Schutzsuchende als Schleuser?
Grenzen des internationalen Rechts hinsichtlich der Kriminalisierung von Flucht
In Frankreich wurden am vergangenen Mittwoch zwei sudanesische Männer verhaftet, nachdem sie einige Tage zuvor ein Bootsunglück im Ärmelkanal knapp überlebt hatten. Für einen im Gegenzug reduzierten Preis sollen sie aktiv an der Überfahrt mitgewirkt haben. Strafbar als Schleuserei? Es ist nicht der erste Fall, in dem sich die Frage nach dem internationalen rechtlichen Rahmen für eine Anklage von Migrant:innen selbst im Zusammenhang mit illegaler Einreise und Schleuserei stellt. In Griechenland werden Migrant:innen inzwischen systematisch und oft in rechtsstaatlich fragwürdigen Verfahren wegen der minimalen Mithilfe bei einer Überfahrt angeklagt und verurteilt, wie Borderline Europe dokumentiert. Die Vorgaben aus dem Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und in gewissem Maße auch dem Pönalisierungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention setzen solchen Praktiken der Kriminalisierung von Flucht aber enge Grenzen.
Das Bootsunglück im Ärmelkanal
Die Überfahrten von Migrant:innen über den Ärmelkanal mit kleinen und oft überbesetzten Booten haben seit 2018 stark zugenommen. In Großbritannien haben Politiker:innen in den letzten Jahren mit verschiedenen Maßnahmen versucht, die Ankünfte zu verringern. Noch im Januar kündigte Rishi Sunak die Parole „stop the boats“ als zentrales politisches Vorhaben an. Neben Politiken der versuchten Abschreckung, wie dem Transfer von Asylsuchenden nach Rwanda, dem der Court of Appeal Ende Juni einen Riegel vorgeschoben hat, setzt Großbritannien auch auf Zusammenarbeit mit Frankreich. Dort soll möglichst verhindert werden, dass Boote überhaupt zur Überfahrt aufbrechen. Diese politische Lage bildet den Hintergrund für die Verhaftungen der vergangenen Woche.
Das Bootsunglück, um das sich die Anschuldigungen drehen, ereignete sich in der Nacht vom 11. auf den 12. August. Ein Schlauchboot war auf dem Weg von Frankreich nach Großbritannien mit rund 65 Passagieren gesunken, mindestens sechs davon starben bei dem Unglück. Die Bootsinsassen waren Migrant:innen, ein Großteil davon Afghan:innen. Die zwei verhafteten Sudanesen, einer davon gerade erst 17 Jahre alt, sollen laut LeMonde für fahrlässige Tötung und sowie für bandenmäßig organisierte Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt werden. Mit ihnen angeklagt werden zwei irakische Staatsangehörige, welche sich nicht auf dem Boot befanden und die Überfahrt organisiert haben sollen.
Die beiden Sudanesen seien gleichzeitig Opfer und Mitverursacher des Dramas, heißt es in LeMonde. Worin die genaue Mitwirkung bestand und inwiefern die beiden Migranten wirklich Mitverursacher des Schiffsunglücks waren, sind bislang ungeklärte Tatsachenfragen. Doch daneben verweist der Fall auf eine generelle rechtliche Frage: Inwieweit dürfen Staaten in ihrem Kampf gegen Schleuserei Migrant:innen selbst anklagen? Wie verhalten sich die Vorgaben des internationalen Rechts, insbesondere Flüchtlinge zu schützen, zu den staatlichen Möglichkeiten, illegale Einreise zu verhindern, und den Vorgaben hinsichtlich der Bekämpfung von organisierter Kriminalität?
Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten
Schleuserei, im Deutschen synonym verwendet mit Schlepperei, wird als die gezielte Ermöglichung von illegaler Einreise aus einem finanziellen Interesse verstanden. Abzugrenzen ist sie also erstens von Fluchthilfe: Akten, bei denen Menschen nicht aus finanziellen, sondern humanitären Motiven bei der Ein- oder Ausreise geholfen wird. Zweitens ist Schleuserei von Menschenhandel abzugrenzen, bei denen Menschen unter Zwang oder sonst gegen ihren Willen an einen anderen Ort verbracht werden. Schleuserei findet meist unter Ausbeutung der Zwangslage von Migrant:innen statt, nicht selten in Verbindung mit physischer Gewalt und mit massiven Gefahren. Im internationalen Recht wird Schleuserei dementsprechend als Aspekt der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität verstanden: Ein Zusatzprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität betrifft die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg.
Dieses Zusatzprotokoll ist eindeutig im Schutzzweck: Es geht um den Schutz von Migrant:innen, nicht um den Schutz von Staaten gegen irreguläre Einreisen. So spricht die Präambel von der „Notwendigkeit, den Migranten eine menschliche Behandlung und den vollen Schutz ihrer Rechte zu gewähren“ und äußert sich besorgt darüber, „dass die Schlepperei von Migranten das Leben oder die Sicherheit der betroffenen Migranten gefährden kann“. Das Protokoll macht Vorgaben, was Staaten unter Strafe stellen sollen, um Schleuserei zu verhindern, und richtet sich daneben auf die zwischenstaatliche Zusammenarbeit bei diesem Ziel. Konkret verpflichtet das Protokoll Staaten, Schleuserei, den Versuch derselben sowie die Teilnahme daran zu sanktionieren (Art. 6 Abs. 1, 2). Außerdem sollen Staaten die Gefährdung des Lebens oder der Sicherheit von Migrant:innen, sowie ihre unmenschliche oder erniedrigende Behandlung unter Strafe stellen (Art. 6 Abs. 3).
Was aber ist mit der Sanktionierung von Migrant:innen selbst? Einerseits stellt das Protokoll strafrechtliche Mindestanforderungen auf, es hindert Staaten also nicht, weitergehende Tatbestände festzulegen, wie es in Art. 6 Abs. 4 ausdrücklich heißt. Andererseits legt das Protokoll in Art. 5 gesondert und vor den anschließenden Sanktionierungsvorgaben fest, dass Migrant:innen nicht nach dem Protokoll strafrechtlich dafür verfolgt werden können, „dass sie Gegenstand der in Artikel 6 genannten Handlungen wurden“. Migrant:innen sind die durch die Regeln gegen Schleuserei Geschützten, nicht die dadurch Adressierten.
Nun kann man argumentieren, dass Art. 5 des Zusatzprotokolls nur die strafrechtliche Verfolgung „nach dem Protokoll“ untersagt, aber nicht eine sonstige strafrechtliche Verfolgung nach nationalen Vorschriften. Der Wortlaut gibt das her; zugleich steht das Zusatzprotokoll in einem klaren Kontext, bei dem strafrechtliche Sanktionierung und Zusammenarbeit mit Schutzanliegen hinsichtlich der Sicherheit von Migrant:innen eng verwoben sind. Die Präambel könnte diesbezüglich nicht deutlicher sein und das Protokoll stellt eine klare Abgrenzung auf: Migrant:innen sind diejenigen, welche erst durch ihre Zwangslage Gegenstand von Schleuserei werden und durch die kriminellen Aktivitäten ausgebeutet und gefährdet werden. Ihrem Schutz sind die Vorschriften verschrieben und sie sollen gerade nicht durch die Hintertür selbst durch diese Vorschriften sanktioniert werden. Diese Lesart vertreten auch der UNHCR (z.B. hier und ausführlich hier) und Wissenschaftler.
Das Pönalisierungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention
Die klare Abgrenzung, dass Migrant:innen nicht durch Vorschriften gegen Schleuserei selbst kriminalisiert werden dürfen, wird daneben auch durch den Gedanken des Pönalisierungsverbots im internationalen Flüchtlingsrecht gestützt. Das Pönalisierungsverbot ist in Artikel 31 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention niedergelegt und untersagt Staaten, „wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts […] Strafen gegen Flüchtlinge [zu] verhängen“. Schon bei der Erstellung des Konventionstextes war deutlich, dass Flüchtlinge selten überhaupt die Möglichkeit zur legalen Einreise haben. Insofern ist das Pönalisierungsverbot eine notwendige Folge der Entscheidung, dass Flüchtlinge ein Recht haben, Schutz zu suchen.
Das Pönalisierungsverbot wirkt dabei auch für Personen, für die noch nicht geklärt ist, ob es sich um Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention handelt, da eine Anerkennung als Flüchtling deklaratorisch ist und immer erst nach Abschluss eines Verfahrens feststeht. Auch für diejenigen, deren Antrag letztlich abgelehnt wird, die diesen aber in gutem Glauben und nicht evident rechtsmissbräuchlich gestellt hatten, wirkt das Pönalisierungsverbot (in diesem Sinne auch schon Fischer-Lescano/Horst 2011).
Voraussetzung nach dem Wortlaut ist, dass es sich um Personen handelt, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem sie in Gefahr sind. Das muss nicht zwingend der Herkunftsstaat sein, denn Migrant:innen können auch in einem Transitstaat wiederum einer Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention ausgesetzt sein. Für Schutzsuchende, die durch Libyen kommen, ist das beispielsweise regelmäßig anzunehmen. Daneben schließt auch nicht jede Durchreise durch einen anderen Staat die „Unmittelbarkeit“ aus (so das Bundesverfassungsgericht 2014 in 2 BvR 450/11), sondern lediglich der Fall, dass ein Flüchtling sich bereits in einem anderen Staat niedergelassen hatte. Jedenfalls ist das Pönalisierungsverbot also für jeden Einzelfall zu prüfen, eine Kriminalisierung von Asylsuchenden ohne genaue Prüfung ihrer individuellen Umstände schließt es aus.
Das umfasst auch diejenigen Schutzsuchenden, die selbst in irgendeiner Weise bei der Überfahrt mitgewirkt haben. Bei den in der Studie von Julia Winkler und Lotta Mayr für Borderline Europe dokumentierten Fällen ging es um kleine Mitwirkungshandlungen wie das Steuern eines Boots oder eines Autos. Unabhängig von der Frage, ob solche Handlungen überhaupt tatbestandsmäßig unter Beihilfe zur illegalen Einreise fallen können, schließen sie die Geltung des Pönalisierungsverbots jedenfalls nicht aus. Vorrangig sind diese Personen selbst Schutzsuchende, selbst wenn sie sich aktiv an der Ermöglichung der irregulären Einreise beteiligen. Soweit das Pönalisierungsverbot gilt, darf eine Handlung, die wesentlich der eigenen Flucht dient, nicht zugleich Anlass zur Strafverfolgung sein.
Die Bekämpfung der Schleuserei – zurück in rechtsstaatliche Bahnen und weg von falschen Zielsetzungen
Insgesamt widersprechen also Maßnahmen, die mit dem angeblichen Ziel, Schleuserei zu bekämpfen, Schutzsuchende selbst zum Ziel von Strafverfolgung machen, den Grundentscheidungen des internationalen Rechts. Sofern es wirklich um die Eindämmung organisierter Kriminalität geht, sind diese Maßnahmen daneben auch politisch fehlgeleitet.
90% der irregulär in Europa Ankommenden wurden laut Europol bei ihrer Einreise durch Schleuser unterstützt. So legt es auch die EU-Kommission in dem neuen Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten (2021-2025) zugrunde. Aber weder höhere Strafdrohungen noch verstärkte internationale Zusammenarbeit in der Verfolgung werden dem Phänomen ein Ende setzen. Das Geschäft bleibt profitabel, solange die irreguläre Einreise für die meisten die einzige Möglichkeit ist, in Europa Asyl zu beantragen, und solange Staaten es immer weiter erschweren, auch nur die Außengrenzen Europas zu erreichen.
Die Menge an Schiffsunglücken auf den Routen nach Europa ist immens. Allein im Mittelmeer verloren in diesem Jahr über 2000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, ihr Leben. Es greift zu kurz nach jedem Unglück nur reflexhaft die skrupellosen Praktiken von Schleuser:innen zu beklagen. So dramatisch die Ausbeutung und Gefährdung von Migrant:innen durch organisierte Schleuser:innen ist, so sehr gehört das Fehlen anderer, sicherer Fluchtmöglichkeiten zu den Ursachen der vielen Todesfälle an Europas Außengrenzen.
Danke für den Beitrag über ein viel zu wenig beachtetes Thema. Es ist für mich unvorstellbar, wie Menschen solche Kriminalisierungen durchstehen. Geschweige denn der Familien und andere nahestehenden Personen, die oft weit weg sind, die hohen Sprachbarrieren begegnen und so keinen Zugang zu ihren angeklagten Verwandten aufnehmen können. Wenn sie überhaupt in Kenntnis über deren Situation sind. Dazu kommen die gravierenden Verfahrensrechtsverletzungen in den angesprochenen “Schlepper-“Fällen: geringe Beweislage, unzureichende bis falsche Übersetzungen, regelmäßige Vertretung durch schlecht vorbereitete Pflichtverteidiger*innen, sehr lange Untersuchungshaft etc… (vgl. jüngsten Monitorbericht: https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/schleuser-kriminalitaet-die-falschen-vor-gericht-102.html und die hier als auch im Monitorbericht erwähnte Studie von borderline-europe: https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/readingtips/criminalisation_of_migrants-study_by_borderline_europe_de.pdf).