Ein Schritt vorwärts, keiner zurück
Zur Rolle des Lieferkettengesetzes nach Inkrafttreten der Corporate Sustainability Due Diligence Directive
Am vergangenen Freitag kündigte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck an, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) für zwei Jahre „pausieren“ zu wollen. Dieser Wunsch wurde nun von der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages aufgegriffen. In einem am 11. Juni 2024 vorgestellten Gesetzentwurf fordert die Unionsfraktion eine Aufhebung des LkSG. Der Entwurf soll im heutigen Bundestagsplenum diskutiert werden. Abgestimmt wird zunächst über einen Geschäftsordnungsantrag, ohne Ausschussüberweisung unmittelbar in die zweite Lesung einzutreten (§ 80 Abs. 2 GO BT).
In Art. 1 des Entwurfs heißt es:
„Das […] Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz vom 16. Juli 2021 (BGBl. I S. 2959) wird aufgehoben“.
Sowohl der Bundeswirtschaftsminister als auch die CDU/CSU-Fraktion beziehen sich bei ihren Vorstößen auf die CSDDD, also die Europäische Lieferkettenrichtlinie, die im Mai verabschiedet wurde und seitens der EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren umzusetzen ist (zu Hintergründen siehe auf diesem Blog hier). Da die CSDDD teils abweichende Regelungen zum deutschen Recht beinhalte, sei es Unternehmen nicht zumutbar, sich hierauf vorzubereiten, während sie zeitgleich den Bestimmungen des LkSG Folge leisten müssten.
An der Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit dem Europarecht bestehen erhebliche Zweifel. Diese Zweifel gründen sich auf den Harmonisierungsvorschriften der CSDDD sowie auf europäischem Primärrecht.
Das LkSG zwischen Mindest- und Vollharmonisierung
Die CSDDD ist eine Richtlinie. Das bedeutet, dass sie innerhalb einer gesetzten Frist von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden muss. Bei dieser Umsetzung stellt sich die Frage, wie mit Bestimmungen des nationalen Rechts, die den selben Sachverhalt regulieren, umzugehen ist. Müssen sie im Zuge der Richtlinienumsetzung aufgehoben werden? Können sie parallel zur Richtlinie bestehen bleiben? Oder besteht gar eine Pflicht, die existierenden Normen eines bestimmten Bereichs beizubehalten? Diese Fragen beantwortet das Harmonisierungsniveau der betreffenden Richtline.
In Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie heißt es:
„This Directive shall not constitute grounds for reducing the level of protection of human, employment and social rights, or of protection of the environment or of protection of the climate provided for by the national law of the Member States or by the collective agreements applicable at the time of the adoption of this Directive.“
Die Richtlinie darf also nicht als Grundlage für eine Absenkung des Schutzniveaus von Menschen-, Arbeiter:innen- oder sozialen Rechten sowie des Umwelt- und Klimaschutzes dienen, das im nationalen Recht der Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Inkrafttretens der CSDDD bestand.
Diese Bestimmung kann auf zwei unterschiedliche Arten ausgelegt werden. Einerseits als materielles Verbot, das Schutzniveau, das vor Inkrafttreten der CSDDD bestand, abzusenken. Anderseits als Klarstellung, dass die CSDDD Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, die zum relevanten Zeitpunkt bestehenden Gesetze, die den Zwecken der Richtlinie dienen, aufzuheben oder abzuschwächen.
Eine solche Verpflichtung, vor Inkrafttreten der CSDDD bestehende Gesetze aufzuheben, würde die Richtlinie überhaupt nur im Fall einer sogenannten Vollharmonisierung begründen.
Das Harmonisierungsniveau der CSDDD legt ihr Art. 4 fest. Dieser bestimmt, dass die Regelungen über die Risikoanalyse, die Präventiv- und Beendigungsmaßnahmen vollharmonisierend sind – abweichende Bestimmungen also weder nach unten noch nach oben hin erlassen werden dürfen. Im Übrigen ist es Mitgliedstaaten aber gestattet, strengere sowie spezifischere Regelungen einzuführen – dahingehend ist die Richtlinie mindestharmonisierend.
Im Zusammenhang mit diesen Harmonisierungsvorschriften muss Art. 1 Abs. 2 CSDDD gelesen werden. Dieser schickt den sonstigen Bestimmungen der Richtlinie vorweg, dass die Harmonisierungsvorschriften nicht dazu führen dürfen, dass ein bestehendes Schutzniveau abgesenkt wird. Soweit also Art. 4 Abs. 1eigentlich vorschreiben würde, dass strengere nationale Regeln bezüglich der Risikoanalyse sowie der Präventiv- und Beendigungsmaßnahmen an das Niveau der CSDDD anzupassen sind, nimmt Art. 1 Abs. 2 CSDDD solche Regeln, die schon vor Inkrafttreten der Richtlinie bestanden, von der Vollharmonisierung aus.
Dies spricht für zweitere Lesart der Vorschrift. Art. 1 Abs. 2 CSDDD friert das Schutzniveau nicht ein, sondern ermöglicht es Mitgliedstaaten lediglich, dieses Niveau beizubehalten – so sie denn wollen.
Dagegen lässt sich anführen, dass der Wortlaut der Norm, insbesondere die Formulierung shall not, nicht dazu passt, lediglich festzuhalten, dass die Richtlinie keine Verpflichtung zur Vollharmonisierung begründen soll. Vielmehr spricht der Wortlaut dafür, dass das nationale Schutzniveau aufgrund der Richtlinie nicht abgesenkt werden darf. Damit lässt sich festhalten, dass die Rechtmäßigkeit einer Aussetzung des LkSG zumindest unklar wäre.
Zeitlicher Bezugspunkt und tickende Uhr
Dahingehend ist zu berücksichtigen, dass die CSDDD zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags noch nicht in Kraft getreten ist, und Art. 1 Abs. 2 daher seinen zeitlichen Bezugspunkt noch nicht gefunden hat. Gemäß Art. 38 CSDDD geschieht dies am 20. Tag nach Veröffentlichung der Richtlinie im Amtsblatt der EU. Diese Veröffentlichung hat bisher nicht stattgefunden. Für die Akteure, die das für sie erreichbare Mindestmaß an Menschenrechtsschutz anstreben, läuft also die Uhr.
Das non-regression Prinzip und Art. 2 EUV
Ein Verbot, das LkSG bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist des Art. 37 CSDDD auszusetzen oder abzuschwächen lässt sich aus der CSDDD herleiten, zwingend ist dieser Schluss aber nicht.
Einem solchen Vorgehen könnte jedoch das vom EuGH in seiner Republikka-Entscheidung entwickelte non-regression principle (Rückfallverbot) entgegenstehen. Der materielle Gehalt des Rückfallverbots besteht darin, dass es untersagt, nationale Vorschrift dergestalt zu ändern, dass der Schutz der in Art. 2 EUV festgelegten Werte vermindert würde (Rn. 63). Hintergrund dieser dogmatischen Figur ist der Umstand, dass Mitgliedstaaten mit dem Beitritt zur EU die Werte aus Art. 2 EUV als ihre angenommen, und damit gewissermaßen zur Geschäftsgrundlage des Staatenbundes gemacht haben.
In dem Fall, der dem EuGH vorlag, handelte es sich um den Wert der Rechtsstaatlichkeit. Art. 2 EUV nennt jedoch auch die Wahrung der Menschenrechte als fundamentalen Wert, auf dem sich die Union gründet. Insofern könnte sich das Rückfallverbot auch auf solche nationalen Vorschriften erstrecken, die dem Menschenrechtsschutz dienen.
Diese Konstellation berührt einen Punkt, der in der Entscheidung des EuGH nicht abschließend behandelt wurde und für Fragen (etwa hier und hier) in der Rechtswissenschaft gesorgt hat: Welcher zeitliche und gegenständliche Referenzpunkt gilt für das Rückfallverbot? Sind es die Kopenhagener Kriterien, die auch während der gesamten Mitgliedschaftszeit erfüllt sein müssen? Oder setzen die Mitgliedstaaten ihren – über den Kopenhagener Kriterien liegenden – Referenzpunkt durch Verabschiedung entsprechender Gesetze immer wieder selbst? Letzteres würde bedeuten, dass es dort, wo Mitgliedstaaten einen Schritt nach vorne machen, keinen Weg zurück gibt (diesen Fall diskutierend: Leloup, Kochenov und Dimitrovs).
Nur letzterer Fall würde eine Anwendung des Rückfallverbots auf das Aussetzen des LkSG denkbar machen. Es spricht einiges dafür, dem Rückfallverbot diesen dynamischen Verweis zumindest im Bereich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte (die selbstverständlich vom Menschenrechtsverweis in Art. 2 EUV erfasst sind) zugrunde zu legen. In diesem Bereich herrscht das völkerrechtliche Gebot der progressive realization, also der fortschreitenden Verwirklichung von Rechten. Das Gebot der fortschreitenden Verwirklichung erfordert eine aufeinander aufbauende, „progressive“, Vorgehensweise und nicht lediglich die andauernde Einhaltung von Mindeststandards. Das Gebot der fortschreitenden Verwirklichung ist zwar vor allen Dingen im Bereich der Gewährleistungsdimension der Menschenrechte relevant, während mit dem Lieferkettenrecht die Schutzpflichtendimension angesprochen ist. Auch dahingehend dürfte aber ein zunehmendes, statt eines abnehmenden Schutzniveaus für den „vollen“ Genuss aller Menschenrechte notwendig sein.
Welchen Referenzpunkt man dem Rückfallverbot zugrunde legen will, sagt auch etwas darüber aus, welche Rolle man der der Europäischen Union im Kontext des Menschenrechtsschutzes zuschreibt. Soll sie einen Gewährleistungsverbund darstellen, der die Einhaltung bestimmter Mindeststandards sicherstellt oder soll sie ein Aufbruchsverbund sein, der mit dem Rückfallgebot im Schlepptau im Sinne einer upwards spiral immer weiter Richtung vollständiger Erfüllung der Menschenrechte schreitet?
Auch hiervon wird abhängen, wie die oben aufgeworfene Frage nach dem richtigen Referenzpunkt des Rückfallverbots zu beantworten ist.
Viele Fragen statt Planungssicherheit
Für die Zwecke dieses Beitrags lässt sich festhalten, dass eine Aussetzung bzw. Aufhebung des Lieferkettengesetzes mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden wäre. Zum einen ordnet die CSDDD in Art. 1 Abs. 2 an, dass eine Absenkung des bestehenden Schutzniveaus aufgrund der Richtlinie nicht erfolgen darf. Diese Bestimmung kann auf unterschiedliche Arten gelesen werden. Hier wurde vertreten, dass der Wortlaut für ein materielles Einfrieren des in den Mitgliedstaaten bestehenden Schutzniveaus spricht.
Zum anderen widerspricht eine Aufhebung des LkSG dem vom EuGH entwickelten Rückfallverbot. Zu diesem Ergebnis gelangt man, wenn ein dynamischer Referenzpunkt für das Rückfallverbot gewählt wird – dort, wo EU-Staaten also einen Schritt nach vorne tun, dürfen sie keinen zurück machen.
Die aufgezeigten Unsicherheiten beziehen sich auch auf die Frage, ob die CSDDD in Deutschland 1:1 umgesetzt werden kann, oder nicht der weitergehende persönliche Anwendungsbereich des LkSG beizubehalten ist. Während das LkSG auf Unternehmen ab 1.000 Mitarbeitenden und Sitz in Deutschland unabhängig einer bestimmten Umsatzschwelle Anwendung findet, schränkt die CSDDD diesen Anwendungsbereich dahingehend ein, dass zusätzlich ein jährlicher Umsatz von 450 Mio. Euro überschritten sein muss. Folgte man der hier vertretenen Auffassung, so müsste der weitere Anwendungsbereich des LkSG beibehalten werden.
Ungeachtet des Ergebnisses der heutigen Abstimmung im Bundestag behalten die in diesem Beitrag aufgeworfenen Rechtsfragen also auch über die nächsten zwei Jahre Relevanz.