09 January 2024

Wahlrechtsprüfung in der zweiten Halbzeit

Knapp 27 Monate nach der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag und rund 21 Monate vor der nächsten Wahl hat das Bundesverfassungsgericht abschließend über Fehler bei der Durchführung der Wahl im Land Berlin entschieden. In einigen Monaten muss deshalb in – die Wahl wiederholt werden, wobei schon jetzt feststeht, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag dadurch nicht ändern werden. Das Urteil vertieft und präzisiert überwiegend alte Rechtsprechung. Einen dringenden Reformbedarf beim Wahlprüfungsverfahren lässt dagegen der Kontext der zeitliche Entscheidung erkennen.

Eine Wahl in der Bundeshauptstadt mit zahlreichen Pannen

Dass im Land Berlin die öffentliche Verwaltung nicht immer reibungslos funktioniert, ist keine Neuigkeit. Die große Zahl der Fehler bei der Vorbereitung und Durchführung der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 stellten aber gleichwohl einen neuen Höhepunkt dar, der auch erfahrene Beobachter sprach- und fassungslos werden ließ. In den Wahllokalen gab es zu wenige oder die falschen Stimmzettel, es kam wegen einer zu geringen Dimensionierung der Wahllokale zu langen Wartezeiten, die am Ende des Wahltags teilweise dazu führten, dass die Wahlhandlungen mehr als 30 Minuten nach Ende der Wahlzeit durchgeführt wurden. Auch bei der Auszählung der Stimmen kam es zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten. Unter anderem hat Christian Waldhoff darüber aus der Perspektive eines Wahlhelfers berichtet.

In Bezug auf die gleichzeitig durchgeführten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen hatte das Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin bereits durch Urteil vom 16. November 2022, also knapp 14 Monate später, schwere Wahlfehler mit Mandatsrelevanz festgestellt und beide Wahlen insgesamt für ungültig erklärt (VerfGH 154/21). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens nicht beanstandet und dabei trotz der auch in der aktuellen Entscheidung zutage tretenden unterschiedlichen Sichtweise zu Einzelfragen die Eigenständigkeit des Landesverfassungsrechtsraums betont (BVerfG Beschl. v. 25.1.2023 – 2 BvR 2189/22, besprochen u.a. hier). Die daraufhin am 12. Februar 2023 durchgeführten Neuwahlen führten zu einem deutlichen Wahlsieg der CDU und der Ablösung der bisherigen Koalition aus SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und Linken durch eine Koalition aus CDU und SPD.

Dass die vergleichbaren Fehler bei der Bundestagswahl nicht zu einer so weitreichenden Wirkung führen und sich auch die Mehrheitsverhältnisse nicht grundlegend ändern würden, konnte man schon an der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages vom 7. November 2022 ableiten (BT-Drs. 20/4000), der das Plenum in seinem Beschluss vom 10. November 2022 mit 374 zu 252 zu 31 Stimmen folgte.

Mit seinem Urteil vom 19. Dezember 2023 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Wahlprüfungsbeschluss des Bundestages nun in mehreren Punkten korrigiert und im Ergebnis in weiteren 52 Wahlbezirken für ungültig erklärt, zugleich aber auch die Ungültigerklärung in 10 Wahlbezirken des Wahlkreises 75 durch den Bundestag aufgehoben. Insgesamt müssen 455 von 2.256 Berliner Wahlbezirke die Bundestagswahl wiederholen. Damit wird in der zweiten Halbzeit der Ampel-Koalition ein Teil der politischen Legitimation des Bundestages entzogen und eine Wiederholungswahl notwendig.

Die Kernaussagen der Entscheidung

Die auch in den amtlichen Leitsätzen wiedergegebenen Kernaussagen der Entscheidung enthalten mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlprüfung überwiegend keine grundlegenden Neuerungen, sondern sind eher als klarstellende Vertiefungen und Präzisierungen sowie fallbezogene Konkretisierungen zu qualifizieren. Lediglich zur Frage einer Wahlwiederholung in Gestalt einer reinen Zweitstimmenwahl, wie sie die Beschwerdeführer verlangten, hat sich das Gericht bislang noch nicht geäußert.

Juristisch auf den ersten Blick eher trocken, rechtspolitisch aber aufschlussreich sind die Ausführungen zur Sachverhaltsermittlung durch das Bundesverfassungsgericht (Leitsatz 1 und Rz. 112 ff.) Da Art. 41 GG das Wahlprüfungsverfahren zweistufig ausgestaltet, knüpft das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen durch den Bundestag und seinen Wahlprüfungsausschuss an. Ähnlich wie im Fall von Urteilsverfassungsbeschwerden kann das Bundesverfassungsgericht auf Grund seiner Amtsermittlungskompetenz nach § 26 Abs. 1 BVerfGG aber den Sachverhalt eigenständig aufklären, wenn es Anhaltspunkte für eine unzureichende Sachaufklärung durch den Bundestag gibt. Dies war vorliegend in nicht unerheblichem Umfang der Fall. Der knappe Hinweis, dass der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin insoweit ebenfalls gründlicher vorgegangen war, lässt den Schluss zu, dass die Qualität der Arbeit an den Verfassungsgerichten sich offenbar deutlich von der parlamentarischen Ebene abhebt. Rechtspolitisch führt das zu der Frage, warum die „höhere Qualität“ nicht sofort in der ersten Verfahrensstufe zum Einsatz kommt, wie dies im Berliner Wahlprüfungsrecht durch die unmittelbare Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs vorgesehen ist.

Breiten Raum nimmt in der Entscheidung die Klärung des rechtlichen Rahmens für die Beurteilung von Verzögerungen bei der Stimmabgabe als Wahlfehler ein. Das Bundesverfassungsgericht arbeitet sehr genau heraus, dass die Wahlvorbereitung einschließlich der Bereitstellung der richtigen Stimmzettel in ausreichender Zahl sowie einer ausreichenden Zahl von Wahlkabinen zur Stimmabgabe im Verhältnis zu den zu erwartenden Wählerzahlen zu den Pflichten der für die Wahlvorbereitung zuständigen Stellen gehört, die aus den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleiten sind. Eine Wartezeit vor Abgabe der Stimme stellt dabei als solche keinen Wahlfehler dar. Eine „ungewöhnlich lange Wartezeit“ kann aber ein Indiz für Mängel bei der Wahlvorbereitung sein, dem jedoch keine Mandatsrelevanz zukommt (Rz. 163). Auch eine Stimmabgabe nach Ende der Wahlzeit stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts noch keinen Wahlfehler dar, kann aber bei einer deutlichen Zeitüberschreitung ein Indiz für einen sonstigen Wahlfehler sein. Da das Wahllokal auch nach Ende der Wahlzeit frei zugänglich sein muss, um die öffentliche Kontrolle zu gewährleisten, scheidet eine Schließung des Wahllokals zur Abweisung von verspätet eintreffenden Wahlberechtigten als Kontrollinstrument aus. Wenn der Wahlvorstand verspätet am Wahllokal eingetroffene Personen nicht mehr zur Stimmabgabe zulassen will, wozu er verpflichtet ist, muss der „Zutritt zur Stimmabgabe“ auf Art und Weise i.S.d. § 60 S. 3 BWahlO gesperrt werden, z.B. mit einem die Personengruppen abgrenzenden Band.

Ebenfalls sehr ausführlich widmet sich das Urteil den Voraussetzungen der Ermittlung der Mandatsrelevanz eines Wahlfehlers (Rz. 235 ff.). Dafür gab es deshalb Anlass, weil der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin diesbezüglich einen von der bisherigen Rechtsprechung Bundesverfassungsgerichts abweichenden Maßstab zugrunde gelegt hatte, dem sich die Beschwerdeführer angeschlossen hatten (Rz. 236). Nach dieser Ansicht sind die Anforderungen an die Feststellung einer möglichen Beeinflussung der Sitzverteilung desto geringer, je schwerwiegender die Wahlfehler das Demokratieprinzip beeinträchtigen (VerfGH Berlin, Urteil vom 16. November 2022 – VerfGH 154/21 –, S. 63). Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts steht dem steht bereits entgegen, dass eine solche Anforderungsabsenkung bei besonders schwerwiegenden Wahlfehlern letztlich zu einem Heranziehen von bloßen Vermutungen und damit zu einer weitgehenden Aufweichung des Grundsatzes der potentiellen Kausalität führen würde. Nach einer Rekapitulation seiner bisherigen Rechtsprechung fasst der Zweite Senat seinen Standpunkt in der auch im dritten Leitsatz aufgenommenen Formel zusammen: „Unabhängig von der Schwere des Wahlfehlers ist Mandatsrelevanz nur gegeben, wenn sich eine Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung als eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit darstellt. Hierbei ist das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung des Wahlergebnisses, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen.“ Im Anschluss an die Habilitationsschrift von Martin Kriele zur Theorie der Rechtsgewinnung aus dem Jahr 1967 kann hier von einer topischen Vorgehensweise gesprochen werden, bei der im Anschluss an die aristotelische Tradition die Norminterpretation mit der Betrachtung der korrespondierenden Wirklichkeit in einem Prozess der Wechselwirkung verbunden wird („Hin-und-Herwandern des Blickes“). Diese Sichtweise ist auch deshalb vorzugswürdig, weil sie der entscheidenden Bedeutung der Beeinträchtigung des Repräsentationsergebnisses als zentralem Kriterium der Legitimation des Parlaments durch den Wahlakt besser Rechnung trägt, wie das Bundesverfassungsgericht in seinen weiteren Ausführungen ebenfalls deutlich herausarbeitet.

Erstmalig thematisiert das Urteil schließlich die Frage, ob eine Wahlwiederholung auch als reine Zweitstimmenwahl durchgeführt werden kann, wenn sich der Wahlfehler nur auf die Zweitstimme bezieht (Rz. 282 ff.). Die Beschwerdeführerin hatte dies unter Verweis auf § 4 BWahG a.F. gefordert, der zwischen Erst- und Zweitstimme unterscheide. Das Bundesverfassungsgericht folgt dem nicht, weil es die „besseren Argumente“ auf der Seite des Bundestages sieht, der darauf abgestellt hatte, dass die Wahlwiederholung nach den gleichen Grundsätzen durchgeführt werden soll wie die ursprüngliche Wahl, die fehlerhaft war.

Gründe für eine zeitnahe Reform des Wahlprüfungsrechts

Das übergeordnete und durchaus grundlegende Problem der Gesamtthematik taucht in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf: die späte Feststellung der Wahlfehler in der „zweiten Halbzeit“ der Legislaturperiode mit der Folge einer noch späteren Wiederholungswahl.

Eine solche Wahl findet unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen statt und ist auch dadurch vorbelastet, dass eine Änderung der politischen Mehrheiten im Bundestag nicht zu erwarten ist. Vor allem aber hat die Parallelität der Abläufe der Wahlprüfungsverfahren auf Landes- und Bundesebene gezeigt, dass eine Entscheidung in der Hälfte der Zeit möglich wäre, wenn auf die Zweistufigkeit des Verfahrens verzichtet würde und direkt das Bundesverfassungsgericht angerufen werden könnte.

Die Dringlichkeit einer schon lange überfälligen entsprechenden Reform (siehe dazu bereits Kluth) wird noch deutlicher wenn man an den Fall knapper Mehrheiten denkt, in dem auch Änderungen bei wenigen Mandaten zu neuen politischen Mehrheiten im Parlament führen können.

Da das Vertrauen in die Demokratie ohnehin in den letzten Jahren schwächer geworden ist und Wahlfehler weltweit gerne als Anknüpfungspunkt für Verschwörungstheorien genutzt werden, sollte der Bundesgesetzgeber sich der Thematik einer Reform des Wahlprüfungsrechts hin zu einem einstufigen Verfahren noch in dieser Legislaturperiode annehmen. Das Bundesverfassungsgericht wäre dann in der Lage, zeitnah nach Ablauf der Einspruchsfrist entsprechende Arbeitskapazitäten zu reservieren, wie es auch in den Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG in Bezug auf die nicht zur Bundestagswahl zugelassenen Parteien erfolgreich praktiziert wird, und deutlich schneller zu entscheiden.


SUGGESTED CITATION  Kluth, Winfried: Wahlrechtsprüfung in der zweiten Halbzeit, VerfBlog, 2024/1/09, https://verfassungsblog.de/wahlrechtsprufung-in-der-zweiten-halbzeit/, DOI: 10.59704/2e859498bc86f437.

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