Vivat Rex
Es gibt vermutlich niemandem, dem es leicht fiele zu erklären, was da eigentlich genau passieren wird am morgigen Tag in der Westminster Abbey in London, UK. Die Krönung Karls des Dritten und seiner Frau Camilla wird passieren, schon klar. Aber was heißt das? Ihm wird im Rahmen eines anglikanischen Gottesdienstes von einem Bischof ein Eid abgenommen, er wird mit Olivenöl beträufelt, ihm werden ein Gewand umgehängt, eine Krone auf den Kopf und allerlei juwelengeschmückte Gerätschaften in die Hände gedrückt und zuletzt wird er auf einen Stuhl gesetzt. Schon klar. Aber was passiert da? Es ist ja nicht so, dass das halt das juristische Verfahren, der illokutionäre Sprechakt ist, der Karl den Prinzen – pling! – in Karl den König verwandelt und so die staatsrechtliche Position des Staatsoberhaupts besetzt. König ist Karl auch jetzt schon und wurde es im Moment des Todes seiner Mutter. Es ist auch nicht so, dass da ein großer und mächtiger Herrscher mit viel Gold und Weihrauch seine eigene Größe und Herrlichkeit feiert. Die Zeremonie ist, wie alles, was der König tut und sagt, auf das Strikteste von der Regierung des Premierministers seiner Majestät Rishi Sunak kontrolliert und diktiert, um deren Größe und Herrlichkeit es bekanntlich nicht besonders gut bestellt ist in diesen Zeiten der nationalen Qual. Den König krönen? Keine andere Monarchie in Europa macht das noch. Was soll das also? Was passiert da?
Es gibt zwei einfache Antworten, die mir beide nicht einleuchten: Das ist abergläubischer Hokuspokus, ein teures Zirkusspektakel der Regierung zur Ablenkung der Massen und für eine aufgeklärten modernen Menschen eine Zumutung, über die jedes Wort außer beißendem Spott verschwendet wäre, lautet die eine. Das ist ein liebenswertes, von jahrhundertealter Tradition durchwirktes, Gemeinschaft, Sicherheitsgefühl und Kontinuität stiftendes Ritual, das man zwar vielleicht nicht ganz ernst nehmen kann, aber doch jedenfalls jubelnd und fähnchenschwenkend genießen sollte, lautet die andere. Beide Antworten tun so, als würde sich von selbst verstehen, dass die Krönung überhaupt für etwas gut sein und einem außer ihr liegenden Zweck dienen soll. Das täte es dann, wenn sie eine moderne Sache wäre. Was sie, um das Offensichtliche zu sagen, nicht ist.
Durch die modernen Zeiten ist die britische Monarchie dadurch gekommen, dass sie sich in ein lächelndes, würdevolles Stück politischer Quasi-Nichtvorhandenheit verwandelt hat. Das kann auch gar nicht anders sein. Dass ein moderner, demokratischer Staat überhaupt ein Oberhaupt hat, lässt sich sehr viel leichter ohne Selbstwiderspruch behaupten, wenn daraus nichts wirklich Wichtiges mehr folgt. Das ist in Republiken wie die unseren ja auch nicht anders: Lächelnde Quasi-Nichtvorhandenheit ist auch für Bundespräsident*innen nicht die schlechteste Wahl, um ohne allzu großen Würdeverlust durch dieses seltsamste aller modernen Staatsämter zu kommen.
Karl kennzeichnet allerdings, dass er sehr vorhanden ist, im Übermaß sogar für viele, die sich seit jeher schon auf diesen sonderbaren, großohrigen, traurigen, linkischen, in so vieler Hinsicht entsetzlich unmodernen Mann keinen Reim machen können. Anders als bei seiner Mutter weiß man sehr genau über seine politischen Präferenzen und Meinungen Bescheid, aus denen er nie einen Hehl gemacht hat, im Gegenteil. Er ist ebenso leidenschaftlich für Biogemüse wie gegen moderne Architektur engagiert und lässt darüber zur großen Irritation der britischen Presse und eines nicht geringen Teils der Bevölkerung auch niemanden im Ungewissen, am allerwenigsten die demokratisch gewählte Regierung, die er jahrzehntelang mit Briefen zu bombardieren pflegte, ohne aber für die Relevanz seiner Ansichten einen besseren Grund angeben zu können als eben seine Geburt. So ragt dieser Mann in die Moderne, die mit ihm so wenig zurecht kommt wie er mit ihr. Und jetzt ist er König.
++++++++++Anzeige++++++++
This open access book asks whether there is space for particularism in a constitutional democracy which would limit the implementation of EU law. National identity claims are a key factor in shaping our times and the ongoing evolution of the European Union. To assess their impact this collection focuses on the jurisprudence of Czechia, Hungary, Poland, and Slovakia, as they play an essential role in giving life to particularism. By taking particularism as the prism through which they explore the question, the contributors offer a new analytical scheme to evaluate the judicial invocation of identity. This requires an interdisciplinary approach: the study draws on comparative constitutional law, theory, comparative-empirical material and normative-philosophical perspectives. This is a fresh and thought-provoking new study on an increasingly important question in EU law.
++++++++++++++++++++++
Die Ironie daran ist aber, dass Karl, seit 71 seiner 74 Lebensjahre Kronprinz, den Thron zu einem Zeitpunkt besteigt, an dem die Moderne längst selbst nicht mehr richtig modern ist. In der zweiten Staffel der legendären BBC-Serie House of Cards (dem Original, nicht zu verwechseln mit dem US-Remake mit Kevin Spacey) wird ein fiktiver König für seine unbeholfenen, demokratisch fragwürdigen Versuche, die Regierung zu einer sozial verträglicheren Politik zu bewegen, vom bodenlos zynischen, teuflisch cleveren, mörderisch machthungrigen Tory-Premierminister Francis Urquhart nach allen Regeln der Kunst fertig gemacht. 1993 war das, keine drei Jahre nach dem Rücktritt von Margaret Thatcher. Seither sind 30 Jahre und acht Premierminister*innen ins Land gegangen, sechs davon solche von der Conservative Party. Sich Rishi Sunak oder sonst irgendeine Gestalt in dieser vollkommen heruntergewirtschafteten Partei als Francis Urquhart vorzustellen, fällt schwer. Karl hingegen ist immer noch der Gleiche. Und irgendwie müssen auch die, die ihn die ganze Zeit ausgelacht haben, am Ende doch zugeben: He was kind of right all along, wasn’t he?
Wenn es die Trennung zwischen Gesellschaft und Natur ist, die die Moderne kennzeichnet, dann ist es heute viel mehr als 1993 ein nicht nur plausibles, sondern im höchsten Grade dringliches politisches Anliegen, diese Moderne zu überwinden. Klimawandel und Artensterben sind unabweisbare Realität, und der große politische Konflikt unserer Zeit ist der zwischen denjenigen, die die Forderung, dass es so nicht weiter geht, abwehren und aufschieben, und denjenigen, die sie annehmen und gestalten wollen. Die konservativen Parteien, soweit sie nicht zu autoritär-populistischen Scheußlichkeiten degenerieren wollen oder bereits degeneriert sind, sollten das als Chance begreifen. Was ist konservativ, wenn nicht die Moderne überwinden wollen?
Ich verbringe gerade viel Zeit in der Uckermark, 70 km nördlich von Berlin, eine sehr ländliche Gegend. Was hier auffällt, ist das Maß an Abneigung, das den Grünen entgegen gebracht wird, bei gleichzeitig hohem Problembewusstsein für den Zustand dessen, was wir Modernen uns als “Natur” zu bezeichnen angewöhnt haben und was für die Menschen auf dem Land einfach das Land ist, auf dem sie leben. Was es bedeutet, wenn es monatelang nicht regnet und die Ernte verkümmert und die Wälder wie Zunder brennen, erfahren die Menschen auf dem Land viel unmittelbarer und körperlicher als die in den Städten. Dass es so nicht weiter geht, ist den allermeisten hier schon lange klar. Sie ärgern sich über Windräder, die vor ihren Fenstern stehen, aber irgendwelchen Investoren gehören, und über hohe Benzinpreise bei gleichzeitig immer ausgedünnterer Infrastruktur und haben oft generell keine hohe Meinung von der Politik und der Aussicht, dass sie ihr Leben verbessert, und ich wüsste nicht, mit welchem Recht ich ihnen darin widersprechen sollte. Fans von Agrobusiness und Massentierhaltung sind hier die wenigsten, und wenn sie einen SUV fahren, dann zumeist deshalb, weil sie damit in unwegsamem Gelände unterwegs sind, und zwar nicht des Spaßes wegen. Ich will nichts idyllisieren, aber mir scheint, die meisten Menschen, denen ich hier begegne, wären durchaus leichter für eine effektive Klimapolitik zu gewinnen als die “liberal-konservativen” Bewohner*innen städtischer Suburbs und Villenviertel, die ich so kenne. Nur halt nicht durch die Grünen.
So wie es aussieht, stehen die britischen Konservativen bei den nächsten Wahlen fast sicher vor einer Niederlage von epischen Dimensionen. Die Hoffnung, dass der autoritäre Populismus sie rettet, können sie kaum haben, das haben sie bereits ausprobiert. Ist es völlig ausgeschlossen, dass die Tory-Partei, wenn sie sich nach der ihr bevorstehenden Nahtoderfahrung wieder berappelt, neue Orientierung darin findet, sich in gut konservativer Manier hinter ihrem König zu versammeln? Auch wenn das bedeuten würde, mit ihren bisherigen Allianzen radikal zu brechen? Wenn das so käme: wie ironisch wäre das denn, wenn ausgerechnet das Land, das den Liberalismus, die empirische Naturwissenschaft, die Industrialisierung, sprich: die Moderne in wesentlichen Teilen erfunden hat, sich auf diese Weise an die Spitze derer setzt, die die Erde vor ihr retten?
Naja, man wird ja noch ein bisschen hoffen dürfen.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
Vor vier Wochen brach im Sudan – abermals – ein Bürgerkrieg aus. MARK DENG beleuchtet die Hintergründe dieses äußerst komplexen Konflikts und dessen mögliche Auswirkungen auf die Region und die Welt.
Im vergangenen Jahr hat die britische Regierung zwei Gesetzesvorschläge vorgelegt, die das Vereinigte Königreich auf Konfrontationskurs mit dem EGMR bringen. ALICE DONALD & PHILIP LEACH zeigen, wie diese Gesetzesentwürfe die internationalen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs untergraben würden und untersuchen die Bedeutung der Gesetzesvorschläge für die Debatte um den möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EMRK.
Während in Deutschland über Heizungs- und Verbrenner-Verbote gestritten wird, wurden in Brüssel gerade in einer „stillen Transformation“ zentrale energiepolitische Entscheidungen getroffen. MIRIAM VOLLMER gibt einen Überblick über die Novelle der Emissionshandelsrichtlinie 2003/87/EU und ihre tiefgreifenden Folgen.
In Frankreich muss die Regierung zu jedem ihrer Gesetzesentwürfe eine Gesetzesfolgenabschätzung vorlegen – anders als in Deutschland enthält diese auch einen „Klimacheck“. ALEXANDER KRATZ analysiert ein Urteil des conseil constitutionnel, indem dieser eine solche Folgenabschätzung trotz „offensichtlicher Lücken“ – so Kratz – als hinreichend befand.
Wie sollte mit Straftaten im Zuge von Klimaaktivismus umgegangen werden? FYNN WENGLARCZYK & JANA WOLF beleuchten die spezifische Konfliktstruktur klimaaktivistischer Straftaten und erklären, warum Haftstrafen für „Klima-Kleber“ aus ihrer Sicht die falsche Antwort sind.
Die Ampelkoalition hatte angekündigt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu reformieren. Dieses Vorhaben ist nun ins Stocken geraten. Keine Reform sei jedoch auch keine Option, so SIMON PSCHORR & ARNOLD ARPACI, da die aktuelle Rechtslage gegen Europa- und Verfassungsrecht verstoße.
Die CDU/CSU Fraktion des Bundestages hat einen Bundestagsuntersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Skandal beantragt, in dem das Handeln von Olaf Scholz in seiner damaligen Rolle als Erster Bürgermeister Hamburgs untersucht werden soll. JOACHIM WIELAND findet, dass ein solcher Untersuchungsausschuss gegen die bundesstaatliche Ordnung verstoßen würde.
Vergangene Woche stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Junge Alternative als rechtsextremistisch ein. KATHARINA LEUSCH legt dar, was dies für die Jugendorganisation und ihre Mutterpartei, die AfD, bedeutet.
*
Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal! Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!
Ihr
Max Steinbeis
Wenn Sie das wöchentliche Editorial als Email zugesandt bekommen wollen, können Sie es hier bestellen.