Inter* Personen im menschenrechtlichen Warteraum
Bei Fällen aus dem LGBTIQ*-Themenkreis vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lässt sich ein gewisses Muster erkennen: In dem jeweils ersten Beschwerdefall (sei es das Adoptionsrecht für homosexuelle Personen, sei es die Frage der Anerkennung der Geschlechtsidentität von trans* Personen), erkennt der EGMR zunächst keine Verletzung eines Konventionsrechts an. Häufig erklärt er aber auch, dass diese Einschätzung sich ändern kann. So könnte es auch bei der Frage des Personenstatus von inter* Personen kommen.
Zu dieser Frage hatte der EGMR jetzt zum ersten Mal Gelegenheit sich zu äußern: Die beschwerdeführende Person Y wurde 1951 in Straßburg geboren. Die Geburtsurkunde deklarierte die Person als männlich, Y deklariert sich als inter*. Die französischen Gerichte lehnen eine Änderung von „männlich“ auf „neutral“ oder „intersex“ ab. Y sieht sich im Recht auf Privatleben verletzt und legte Beschwerde beim EGMR ein. Der Gerichtshof sieht darin zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Verletzung von Art 8 EMRK. Auch dieses Urteil weist darauf hin, dass zukünftige Fälle anders ausfallen könnten. Positiv zu beurteilen ist auch dass das Leid der beschwerdeführenden Person ausdrücklich anerkannt wird.
Inter* als Identität vor dem EGMR
Y ist seit Geburt an inter*, der Prozess der Geschlechtsdifferenzierung hat sich in utero nie vollzogen. Weder Hoden, noch Eierstöcke haben sich geformt, daher hat Y auch nie Geschlechtshormone produziert. Daran änderte auch die Pubertät nichts: Mit 21 Jahren hat Y ein unbestreitbar androgynes Aussehen. Aufgrund einer Osteoporose wurden Y im späteren Leben männliche Hormone verschrieben. Diese verändern sein androgynes Aussehen kaum, führt allerdings zu Bartwuchs und einer tieferen Stimme. Auch mit 63 Jahren behält Y seine inter* Identität, die sich neben dem biologischen Aspekt auch durch eine „psychologische Intersexualität“ und eine „soziale Intersexualität“ bemerkbar macht (Rz 10). Am 12. Jänner 2015 beantragt Y beim Gericht erster Instanz (Tribunal de Grande Instance), die Geschlechtsbezeichnung von „männlich“ auf „neutral“ (oder „intersex“) zu ändern. Das Gericht gab am 20. August 2015 dem Antrag statt: Weder die Medizin noch das Umfeld von Y noch Y selber sehe Y als männlich (oder weiblich). Derlei Fälle seien so selten, dass sie auf „keine rechtlichen Hindernisse im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung stoßen“ (Rz 14, Übersetzung durch die Autorin).
Das Berufungsgericht (Cour d’Appel) sah dies anders und hob das Urteil mit 22. März 2016 auf. Es begründete seine Entscheidung damit, dass Y ein männliches Aussehen hat, verheiratet ist und ein Kind adoptiert hat. Auch das Kassationsgericht (Cour de Cassation) wies die gegen die Berufungsentscheidung eingelegte Beschwerde zurück. Es wies darauf hin, dass „die französische Rechtsordnung die Eintragung eines anderen als des männlichen oder weiblichen Geschlechts in den Personenstandsregistern nicht zulässt“ (Rz 16, Übersetzung durch die Autorin). Art 8 EMRK sei nicht verletzt, da „die Zweigeschlechtlichkeit des Geschlechtseintrags in den Personenstandsurkunden ein legitimes Ziel verfolgt, welches für die soziale und rechtliche Organisation notwendig ist, deren grundlegendes Element sie ist“ (Rz 16, Übersetzung durch die Autorin). Die Einführung eines neutralen Geschlechts hätte tiefgreifende Auswirkungen auf die französische Rechtsordnung. Die Gewährung eines solchen neutralen Geschlechtseintrags sei daher unverhältnismäßig.
(Noch) keine Verletzung von Art 8 EMKR
Dagegen erhob Y Beschwerde an den EGMR. Nach Ansicht des Gerichtshofs handelt es sich bei der behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK aber nicht um eine Frage der Selbstbestimmung im Zusammenhang mit der Geschlechtsidentität: Viel mehr gehe es darum, welche Folgen sich aus Art 8 EMRK ergeben, wenn eine inter* Person, die biologisch weder männlich noch weiblich ist, dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugewiesen wird (Rz 44). Nach dieser Formulierung etwas überraschend erklärt der EGMR daraufhin, dass der Fall im Lichte der positiven Verpflichtungen des Staates untersucht werden muss. Die eingrenzende Formulierung hätte dem EGMR allerdings ermöglichen müssen zu konstatieren, dass es sich bei der Falschzuschreibung in der Geburtsurkunde von Y um einen staatlichen Eingriff handelt. Der Gerichtshof kommt jedoch zu dem Entschluss, dass es sich um eine Beschwerde gegen eine Lücke im französischen Recht handle, welche die beschwerdeführende Person in ihrem Privatleben beeinträchtigt, und nicht um eine Beschwerde gegen einen staatlichen Akt (Rz 69).
In seiner Prüfung stellt der EGMR auf zwei Aspekte ab: Zum einen die allgemeinen Grundsätze zur Beurteilung positiver Verpflichtungen eines Staates, wie die Frage, ob es einen europäischen Konsens zur Frage der Geschlechtszugehörigkeit von inter* Personen gibt. Zum anderen, ob zwischen dem Interesse der Allgemeinheit und jenem der Einzelperson angemessen abgewogen wurde.
Zum Fall selbst stellt der EGMR zunächst fest, dass die Geschlechtsidentität einer Person einen wesentlichen Aspekt der Intimsphäre darstellt. Mit Verweis auf A.P., Garçon and Nicot v France erinnert der Gerichtshof daran, dass „der Begriff der persönlichen Autonomie einen wesentlichen Grundsatz widerspiegelt, der der Auslegung der Garantien des Art 8 EMRK zugrunde liegt“ (Rz 75). Das Recht auf Geschlechtsidentität und persönliche Entfaltung ist somit ein grundlegender Aspekt des Rechts auf Privatsphäre. Dieser Umstand verringert den Ermessensspielraum des Staates. Demgegenüber hebt der Gerichtshof allerdings hervor, dass die Fragen, die in dieser Beschwerde aufgeworfen werden, in den Vertragsstaaten noch – zum Teil „kontrovers“ (Rz 77) – diskutiert werden und sich in demokratischen Staaten durchaus sehr divergente Meinungen dazu halten. Während der Gerichtshof zwar durchaus bekräftigt, dass die Frage der Anerkennung von Geschlecht außerhalb der Binarität in einigen Länder diskutiert wird und in einigen Vertragsstaaten schon akzeptiert ist, reiche es dennoch nicht für einen europäischen Konsens. Der Gerichtshof begibt sich hier in Widerspruch zu seiner eigenen Argumentation in Goodwin v UK, wo er einen „emerging consensus“ (Rz 84) unter dem Vertragsstaaten bereits als ausreichend eingestuft und insbesondere auch auf den internationalen Trend abgestellt hat. Entwicklungen außerhalb der Konvention, etwa in Australien, Indien oder Nepal, werden im Fall Y vom EGMR gar nicht berücksichtigt.
Im Anschluss setzt sich der EGMR mit der Interessenabwägung auseinander. Der Gerichtshof stellt außer Zweifel, dass es sich bei Y um eine inter* Person handelt. Es ist außerdem nicht zu bezweifeln, dass die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen biologischen Geschlecht von Y und der rechtlichen Identität dazu geeignet ist, Leid und Angstzustände hervorzurufen. Der Gerichtshof hebt in diesem Zusammenhang die Ausführungen des*der Psychotherapeuten*in von Y hervor, in denen auf die andauernde „Identitätsverletzung“ hingewiesen wird, die dadurch entsteht, vorgeben zu müssen „Mann zu sein“, obwohl man einem „dritten Geschlecht“ angehört. Entschieden stellt sich der EGMR auch gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach das vermeintlich männliche Aussehen (v.a. bedingt durch die Osteoporose-Medikamente) Vorrang vor der inter* Realität von Y haben sollte. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist allerdings auch das öffentliche Interesse Frankreichs besonders zu berücksichtigen. Die Anerkennung eines neutralen Geschlechts hätte weitreichende Auswirkungen auf die französische Rechtsordnung (Familien-, Abstammungs- und Fortpflanzungsrecht sowie die Gleichstellung von Frauen und Männern), wie es auch das Kassationsgericht angemerkt hat. Die subsidiäre Rolle des Konventionsmechanismus wird ebenfalls in Erinnerung gerufen. Die Einführung eines weiteren rechtlichen Geschlechts sollte durch die Gesetzgebung, nicht durch die Gerichte, erfolgen.
In Anbetracht der Gesamtsituation, des Fehlens eines europäischen Konsenses und des weiten Ermessungsspielraums der Vertragsstaaten müsse es jedoch dem beklagten Staat überlassen bleiben, zu bestimmen, wie schnell und in welchem Umfang den Forderungen von inter* Personen entsprochen werden kann. Der Gerichtshof erinnert abermals, dass es sich bei der Konvention um ein lebendiges Instrument handelt, das im Lichte der aktuellen Umstände gelesen werden muss. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht der EGMR allerdings keine Verletzung der aus Art 8 EMRK erwachsenden Gewährleistungspflichten Frankreichs.
Alternative Auslegung: Negative Verpflichtungen
In ihrer abweichenden Meinung stellt Richterin Šimáčková fest, dass es zwar bisher keinen europäischen Konsens zur Frage der Geschlechtszugehörigkeit von inter* Personen gibt und internationale Gerichtshöfe mit Blick auf die innerstaatliche Gewaltentrennung zur Zurückhaltung verpflichtet sind. In diesem Fall könne man aber von der konkreten Situation der Person und ihre Lebensumstände nicht abstrahieren. Richterin Šimáčková fasst die Situation von Y folgendermaßen zusammen: „Du bist zwar weder als Mann noch als Frau geboren worden, aber das Gesetz erlaubt das nicht. Deshalb musst du deinen Körper (auch wenn du darunter leidest) und deine Seele (auch wenn du dich gedemütigt fühlst) anpassen, um den vom Staat verabschiedeten Gesetzen zu entsprechen. Ich finde diese Eingriffe so schwerwiegend, dass sie meiner Meinung nach das Recht der beschwerdeführenden Person auf Achtung seines Privatlebens verletzen“ (Rz 1, Übersetzung durch die Autorin). Die Richterin formuliert diesen Fall im Rahmen negativer Verpflichtungen, die sich aus Art 8 EMRK ergeben. Es geht nicht darum, dass Frankreich aktiv Schritte setzt, um die Rechte von Y zu gewähren (positive Verpflichtungen), sondern, dass Frankreich die Pflicht hat, eine Handlung zu unterlassen – hier eine falsche Eintragung in der Geburtsurkunde – die in ungerechtfertigter Weise in die Rechte von Y eingreift. Die Geschlechtsneutralität anzuerkennen muss in diesem Fall als Pflicht angesehen werden, sich nicht in das Privatleben der betroffenen Person einzumischen. Tatsächlich hätte die Formulierung und Eingrenzung der zu untersuchenden Frage durch den EGMR genau eine solche Auslegung nahegelegt. Gerade, weil er die zu untersuchende Frage so formuliert, dass es um Folgen einer Falschzuschreibung in der Geburtsurkunde geht, hätte eine konsequente Auslegung geboten, eine Verletzung der negativen Verpflichtungen resultierend aus Art 8 EMRK anzuerkennen.
Best Case Szenario: Inter* Anerkennung im Jahr 2039
Im ersten Fall vor dem EGMR, in dem es um die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität eines trans* Mannes ging, wurde im Oktober 1986 mit zwölf zu drei Stimmen gegen eine Verletzung von Art 8 EMRK entschieden. Es dauert bis Juli 2002 (und mehrere Fälle dazwischen) bis der Gerichtshof in Goodwin v UK seine Haltung änderte und die Weigerung, die Geschlechtsidentität anzuerkennen, als Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens anerkannte. Legt der Gerichtshof im Fall von inter* Personen ein ähnliches Tempo an den Tag, so dürften diese wohl frühestens im Jahr 2039 mit entsprechendem menschenrechtlichem Schutz rechnen. Bei den Fällen von trans* Personen handelte es sich allerdings um die Anerkennung innerhalb eines binären Geschlechtersystems. Die Kategorien waren da, nur der verwaltungsrechtliche Weg zur Änderung war nicht etabliert. Im vorliegenden Fall geht es dagegen – wie auch in den vor wenigen Jahren vom deutschen BVerfG und dem österreichischen VfGH entschiedenen Fällen – um die Schaffung einer neuen bzw. dritten rechtlichen Kategorie. In diesem Kontext spielt wohl auch die vorherrschende, als Standard empfundene Heteronormativität eine Rolle. Die Frage ist: Wie lange müssen inter* Personen im menschrechtlichen Warteraum ausharren?
Seit jetzt weit mehr als einem Jahrzehnt müssen intergeschlechtliche Menschen dafür zur Verfügung stehen, dass alle Geschlechtsidentitäten (v.a. in Deutschland und Österreich) rechtlich anerkennt werden.
Damit wird mit diesem Menschenrecht auf rechtliche Anerkennung jeglicher Geschlechtsidentität Politik betrieben auf Kosten intergeschlechtlicher Kinder oder abgelenkt – öfters durch die trans Community – von den eigentlichen, schwerwiegenden, geschlechtsverändernden Eingirffen and Kindern.
Das ist ethisch nicht redlich und sachlich falsch.
Bekanntlich betrifft das Recht auf rechtliche Anerkennung jeglicher Geschlechtsidentität nicht nur trans oder intergeschlechtliche Menschen, sondern z.B. auch schwule oder heterosexuelle Personen die keine Geschlechtsidentität als Mann oder Frau haben.
Das sollte – um wissenschaftlich nicht abzulenken in einem solchen Beitrag auch gesagt werden. Auch ist es in solchen Besprechungen durchaus gerechtfertigt, auf die eigentlichen, zentralen Anliegen von intergeschlechtlichen Menschen / Kinder mit einer angeborenen Variation der Geschlechtsmerkmale hinzuweisen.
Der Fall ist mir bestens bekannt (auch zwei andere aus Frankreich). Aber bei der Frage des Personenstatus geht es nicht nur um “inter* Personen”.
symptomatisch ist auch, dass auf Godwin v UK hingewiesen wird.