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26 October 2022

Für ein Update der Wahlprüfung in die Gegenwart

Kein anderes Element des demokratischen Verfassungsstaats ist in Deutschland stärker aus der Zeit gefallen als die Wahlprüfung. Sie ist in ihrer Grundstruktur noch in den Denkweisen und Bedürfnissen der konstitutionellen Monarchie verfangen und schützt einseitig die Interessen der etablierten und bei der zu überprüfen Wahl erfolgreichen Parteien. Das lässt sich an einer kritischen Hinterfragung von Zuständigkeit, Verfahren und Prüfungsmaßstäben aufzeigen.

Unzeitgemäße Zuständigkeit

Die Regelung in Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG knüpft an die alte parlamentsrechtliche Tradition aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie an, nach der das Parlament selbst und nicht die der Krone verantwortliche Verwaltung oder Gerichtsbarkeit die Wahl überprüft. Die damit verbundene Entscheidung bzw. Kontrolle in eigener Sache diente der Sicherung der Parlamentsautonomie in einer Zeit, die durch ein anderes Modell der Gewaltenteilung geprägt war und in der es gute Gründe dafür gab, die evidenten Nachteile einer Eigenkontrolle in Kauf zu nehmen.

Obwohl sich die Weimarer Reichsverfassung von diesem Modell in Art. 31 WRV bereits abgewendet hatte, indem ein paritätisch aus drei Abgeordneten und drei Richtern besetztes Wahlprüfungsgericht etabliert wurde, kehrte das Grundgesetz zum alten Modell zurück. Im Parlamentarischen Rat wurde zwar über alternative Ausgestaltungen nachgedacht und debattiert, doch blieb es am Ende bei der klassischen Lösung, die in der Praxis nur selten zur Feststellung von Wahlfehlern bzw. der (teilweisen) Ungültigkeit einer Wahl führt. Auf Länderebene hat sich nur das Land Berlin für eine einstufige Lösung entschieden, bei der direkt der Verfassungsgerichtshof zuständig ist und – wie das aktuelle Verfahren zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigt – zeitnah abschließend entscheiden kann.

Die „zweitinstanzliche“ Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist dabei im Ergebnis ein Fortschritt gegenüber der ursprünglichen ausschließlichen Zuständigkeit des Parlaments bzw. seines Wahlprüfungsausschusses. Die Beibehaltung der primären Zuständigkeit des Parlaments wird u.a. damit gerechtfertigt, dass es einer Filterfunktion bedarf, um weniger gewichtige Verstöße auszusortieren und eine Überlastung des Bundesverfassungsgerichts zu verhindern. Auch das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erstbefassung durch das Parlament einen hohen Preis hat, der neben der Entscheidung in eigener Sache in einer unzeitgemäßen Verfahrensgestaltung zum Ausdruck kommt.

Unzeitgemäßes Verfahren

Durch die Erstbefassungszuständigkeit des neu gewählten Parlaments entsteht eine erhebliche zeitliche Verzögerung bereits des Beginns der Wahlprüfungsverfahren, da zunächst die Neukonstituierung des neu gewählten Bundestages, die Bildung einer Bundesregierung und – nach der parlamentarischen Praxis erst daran anschließend – die Einsetzung der Ausschüsse erfolgt. Zudem besteht nicht die Möglichkeit von Eilentscheidungen in Bezug auf Wahlverfahrensfehler im Zeitraum vor der Wahl, da es in dieser Zeit ebenfalls noch kein zuständiges Organ gibt und im herkömmlichen Wahlprüfungsverfahren Eilentscheidungen nicht vorgesehen sind.

In Bezug auf den zweiten Aspekt hat der verfassungsändernde Gesetzgeber thematisch beschränkt im Jahr 2012 durch die Einfügung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG die Möglichkeit eröffnet, die Nichtanerkennung einer Partei bei der Wahl zum Bundestag durch den Bundeswahlleiter mit der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht anzugreifen. Seitdem befasst sich das Bundesverfassungsgericht zeitnah und rechtzeitig vor den Wahlen mit den Beschwerden, die zuvor auf die nachträgliche Wahlprüfung verwiesen waren. Die bisherige überschaubare Fallpraxis zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht damit gut umgeht und in den umstrittenen Fällen rechtzeitig eine Klärung vor der Wahl herbeiführen konnte.

Diese Neuerung lässt zugleich erkennen, wie wichtig es ist, die auch in anderen Bereichen anzutreffenden Folgen von (zu) späten Entscheidungen zu minimieren. Während in „normalen“ Gerichtsverfahren durch eine überlange Verfahrensdauer rechtliche Interessen Einzelner verletzt werden können, kann es bei einer späten Wahlprüfung um zahlreiche getroffene parlamentarische Entscheidungen von großer Reichweite gehen, denen im Falle der Feststellung eines Wahlfehlers ein Legitimationsdefizit anhaftet. Zwar wird in der Rechtspraxis aus Gründen des Vertrauensschutzes vom Fortbestand dieser Entscheidungen ausgegangen. Gleichwohl ist es von erheblichem Interesse, eine möglichst zeitnahe Klärung herbeizuführen, um entweder die Kritik zu entkräften oder schnell Abhilfe zu schaffen.

Kritik an den Prüfungsmaßstäben

Bei der Wahlprüfung führt nicht jeder Fehler im Verfahren zur vollständigen oder teilweisen Rechtswidrigkeit bzw. Ungültigkeit der Wahl. Das ist abstrakt betrachtet bei Verwaltungsverfahren nicht ungewöhnlich, doch stellt sich dabei die Frage, wie die Grenze zwischen Unbeachtlichkeit und Beachtlichkeit gezogen wird. Es fehlt insoweit an einer positivrechtlichen Konkretisierung, sowohl in der Verfassung als auch im Gesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb als Maßstab die Abwägung zwischen richtiger Abbildung des Wählerwillens einerseits und Bestandsschutz des gewählten Parlaments als Ausdruck der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems andererseits entwickelt und in Bezug auf die Rechtsfolge der (vollständigen oder teilweisen) Ungültigkeit der Wahl das Kriterium der (potenziellen) Mandatsrelevanz abgestellt (zusammenfassend u.a. BVerfGE 103, 111 ff.).

Diese deutliche Beschränkung der Folgen von Wahlrechtsfehlern ist zwar in der Literatur vereinzelt deutlich kritisiert worden, kann aber bei konsequenter Einhaltung als gut vertretbar eingestuft werden. Eine gründliche gerichtliche Aufklärung von Wahlrechtsfehlern ist als Rechtsschutzinstrument und Sanktion ausreichend, wenn es nicht zu einer anderen personellen Zusammensetzung des Parlaments und zu anderen politischen Mehrheiten kommt. Durch die Feststellung im Rahmen der parlamentarischen Wahlprüfung oder durch das Bundesverfassungsgericht werden die Rechtsverstößen und die Verantwortlichkeiten klar benannt.

Problematische Entwicklungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung

Allerdings gibt es in der Wahlprüfungspraxis aus jüngerer Zeit auch Beispiele dafür, dass trotz Mandatsrelevanz eine Wahl nicht für (teilweise) ungültig erklärt wurde (Nordrhein-Westfalen 2017), eine reine Folgenabwägung genügte (Sachsen Landtagswahl 2014) oder gegen den Wortlaut der Verfassung auch vor der Wahl verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gewährt wurde (Sachsen Landtagswahl 2019). Zudem sehen die Regelungen zum Kommunalwahlrecht einiger Bundesländer ausdrücklich vor, dass auch im Falle einer Mandatsrelevanz von der Ungültigkeitserklärung abgesehen werden kann.

Durch solche Gerichtsentscheidungen und gesetzlichen Regelungen wird nicht nur von der etablierten und (weitgehend) akzeptierten Grenze der Bevorzugung des Bestandsinteresses gegenüber der Orientierung am Wählerwillen abgewichen, sondern zugleich ein gefährlicher und unnötiger Anknüpfungspunkt für eine Wahlrechtskritik etabliert, wonach das Wahlrecht den Interessen der Herrschenden dient. Dieser Vorwurf mag im Einzelfall ausgeräumt werden können. Sobald aber das Bestandsinteresse auf Kosten der korrekten Zusammensetzung des Parlaments durchgesetzt wird (politische Mehrheiten waren – soweit ersichtlich – bislang noch nicht davon abhängig), werden auch die Qualitätsanforderungen an Wahlen unterschritten und ihre Legitimationswirkung beschädigt. Diese hängen von einem möglichst formalen und damit neutralen Verständnis der Wahlrechtsgleichheit und der diese sichernden Verfahrensregeln ab.

Nachlässigkeiten und Inkohärenzen bei der Feststellung und Ahndung von Wahlfehlern bleiben auch im Ausland und auf internationaler Ebene nicht unbemerkt. Sie können unter anderem von autoritären Staaten gegenüber der Kritik von Wahlbeobachtern angeführt werden, um eigenes manipulatives Verhalten zu rechtfertigen. Auch deshalb sollte Deutschland um ein Höchstmaß an Transparenz und Kohärenz in der weiteren Entwicklung und Ausgestaltung seines Wahlprüfungsrechts bemüht sein.

Eckpunkte einer Wahlprüfungsrechtsreform

Bei einer knappen Skizze einer möglichen Wahlprüfungsrechtsreform sollten meines Erachtens als Hauptziele die Ermöglichung einer zeitnahen gerichtlichen Wahlprüfung sowie die Ermöglichung von Rechtsschutz vor der Wahl über Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG hinaus im Vordergrund stehen. Dafür bedarf es einer Abkehr von einem zweistufigen Verfahren und eines direkten Zugangs zum Bundesverfassungsgericht. Dessen Rechtsprechung zur Mandatsrelevanz sollte als Maßstab in das Wahlprüfungsgesetz oder in das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aufgenommen werden. Zur Vermeidung von Überlastungen könnte ein Kammerverfahren zur Vorprüfung vorgesehen werden. Da mit den Beschwerden jeweils nach einer Bundestagswahl zu rechnen ist, kann sich das Bundesverfassungsgericht auf den entsprechenden Arbeitsanfall gut einstellen und die Verfahren zeitnah bewältigen.


SUGGESTED CITATION  Kluth, Winfried: Für ein Update der Wahlprüfung in die Gegenwart, VerfBlog, 2022/10/26, https://verfassungsblog.de/fur-ein-update-der-wahlprufung-in-die-gegenwart/, DOI: 10.17176/20221026-225616-0.

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