Zur fortbestehenden Bedeutung der Wahl im Wahlkreis
Der Bundestag wird nach aller Voraussicht in dieser Woche über den Gesetzesentwurf der Fraktionen der Ampelkoalition zur Wahlrechtsreform beschließen. Über die Einzelheiten des Entwurfs ist bereits hinlänglich berichtet worden.
Das Element der Verhältniswahl wird deutlich gestärkt: Bewerber können nur dann ein Mandat erhalten, wenn dieses durch Listenstimmen gedeckt ist.
Das Element der Personalwahl wird dagegen in seiner Bedeutung grundsätzlich reduziert zu einem Verteilungsmodus der nach Listenwahl bestimmten Sitzzahl: Für die Vergabe der auf die Landeslisten entfallenden Sitze werden vorrangig diejenigen Bewerber berücksichtigt, die in einer Wahl nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen ermittelt werden. Dabei werden diese Bewerber je Land nach ihrem Wahlkreisstimmenanteil gereiht. Dies hat zur Folge, dass Bewerber, die zwar die Wahlkreiswahl gewonnen haben, für die aber wegen ihrer kleinen Mehrheit im Wahlkreis kein Listensitz mehr zur Verfügung steht, kein Mandat erhalten; der Wahlkreis bleibt aus Sicht der Wahlkreiswahl unbesetzt.
Abgerundet wird der Entwurf durch eine Regelung zu unabhängigen Kandidaten. Für Bewerber, die nicht von einer Partei vorgeschlagen und daher auch auf keiner Liste aufgeführt werden, wird die Möglichkeit eröffnet, in einem Wahlkreis zu kandidieren und als Wahlkreissieger den Sitz allein aufgrund der Wahlkreiswahl zu erhalten.
Nicht mehr Teil der Reform ist dagegen der Vorschlag, das Verwaisen von Wahlkreisen dadurch zu vermeiden, dass die Wähler mit einer dritten Stimme ersatzweise Wahlkreiskandidaten wählen können, die aber anderen Listen bzw. Parteien angehören mussten als die eigentlich gewollten Wahlkreiskandidaten. Dieser Ansatz wurde fallen gelassen, wohl auch wegen der damit verbundenen evidenten verfassungsrechtlichen Probleme.
Zu vermerken ist schließlich noch ein weiterer Wegfall: Anfang der Woche wurde bekannt, dass auch die Grundmandatsklausel nicht mehr enthalten sein soll; dazu unten mehr.
Abschied von der Personenwahl?
Das Vorhaben der Ampel wurde hier und hier von Michl/Mittrop als Abschied von der Personenwahl gedeutet. Im Wahlkreis würden nun keine Mandate mehr gewonnen, sondern nur Chancen auf Mandate, über deren definitive Zuteilung allein die Listenwahl entscheide. Die Wahl im Wahlkreis sei keine mandatsverschaffende Wahl im engeren Sinne, sondern nur noch eine Vorauswahl in der Konkurrenz der Mandate. Daher sei es zulässig, Wahlkreissiegern kein Mandat zuzuteilen. Dem stehe auch die Wahlgleichheit nicht entgegen, da jeder Wahlkreissieger die rechtlich gleiche Chance auf ein Mandat habe, deren Verwirklichung allein vom Proporz der Listenstimmen abhänge.
Wahlkreiswahl weiterhin wahlrechtlich relevant und nicht bloßes Narrativ
Eben dies trifft aber nicht zu. Die Wahlkreiswahl als reine Vorauswahl und als ein bloßes wahlrechtliches Narrativ zu deuten, überzeugt nicht. Die Wahl im Wahlkreis ist weiterhin wahlrechtlich relevant und daher an der Gleichheit der Wahl zu messen ist.
Trotz des erkennbaren Bemühens, im Gesetzesentwurf durch begriffliche und regelungssystematische Betonungen das Element der Verhältniswahl zu stärken, behält das personalwahlrechtliche Element der Wahl im Wahlkreis eine rechtliche Bedeutung, die erheblich ist. Parteibewerber sind in den Wahlkreisen nur gewählt, wenn sie eine relative Mehrheit der Wahlkreisstimmen erzielen und nach dem Proporz zum Zuge kommen. Beide Bedingungen müssen kumulativ erfüllt sein, damit ein in einem Wahlkreis antretender Parteibewerber in den Bundestag einzieht.
Daraus folgt zum einen, dass es nun nicht mehr genügt, dass ein Parteibewerber im Wahlkreis gewinnt, sondern der Bewerber zudem stets eine Deckung durch Listenstimmen haben muss. Zum anderen folgt daraus aus umgekehrter Perspektive zugleich, dass ein in einem Wahlkreis antretender Parteibewerber neben der Zweitstimmendeckung eben auch die Wahlkreiswahl gewinnen muss, um sicher in den Bundestag einzuziehen. Gelingt ihm dies nicht, kann er als Wahlkreisverlierer nur dann in den Bundestag einziehen, wenn auf die Landesliste seiner Partei mehr Sitze entfallen, als es Wahlkreissieger gibt, und er zudem einen Listenplatz hat, der noch zum Zug kommt; seine Erfolgschance ist also durch die Ausgestaltung des Wahlrechts deutlich reduziert.
Dieser – ganz erhebliche – Unterschied zwischen den Chancen der Wahlkreissieger und der Wahlkreisverlierer ist rechtlich bedingt, weshalb die Wahl im Wahlkreis weiterhin eine erhebliche rechtliche Bedeutung hat und kein bloßes Narrativ ist.
Gleichheit der Wahl aus Sicht der Mehrheitswahl im Wahlkreis
Die im Vergleich zum geltenden Bundestagswahlrecht zwar reduzierte, aber weiter fortbestehende rechtliche Bedeutung der Wahlkreiswahl ist aus der Perspektive der wahlrechtlichen Gleichheit zu bewerten.
Die entsprechenden Einzelheiten habe ich bereits an anderer Stelle umfänglich ausgeführt (NVwZ 2023, 286 ff.), weshalb der Argumentationsgang hier nur in seinen wesentlichen Teilen skizziert sei. Da die Wahl im Wahlkreis weiterhin ein eigenständiges rechtliches Element ist, ist die Nichtzuteilung des Mandats an den Wahlkreissieger in Überhangsituationen eine rechtliche Differenzierung aus Gründen, die nicht bzw. nicht nur aus der Wahlkreiswahl folgen, sondern auch aus Aspekten der Verhältniswahl, und damit eine relevante Ungleichbehandlung. Die Nichtzuteilung bzw. Kappung durchbricht die Wahl nach Mehrheit im Wahlkreis und bedarf deshalb der Rechtfertigung durch einen zwingenden Grund. Der im Entwurf angegebene Grund der Reduktion der Bundestagsgröße genügt dazu aber nicht, den der Bundestag funktioniert erkennbar auch mit 736 Abgeordneten.
Die Alternative: Gleichheit der Wahl aus Sicht der Verhältniswahl nach Landeslisten
Die vorstehend dargelegte Ansicht, dass die Wahl mit Mehrheit im Wahlkreis weiterhin eine eigene Bedeutung hat, ist allerdings nicht unbestritten. Es wird geltend gemacht, dass der Gesetzesentwurf eine Systementscheidung für ein umfassendes Verhältniswahlrecht enthalte und die Wahl im Wahlkreis nur unselbständiger Teil einer Verhältniswahl sei.
Dass mich dies nicht überzeugt, habe ich oben bereits dargelegt. Dennoch ist es aufschlussreich, sich auf die Gegenansicht einzulassen. Denn daraus folgt noch nicht, dass die im Gesetzesentwurf vorgesehen Regelungen der Sitzzuteilung verfassungsgemäß sind. Die Gleichheit der Wahl ist vielmehr weiterhin relevant, nun aber mit dem für Verhältniswahlen einschlägigen Maßstab, also der Erfolgswertgleichheit in Abhängigkeit von Erfolg bei Listenwahl. Dies ist nun die maßgebliche gleichheitsrechtliche Anforderung an den Gesetzesentwurf, nicht mehr die Gleichheit der Mehrheitswahl im Wahlkreis.
Diese Umkehrung der Perspektive hat erhebliche Folgen. Denn mit der Annahme eines Systemwechsels zu einer umfassenden Verhältniswahl verändert sich die gleichheitsrechtliche Bewertung der „verbundenen Mehrheitsregel“ des Gesetzesentwurfs. Unter Druck gerät nun die Mehrheitswahl im Wahlkreis, da sie die aus der landesweiten Listenwahl folgende Sitzzuteilung verändert. Aus Sicht der Verhältniswahl nach Landeslisten führt die Mehrheitswahl im Wahlkreis zur Durchbrechung der landesweiten Verhältniswahl, die einer Rechtfertigung durch zwingende Gründe bedarf; daran fehlt es aber, wie oben bereits ausgeführt.
Dem kann auch nicht entgegnet werden, dass die Einflüsse der Wahlkreiswahl auf die Verteilung der Listensitze gleichheitsrechtlich irrelevant seien, weil maßgeblich sei, wie die Entscheidung über die Sitzverteilung auf der Basis eines Abstimmungsergebnisses einfachgesetzlich konkret organisiert ist. Würde die jeweilige konkrete Ausgestaltung der wahlgesetzlichen Regelungen als relevanter Maßstab für die Gleichheit der Wahl zugrunde gelegt, erzeugte der Gesetzgeber stets seinen eigenen Maßstab und entfiele damit grundsätzlich die Möglichkeit einer begrenzenden Wirkung der Gleichheit der Wahl auf Verbindungen zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl. Dies entwertete die Gleichheit der Wahl und stünde im Gegensatz zur einschlägigen Rspr. der BVerfG, wonach auch Wahlsysteme, die eine Verbindungen einer Mehrheitswahl von Personen mit einer Verhältniswahl nach Listen vorsehen, einer Kontrolle u.a. am Maßstab der Gleichheit der Wahl unterliegen.
Zur Abschaffung der Grundmandatsklausel
Die Vorgaben der Gleichheit der Wahl sind auch für den Umfang mit der Grundmandatsklausel relevant. Dass eine Wahlrechtsreform, die das Element der Verhältniswahl nach Landeslisten stärkt und die Bedeutung der Wahlkreise zurücknimmt, die in der Grundmandatsklausel liegende Differenzierung aufgrund des Erfolges einer Partei in einigen Wahlkreisen in Frage stellt, ist offensichtlich und wurde u.a. im Jahr 2022 in der Kommission des Bundestages zur Reform des Wahlrechts bereits deutlich und mehrfach sowie aktuell auch von Michl/Mittrop thematisiert.
Aus Sicht der Position, die dem Ampel-Vorschlag kritisch gegenübersteht und die Mehrheitswahl im Wahlkreis stützen möchte, ist die nun vorgeschlagene vollständige Streichung der Grundmandatsklausel ein weiterer Beleg dafür, dass der von der Ampel eingeschlagene Weg in die falsche Richtung führt. Dass durch die Streichung der Grundmandatsklausel der Verbleib von gleich zwei Parteien im Bundestag – Die Linke und CSU – in Frage gestellt wird, verdeutlicht die problematische Grundanlage der Reform.
Daraus ein Eigentor der Unionsparteien konstruieren zu wollen und dazu u.a. auch auf eine Sachverständigenstellungnahme in einer Anhörung des Innenausschusses durch collagenhaft-partielle Bezugnahme hinzuweisen, wie dies hier jüngst Uwe Volkmann unternommen hat, dürfte dagegen ein untauglicher Versuch sein, durch narrative Konstruktion Verantwortung zu verschieben: Wenn in Kommissionsberatungen und Anhörungen zu einem Gesetzesvorhaben Sachverständige sich zum Kern eines Vorhabens (verbundene Mehrheitsregel) verfassungsrechtlich kritisch äußern und zudem mehrfach darauf hinweisen, dass das Vorhaben aus rechtlichen Gründen eine weitere Änderung erforderlich machen könnte (Aufhebung der Grundmandatsklausel), die Fraktionen aber dennoch am Kern des Vorhabens festhalten und dafür auch die Änderung in Kauf nehmen, haben diese Fraktionen gehandelt und steht ihnen das „Tor“ zu.
630 als Chance
Dass die Folge der möglichen Ausgrenzung von zwei Parteien aus dem nächsten Bundestag insbesondere dann, wenn man zuvor die Reform noch als erhebliche politische Leistung gepriesen hat, nun – wie Uwe Volkmann – nicht nur als kein schöner Zug, sondern vielleicht als nicht einmal ein besonders kluger angesehen wird, sollte die Akteure allerdings noch einmal zur kritischen Reflexion ihres Vorhabens bewegen. Das Schlagwort des zu großen Bundestages hat die Reform offenbar in die falsche Richtung getrieben. Die zuletzt genannte Zahl von 630 Abgeordneten ist hier möglicherweise eine Chance: Die Lösung von der Fixierung auf 598 Abgeordnete sollte dazu genutzt werden, anderen Reformoptionen oder zumindest Änderungen des Ampel-Entwurfs eine Chance zu geben.