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07 September 2023

Die Demokratie kann sich nicht selbst aus dem Weg gehen

Die Demokratie kann sich nicht selbst aus dem Weg gehen: Sie muss sich selbst organisieren. Die Rechte, Institutionen und Verfahren, die demokratische Selbstbestimmung ermöglichen, sind nicht natürlich vorfindbar. Jemand muss sie als freiheitlich-gleichheitsgerechte Rechtsform der kollektiven Willensbildung und des kollektiven Handelns machen. Also stellt sich die Frage: wer macht sie?

Unter dem Grundgesetz gilt für die Organisation der demokratischen Willensbildung – für das, was allgemein als Staatsorganisation bezeichnet wird, sich mit anderem Akzent aber als Recht der Demokratie verstehen lässt – eine normativ durchaus anspruchsvolle Arbeitsteilung.

Offenheit der Organisationsverfassung und Selbstorganisation der Politik

Die Verfassung, in Akteursperspektive also der Verfassunggeber, setzt Grundstrukturen und Grundregeln für den politischen Prozess. Das bringt auch das Bundesverfassungsgericht ins Spiel. Die Verfassung erhebt aber keinen totalen Regelungsanspruch, soll die politische Willensbildung nicht in allen Aspekten selbst formalisieren und organisieren. Vielmehr überlässt sie viele Aspekte davon dem Gesetzgeber, dem Geschäftsordnungsrecht der Verfassungsorgane oder einfach der Parlaments- und Staatspraxis – mit anderen Worten, letztlich einer eigenen Organisationsleistung der Politik. Das gilt etwa für den konkreten Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens und die innere Arbeit von Parlament und Regierung in Ausschüssen und Fraktionen bzw. Kabinett. Es betrifft aber nicht zuletzt auch das Wahlrecht und damit eine entscheidende rechtliche Grundlage der repräsentativen Demokratie. Ohne Wahlgesetz keine demokratische Wahl: Die Wahlgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG allein ermöglichen kein demokratisches Wählen der Bürgerinnen und Bürger. Das Wahlrecht zu gestalten, ist nach dem Grundgesetz ausdrücklich eine Aufgabe des gewählten Gesetzgebers (Art. 38 Abs. 3 GG).

Mit der Arbeitsteilung zwischen Verfassung und Politik, die in vielen Aspekten der Staatsorganisation besteht, ist die Frage verbunden, inwieweit und mit welchen Schranken die Selbstorganisation des politischen Prozesses legitim ist. Die verfassungsrechtliche Dogmatik hierzu ist durchaus komplex und differenziert. Wichtige Aspekte dessen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsrecht entwickelt, insbesondere anhand der Rechte von fraktionslosen Abgeordneten (BVerfGE 80, 188, Wüppesahl, 1989), anhand der Besetzung von parlamentarischen Ausschüssen sowie von Arbeitsgruppen im Vermittlungsverfahren (Schlagwort: Spiegelbildlichkeitsgrundsatz und seine Grenzen, etwa BVerfGE 131, 230, Richterwahlausschuss, 2012; 140, 115, Arbeitsgruppen im Vermittlungsverfahren, 2015) und anhand der Delegation parlamentarischer Entscheidungen (BVerfGE 130, 318, Neunergremium, 2012). Die verfassungsrechtliche Prägung des Wahlrechts hat das Gericht demgegenüber in einer eigenständigen Rechtsprechungslinie entwickelt.

Die Organisationsverfassung als Rahmen?

Trotz vieler Differenzierungen lässt die Rechtsprechung aber durchaus so etwas wie eine allgemeine Idee des Verhältnisses von Verfassung und Selbstorganisation des politischen Prozesses erkennen. Diese Idee tritt verdichtet und exemplarisch etwa in einem Diktum des Bundesverfassungsgerichts zutage, das konkret die eher obskure Frage betrifft, ob die finanzverfassungsrechtlichen Regeln der steuerlichen Ertragshoheit für außerordentliche staatliche Einnahmen gelten (BVerfGE 105, 185, UMTS-Erlöse, 2002). Das Gericht formuliert hier, wie es sich die Arbeitsteilung zwischen Verfassung und Politik grundsätzlich vorstellt:

Die Finanzverfassung des Grundgesetzes bildet eine in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung. Sie ist auf Formenklarheit und auf Formenbindung angelegt. Diese Prinzipien erschöpfen sich nicht in einer lediglich formalen Bedeutung. Sie sind selbst Teil der funktionsgerechten Ordnung eines politisch sensiblen Sachbereichs und verwirklichen damit ein Stück Gemeinwohlgerechtigkeit. Zugleich fördern und entlasten sie den politischen Prozess, indem sie ihm einen festen Rahmen vorgeben. Innerhalb dieses verfassungsrechtlichen Rahmens ist der politische Prozess frei und vermag sich nach seinen eigenen Regeln und Bedingungen zu entfalten. Der Rahmen selbst indes stellt eine Grenze dar, die der einfache Gesetzgeber nicht überschreiten darf.

Dass die Verfassung in diesem Sinne als „Rahmen“ des Politischen diene, ist mit der binären Unterscheidung eines Innerhalb und eines Außerhalb der Verfassung, die Bindung und Freiheit, Legalität (Verfassungsmäßigkeit) und Illegalität (Verfassungswidrigkeit) strikt und eindeutig abgrenzen soll, als Bild stark. Um zu verstehen, welche Bedeutung(en) die Selbstorganisation der Akteure des politischen Prozesses für die Verfassung entfalten kann, ist es aber (wie ich anderswo darlege) nicht sehr hilfreich. Auch für konkrete Streitfälle lässt sich daraus kaum etwas gewinnen: Ist nun die Wahlrechtsreform, etwa im Aspekt des neuen Grundsatzes der Zweitstimmendeckung oder der Abschaffung der Grundmandatsklausel, verfassungskonform als Ausdruck der demokratischen Selbstorganisation und legitimen Entfaltung des politischen Prozesses? Oder überschreitet der Wahlrechtsgesetzgeber hier „den Rahmen“ der Wahlrechtsgrundsätze „als Grenze“?

Grundsatzkritik: Entscheidung des Parlaments in eigener Sache

Kann an dieser Stelle die Formel von der „Entscheidung des Parlaments in eigener Sache“ (von Arnim) irgendwie weiterhelfen? Mit ihr wird der Selbstgestaltung der Demokratie im Aspekt des Wahlrechts (und in weiteren Aspekten) ein grundsätzliches Misstrauen entgegengebracht. Das richtet sich wesentlich gegen die Parteien. Dieses Misstrauen knüpft daran an, dass die Parteien im Wahlrecht, sowie ähnlich gelagert etwa im Bereich der Parteienfinanzierung, nach ihrem Eigeninteresse im politischen Wettbewerb agieren können. Dem wird als Ideal ein „unbeeinflusstes, gerechtes, unbefangenes“ Entscheiden nach einer „von keinen eigenen Interessen getrübten Objektivität“ gegenübergestellt.

Das erscheint indes nicht nur merkwürdig unpolitisch und a-demokratisch, sondern auch unpraktikabel: Es ist allenfalls im Sinne eines rekonstruktiven Gedankenexperiments zu einer gegebenen Verfassung nach Rawls denkbar („veil of ignorance“). Es verfehlt aber klar und weit das Faktum, dass auch die demokratische Staatsorganisation von der Offenheit der Verfassung und legitimerweise von Parteilichkeit und Uneinigkeit über die gute und richtige Organisation des Demokratischen geprägt ist.

Sowieso aber fehlt der Formel von der „Entscheidung des Parlaments in eigener Sache“ für das Wahlrecht – und auch darüber hinaus – ein normativer Eigenwert, auch wenn das Bundesverfassungsgericht sie aufgegriffen hat (BVerfGE 120, 82, Fünf-Prozent-Sperrklausel Schleswig-Holstein, 2008). Die Formel hat insbesondere gegenüber den Wahlrechtsgrundsätzen und den Rechten der Parteien keine rechtliche Eigenbedeutung. So übt das Bundesverfassungsgericht eine strikte Kontrolle des Gesetzgebers im Wahlrecht unabhängig von der „Eigeninteresse“-Perspektive aus, nämlich am Maßstab der „strengen und formalen“ Wahlgleichheit (etwa BVerfGE 95, 335, Überhangmandate II, 1997). Freilich ist diese strikte Kontrolle integriert in das vom Gericht anerkannte Gestaltungsvorrecht des Gesetzgebers im Wahlrecht.

Legitimer Konflikt über die demokratischen Grundstrukturen

Dass die Demokratie sich nicht selbst vermeiden kann, schließt ein, dass die Entwicklung ihrer rechtlichen Grundstrukturen politisch konflikthaft ist. Die Parteien haben legitimerweise unterschiedliche Vorstellungen auch von einem guten und richtigen Wahlrecht. Dass sie daneben auch um wettbewerbliche Vor- und Nachteile ringen, ist kein Grund dafür, die gesetzliche Ausgestaltung des Wahlrechts grundsätzlich zu diskreditieren und auf eine möglichst engmaschige Anleitung durch das Bundesverfassungsgericht zu hoffen – oder gleich darauf, das Wahlsystem im Grundgesetz selbst konkret auszugestalten.

Das Bundesverfassungsgericht selbst urteilt in ständiger Rechtsprechung, dass die Aufgabe des Gesetzgebers, das Wahlrecht zu regeln und auszugestalten, sich nicht in der Regelung technischer Einzelheiten erschöpft. Diese Aufgabe erfordere schon im Hinblick auf die Auswahl des Wahlsystems und dessen Durchführung im Einzelnen vielfältige Entscheidungen von großer Tragweite. Mit der Anerkennung von Gestaltungsentscheidungen wie derjenigen für oder gegen eine Sperrklausel sowie deren Höhe und ggfs. ihre Durchbrechung, für die Verhältniswahl mit starren oder offenen Listen, für die Zahl der Direktwahlkreise und deren Zuschnitt usw. erkennt das Gericht zugleich an, dass dies legitimerweise politische Fragen sind.

Änderungsoffenheit des Wahlrechts: Kein politischer Besitzstandsschutz

Dem steht nicht entgegen, dass Abänderungen geltender wahlrechtlicher Regelungen für die gewählten Abgeordneten und die Parteien die Wettbewerbschancen erheblich verändern können. Es gibt keinen Schutz eines politischen „Besitzstands“ im Wahlrecht: Der Gesetzgeber darf mit Wahlrechtsreformen auch angestammte Wettbewerbspositionen von Abgeordneten und Parteien verkürzen. Die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien müssen allein innerhalb des festgelegten Wahlsystems gewährleistet sein. Deswegen kann auch der Vergleich zur vorherigen Rechtslage nicht der Maßstab der Gleichheit sein, an dem der Gesetzgebet zu messen ist. Das ist schlicht und einfach Teil und Ausdruck der Änderbarkeit demokratischen Rechts.

Für eine in diesem Sinne nicht zu knapp zu bemessende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Wahlrecht gibt es gute Gründe. Demokratische Selbstbestimmung, auch über die Regeln der demokratischen Willensbildung selbst, kann nicht statisch sein. Das gilt auch für das Wahlrecht als Kernaspekt hiervon: Es auf irgendeinem historischen Stand einzufrieren, es verfassungsrechtlich festzustellen, ist nicht die demokratischere Lösung. Zu abhängig ist ein funktionstüchtiges Wahlrecht von kontingenten und veränderlichen Grundlagen jenseits von Verfassung und Recht: vom Selbstverständnis der Gesellschaft, für die das Wahlrecht als demokratisches Wahlrecht annehmbar sein muss, und von der Parteienlandschaft und vom Wahlverhalten: So hat erst das Schrumpfen der „Volksparteien“ durch die Zunahme der grundsätzlich ausgleichspflichtigen Überhangmandate dazu geführt, dass die Zahl der Abgeordneten im Bundestag weit über die gesetzliche Regelgröße hinausgewachsen ist. Auf diese praxisgenerierte Dysfunktionalität des gesetzlichen Wahlrechts hat die Reform der Ampel-Koalition dieses Jahr dann mit der Abschaffung der Überhangmandate reagiert.

Hingegen würde eine weit ausgreifende Konstitutionalisierung, die zukünftig ein „Entscheiden des Parlaments in eigener Sache“ bei der Ausgestaltung des Wahlrechts ausschließen und damit die Anwendung des demokratischen Prozesses auf sich selbst beschneiden sollte, schon als Idee eine Vielzahl Probleme aufwerfen: Wie weit, wie konkret wäre das Wahlrecht in der Verfassung auszugestalten, und in welcher Form? Was wäre hier das Gute und Richtige? Vor allem aber: Wie ginge man bei einem konstitutionell konkret determinierten Wahlsystem mit nicht auszuschließenden, aber auch nicht absehbaren zukünftigen demokratischen Dysfunktionalitäten um?

Verfassungsrechtliche Bindungen und Grenzen der Selbstorganisation der Politik

Mir scheint unter dem Grundgesetz die politische Ausgestaltung des Wahlrechts einstweilen nicht wirklich ein drängendes demokratisches Problem zu sein. Dies nicht zuletzt aus dem Grund, dass sie, vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich plausibel operationalisiert, recht effektiv an die die Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl gebunden ist. Bei einem derart eingehegten Gesetzgeber des Wahlrechts sehe ich nicht, dass die Darstellung der Gestaltungsaufgabe des Wahlgesetzgebers als „Entscheidung des Parlaments in eigener Sache“ einen verschärften verfassungsrechtlichen/-gerichtlichen Zugriff rechtfertigt.

Insgesamt lässt sich vor diesem Hintergrund auch allgemeiner ein Grundsatz dazu formulieren, mit und in welchen Schranken die Selbstorganisation des politischen Prozesses legitim ist. Dass die Verfassung nicht abschließend bestimmt, wie die demokratische Willensbildung funktioniert, heißt nicht, dass sie gar keinen Geltungsanspruch für die Selbstorganisation des politischen Prozesses erhebt. Nur ist das Ziel dabei aus demokratischer Sicht gewiss nicht ein „unbeeinflusstes, gerechtes, unbefangenes“ Entscheiden nach einer „von keinen eigenen Interessen getrübten Objektivität“. Das ist aus demokratischer Sicht kein Ideal.

Die demokratische Bedeutung einer dynamischen Selbstorganisation des politischen Prozesses kommt in der Geschäftsordnungsautonomie der Verfassungsorgane und nicht zuletzt eben in der Gestaltungsaufgabe des Wahlrechtsgesetzgebers zum Ausdruck. Das steht aber nicht in einem prinzipiellen Konflikt dazu, dass für die Selbstorganisation verfassungsrechtliche Grundsätze der demokratischen Legitimation gelten und als Maßstab in Anschlag gebracht werden.

Den Kern dessen bildet unter dem Grundgesetz die wesentlich auf proportionaler Repräsentativität beruhende freiheitliche und gleichheitsbezogene Offenheit und pluralistische Kapazität des politischen Prozesses, der nicht durch seine organisatorische Verfasstheit und seine strukturelle Prägung von vornherein inhaltlich verengt und vorgeprägt werden darf. Die Geltung und Durchsetzung solcher Grundsätze ist erforderlich – scheint mir aber grundsätzlich auch hinreichend, um robust sichern zu können, dass der politische Prozess sich selbst demokratisch organisiert.


SUGGESTED CITATION  von Achenbach, Jelena: Die Demokratie kann sich nicht selbst aus dem Weg gehen, VerfBlog, 2023/9/07, https://verfassungsblog.de/die-demokratie-kann-sich-nicht-selbst-aus-dem-weg-gehen/, DOI: 10.17176/20230907-182928-0.

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