig mit verschiedengeschlechtlichen Beziehungen darstellen. Durch eine solche Haltung würde eine Präferenz für bestimmte Beziehungsformen zum Ausdruck gebracht und verschiedengeschlechtliche Beziehungen als akzeptabler und wertvoller als gleichgeschlechtliche Beziehungen eingestuft. Gleichgeschlechtliche Beziehungen würden dadurch stigmatisiert. Die in Frage stehenden Maßnahmen sind daher mit den demokratischen Gesellschaften inhärenten Vorstellungen von Gleichheit, Pluralismus und Toleranz nicht vereinbar. Sie verfolgen kein rechtmäßiges Ziel im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK und verletzen daher das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Das ungenutzte Potential des Art. 14 EMRK
Obwohl die Große Kammer in ihrer Entscheidung feststellte, dass LGBTIQ+-Personen in Litauen nach wie vor in hohem Maße stereotypen Vorurteilen, Feindseligkeiten und Diskriminierung ausgesetzt sind, lehnte sie die Prüfung einer Verletzung von Art. 14 EMRK mit zwölf zu fünf Stimmen ab. In ihrer Joint Dissenting Opinion kritisierten die abweichenden Richter:innen, dass der Gerichtshof es verabsäumt habe zu klären, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen diskriminierende Maßnahmen sich gegen bestimmte Inhalte und nicht gegen – antidiskriminierungsrechtlich geschützte – Merkmale der jeweiligen Urheber:innen richten. Richtungsweisend sei in diesem Zusammenhang die Entscheidung Berkman v. Russia: Hier hatte der Gerichtshof festgestellt, dass die Beschwerdeführerin wegen ihrer Unterstützung für LGBTI-Personen aufgrund der (nicht zwangsläufig ihrer eigenen!) sexuellen Orientierung diskriminiert worden war. Diesen Ansatz hätte die Große Kammer auch in Macatė anwenden sollen: Die Beschränkungen, denen das Märchenbuch unterworfen wurde, beruhten nämlich auf dem Beziehungs- und Familienbild, welches von der Autorin transportiert wurde und nicht auf ihrer sexuellen Orientierung. Damit hätte der EGMR klarstellen können, dass es für das Vorliegen einer Diskriminierung keine Rolle spielt, ob es sich bei dem antidiskriminierungsrechtlich geschützten Merkmal um ein persönliches Merkmal des:der jeweiligen Beschwerdeführerin handelt. Ein solches erweitertes Verständnis von Diskriminierung stünde auch im Einklang mit dem Geist der EMRK, insbesondere mit den Werten Pluralismus, Toleranz und Respekt für die Vielfalt von Beziehungen und Familienformen.
Diskriminierungsschutz im europäischen Kontext
Mit einer Erweiterung des Diskriminierungsschutzes in der von den abweichenden Richter:innen geforderten Weise hätte der EGMR wesentlichen Entwicklungen des (europäischen) Antidiskriminierungsrechts Rechnung getragen: Erstens dem u.a. von Susanne Baer, Ulrike Lembke und Doris Liebscher vertretenen Ansatz eines postkategorialen Antidiskriminierungsrechts, das Diskriminierung nicht als personales oder gruppenspezifisches Problem, sondern vielmehr als Ergebnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und Strukturen begreift. Zweitens der vom EuGH zuerst in der Rs. Coleman vertretenen und in der Rs. CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD weiterentwickelten, in der Literatur meist als „Diskriminierung durch Assoziierung“ bezeichneten Rechtsfigur: Sie geht von einem Diskriminierungsverständnis aus, das Diskriminierungen wegen eines geschützten Merkmals als verboten begreift, unabhängig davon ob die betroffene Person selbst Träger:in dieses Merkmals (bzw. einer bestimmten Merkmalsausprägung) ist.
Homophobe Vorbehalte richten sich zunehmend (auch) gegen die Inhalte von Veröffentlichungen oder die Ziele von Veranstaltungen. Diese sind von der sexuellen Orientierung ihrer Urheber:innen (weitgehend) unabhängig. Das ändert jedoch nichts daran, das allfällige Beschränkungen ihren Grund in der Annahme der Überlegenheit bestimmter sexueller Orientierungen haben und andere sexuelle Orientierungen damit diskriminieren. Ein modernes Verständnis des Diskriminierungsschutzes muss dem Rechnung tragen. Art. 14 EMRK bietet dafür eine taugliche Grundlage. Es liegt nun am EGMR, die nächste Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.