Warum das KlimaSeniorinnen-Urteil nicht undemokratisch ist
Anmerkungen zu einer Schweizer Debatte
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 9. April 2024 im Fall KlimaSeniorinnen et al. v. Switzerland („KlimaSeniorinnen“) ein bemerkenswertes Urteil zugunsten einer lebenswerten Zukunft für alle gefällt. Bereits heute ist klar: Das Urteil schreibt Rechtsgeschichte. Auf dieses Ergebnis – ein wegweisendes Urteil und wichtiger Etappensieg hin zu mehr Klimaschutz und -gerechtigkeit – hatten viele gehofft. Nicht alle begrüssen jedoch diese Entwicklungen (siehe etwa hier).
Vor allem in der Schweiz stieß das Urteil auf scharfe Kritik. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) bezeichnete den Entscheid als „dreiste Einmischung fremder Richter in die Schweizer Politik“ und forderte (einstimmig) den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Auch in den Medien wurden Bedenken geäußert. Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) fragte seine Leserschaft: „Finden Sie es gut, wenn sich Gerichte in die Klimapolitik einmischen?“. Der Tages-Anzeiger sprach von einem „gefährlichen Urteil“durch „fremde Richter“(sic), die Aargauer Zeitung von einer „Aushebelung der Demokratie“ und Altbundesrichter Ulrich Meyer gar von einer „Überschreitung des Rubikon“.
Zahlreiche dieser Kritiken wurde innerhalb von Stunden – manche innerhalb von Minuten – nach Verkündung des Urteils veröffentlicht. Es mag dahingestellt sein, ob die Autorinnen und Autoren sich innert dieser Zeit ein genaues Bild davon machen konnten, was die 17 Richterinnen und Richter in ihrem 260-Seiten langen Urteil (und eben nicht 138 Seiten, wie Altbundesrichterin Pfiffner meint) entschieden – und von welchen Dingen sie, unter anderem aus Gründen der richterlichen Zurückhaltung, ausdrücklich Abstand nahmen.
Weniger vorhersehbar und zur Überraschung vieler gipfelte die öffentliche Kritik im Juni 2024 in einem Votum der Bundesversammlung, dem Urteil des EGMR nicht Folge zu leisten. Erst der Ständerat und dann der Nationalrat warfen den Straßburger Richterinnen und Richtern einen „unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus“ vor. Sie behaupteten unter anderem, der Gerichtshof habe ein „neues Menschenrecht“ (d.h. ein Recht auf Klimaschutz) geschaffen, das weit vom Text und Geist der Konvention entfernt sei und damit die Grenzen der dynamischen Auslegung überschreite. Sie unterstellten dem EGMR zudem, das Subsidiaritätsprinzip zu missachten, stellten seine Legitimität offen in Frage und „stellten besorgt fest“ (dennoch mit drohendem Unterton), dass dies „zu einer Schwächung des effektiven Schutzes der Menschenrechte in Europa führen könnte“. Schließlich forderten sie den Bundesrat auf, dem Ministerkomitee mitzuteilen, dass die Schweiz „keinen Grund sieht, dem Urteil des Gerichtshofs zu folgen.“ Dies da ihre bisherigen Bemühungen und die in der Zwischenzeit ergangenen Novellierungen zeigen würden, dass die Schweiz ihren nationalen und internationalen Verpflichtungen zur Bewältigung des Klimawandels nachkomme.
Der Entscheid des EGMR – zumindest nach Schweizer Verständnis – wirft also zentrale Fragen der Gewaltenteilung und der Rolle der Justiz bei der Beurteilung von Menschenrechten auf, insbesondere im Kontext des Klimawandels. Vor dem Hintergrund dieser scharfen Töne erscheint es umso wichtiger, berechtigte Kritik am Gerichtshof von opportunistischer Kritik zu unterscheiden, die das Urteil lediglich nutzt, um eine grundsätzliche Ablehnung des EGMR und von Klimaklagen im Allgemeinen auszudrücken oder gar die eigene politische Agenda voranzutreiben. Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse beleuchtet dieser Beitrag das Urteil des EGMR unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. Dabei zeigt er auf, dass der Entscheid des Gerichtshofs einen integralen Bestandteil der demokratischen Ordnung (insbesondere in der Schweiz) darstellt und gleichzeitig zu besseren Gesetzen und Politiken beiträgt.
Sollte sich der Gerichtshof überhaupt mit Klimaklagen befassen?
Noch bevor der Fall KlimaSeniorinnen und die anderen am 9. April entschiedenen Fälle (Duarte Agostinho et al. v. Portugal et al. und Carême v. Frankreich) an Bedeutung gewannen, stellten einige in Frage, ob sich der Gerichtshof überhaupt mit Fällen zum Klimawandel befassen sollte.
Grob zwei Einwände wurden gegen eine Überprüfung durch den EGMR angeführt. Erstens argumentierten die Parteien unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip und den Ermessensspielraum der Staaten, dass nationale Behörden „grundsätzlich besser in der Lage sind als ein internationales Gericht, die relevanten Bedürfnisse und Bedingungen zu beurteilen“ und dass „in Fragen der allgemeinen Politik, über die die Meinungen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft vernünftigerweise weit auseinandergehen können, der Rolle der nationalen politischen Entscheidungsträger besonderes Gewicht beigemessen werden sollte“ (Hatton et al. v. Großbritannien, Rz. 97). Insbesondere weil die Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen über den Klimawandel (UNFCCC) keinen gerichtlichen Überprüfungsmechanismus zur Einhaltung bspw. des Pariser Abkommens eingerichtet haben, würde die Beurteilung von Klimaangelegenheiten durch den EGMR bedeuten, dass dieser unangemessen als „oberstes Gericht für Umwelt- oder Klimastreitigkeiten“ fungiere und dies – so das Schweizer Bundesamt für Justiz – „nur zu Spannungen führen kann.“
Zweitens wurden Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung à la Juliana v. United States geäussert. Eine „Verrechtlichung“ von Klimafragen auf internationaler Ebene, so wiederum die Schweizer Regierung, würde das Risiko bergen, „die demokratische Debatte zu umgehen und die Suche nach politisch akzeptablen Lösungen zu erschweren.“ Der Straßburger Richter Eicke bringt diesen Punkt in seiner teils übereinstimmenden, teils abweichenden Meinung in KlimaSeniorinnen nachdrücklich zum Ausdruck. Eine richterliche Überprüfung würde dazu führen, dass Regierungen „nun in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden“ und dies auf Kosten ihrer eigentlichen Aufgaben zum Schutz vor dem Klimawandel, etwa durch Erlass von Vorschriften oder Überprüfung von Maßnahmen (Rz. 69-70; Eicke hat dieses Argument bereits hier vorgebracht).
Die Bewältigung des Klimawandels als vorrangige Aufgabe demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse
Das Urteil im KlimaSeniorinnen-Fall enthält mehrere Passagen, in denen die übrigen 16 Richterinnen und Richter, darunter auch der Schweizer Richter Zünd, diese Bedenken vorwegnehmen. Der Gerichtshof betont, dass die Hauptverantwortung für die Bewältigung der komplexen wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Fragen, die der Klimawandel aufwirft, bei der nationalen Legislative und Exekutive liegt (Rz. 413). Diese legen in der Regel den übergreifenden politischen Rahmen und spezifische Maßnahmen in sektoralen Bereichen fest (Rz. 411), was eine umfassende Abwägung unterschiedlicher, oft konfligierender Interessen erfordert (Rz. 421). Der Gerichtshof betonte, dass in einer Demokratie, „die in der Präambel der Konvention zusammen mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der geteilten Verantwortung ein grundlegendes Merkmal der europäischen öffentlichen Ordnung darstellt (…), solche Maßnahmen (…) notwendigerweise von einer demokratischen Entscheidungsfindung abhängen“ (Rz. 411).
Indem der Gerichtshof die primäre Verantwortung (und damit das Prärogativ) der innerstaatlichen demokratischen Legislative und Exekutive hervorhebt, suggeriert er a contrario nicht, dass die Judikative zu irgendeinem Zeitpunkt in Bezug auf Autorität, Kompetenz, Funktion oder Form an deren Stelle tritt. Im Gegenteil, er stellt klar, dass „ein gerichtliches Eingreifen, auch durch dieses Gericht, die Maßnahmen, die von der Legislative und der Exekutive zu ergreifen sind, weder ersetzt noch ersetzen kann“ (Rz. 412).
Die ergänzende Rolle der Judikative – nicht außerhalb, sondern als unverzichtbarer Teil der demokratischen Ordnung
Bedeutet dies, dass Klimarecht und -politik keiner richterlichen Überprüfung unterstehen? Keineswegs. Denn wenn man Montesquieu und Madison Glauben schenken darf, sind solche Mittel der Kontrolle und des Ausgleichs staatlicher Gewalt („checks and balances“) von grundlegender Bedeutung für eine Demokratie (und förderlich für eine bessere Politik und bessere Gesetze, sofern uns das noch ein Anliegen ist). Vielmehr wären die Grundsätze der Gewaltenteilung und -moderation stark kompromittiert – wenn nicht verletzt –, wird der Judikative die Möglichkeit genommen, die Handlungen der Exekutive und Legislative nicht zu überprüfen.
Der Gerichtshof stellte klar, dass „die Demokratie nicht auf den Willen der Mehrheit der Wähler und der gewählten Vertreter unter Missachtung der Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit reduziert werden kann. Der Auftrag der innerstaatlichen Gerichte und des Gerichtshofs ist daher komplementär zu diesen demokratischen Prozessen“ (Rz. 412). Aufgabe der Justiz war es schon immer – und bleibt es auch im Zeitalter des Klimawandels –, die notwendige Kontrolle über die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu gewährleisten. Diese Aufsicht ist nicht minder, sondern umso wichtiger, wenn wir uns die komplexen Zeithorizonte bei der Bewältigung des Klimawandels vergegenwärtigen. Insbesondere aus einer generationenübergreifenden Perspektive besteht ein „den (…) politischen Entscheidungsprozessen inhärentes Risiko, dass kurzfristige Interessen und Belange gegenüber den dringenden Erfordernissen einer nachhaltigen Politikgestaltung überwiegen“, und dies, so der Gerichtshof, „rechtfertigt die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung“ (Rz. 420).
Dass Politikerinnen und Politiker, die ihr Handeln vornehmlich dem Takt kurzer Wahlzyklen anpassen, sich entsprechend verhalten, wird nicht weiter verwundern. Allerdings sieht sich auch die Exekutive diesem Risiko ausgesetzt. Vor 15 Jahren, im Jahr 2009, anerkannte der Bundesrat in seiner Botschaft zur Revision des CO2-Gesetzes, dass Industrienationen ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 (gegenüber 1990) um „mindestens 40 Prozent“ reduzieren müssten, um die globale Erderwärmung auf einem sicheren Niveau zu halten. Er verzichtete jedoch ausdrücklich darauf, sich dieser Verpflichtung mit einem (nota bene) Mindestbeitrag anzuschließen, da ein solches Vorgehen „das Risiko einer übermässigen Belastung der Schweizer Wirtschaft mit sich bringen würde“. Kurzfristige wirtschaftliche Partikularinteressen eines Staates zog der Bundesrat also bewusst der langfristigen Sicherheit aller vor.
Gerade im Kontext des Klimawandels, der irreversible Prozesse und Schäden tendenziell schleichend über lange Zeithorizonte hervorruft, nimmt die Judikative mit ihrer Überprüfung gesetzgeberischen und exekutiven Handelns eine Kernfunktion der demokratischen Ordnung wahr – und agiert als solches eben nicht losgelöst und ausserhalb davon. Mit Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip bekräftigte der Gerichtshof, dass demokratische Entscheidungsprozesse die Ersten sein sollten, die sich mit diesen Konflikten auseinandersetzen, deren Prozesse und Ergebnisse ergänzend durch die gerichtliche Kontrolle auf nationaler Ebene und erst danach durch die Einschaltung des EGMR überprüft werden (Rz. 412, 421).
Zuständigkeit des Gerichtshofs
Mit der Ratifikation der EMRK im Jahr 1974 hat sich die Schweiz freiwillig der Gerichtsbarkeit des EGMR unterworfen und damit dessen grundsätzliche Zuständigkeit zur Beurteilung der Einhaltung der EMRK-Rechte anerkannt. Damit wird der Gewaltenteilung resp. der „checks and balances“ eine vertikale Dimension verliehen (stellenweise auch als „vertikale Gewaltenteilung“ bezeichnet).
Diese Überprüfung durch den Straßburger Gerichtshof oder – genauer gesagt – die Überprüfung der Einhaltung der EMRK-Rechte ist in der Schweiz umso bedeutender, als diese nur eine eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit kennt: Zum einen entzieht Art. 189 Abs. 4 Satz 1 BV Akte des Bundesrates und der Bundesversammlung der gerichtlichen Kontrolle. Zum anderen schreibt Art. 190 BV, indem er Bundesgesetze für das Bundesgericht als massgebend erklärt, diesem vor, Bundesgesetze in jedem Fall anzuwenden, auch wenn diese den grundlegenden Werten der Verfassung widersprechen.
Die EMRK-Rechte gebieten, dass deren Verletzung festgestellt und beseitig wird – auch in der Schweiz. Ungeachtet von Art. 190 BV besteht das Gebot gerichtlicher Überprüfung der Konventionsrechte aufgrund des Vorrangs der EMRK vor Bundesrecht und im Einklang mit der langjährigen Praxis des Bundesgerichts. Entsprechend kann, wie die Straßburger Richterinnen und Richter folgerichtig feststellten, „die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten über den Klimawandel nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden“ (Rz. 451).
Der Gerichtshof bekräftigt, dass Beschwerden, die sich auf eine staatliche Politik beziehen und dabei die EMRK-Rechte eines Einzelnen oder einer Gruppe von Personen berühren, „nicht mehr nur eine Frage der Politik sind, sondern auch eine Rechtsfrage, die sich auf die Auslegung und Anwendung der Konvention auswirkt“ (Rz. 450). Wenn also eine Verletzung von Konventionsrechten in Frage steht, „kann der Gerichtshof (…) seine Rolle als Justizorgan, das mit der Durchsetzung der Menschenrechte beauftragt ist, nicht ignorieren“ (Rz. 413).
Die gerichtliche Kontrolle des EGMR ist dabei wesentlich enger als auf nationaler Ebene (Rz. 412). Art. 19 EMRK beschränkt die Zuständigkeit des Gerichtshofs darauf, die Einhaltung der Konvention zu gewährleisten (Rz. 411). Was den Umfang seiner Zuständigkeit betrifft, kann und muss der Gerichtshof also Fälle beurteilen, in denen sich Menschenrechte und Klimaschutzrecht und -politik überschneiden. Im Wissen um seine eingeschränkte Rolle betont der Gerichtshof auch hier, dass er „nicht befugt ist, die Einhaltung anderer internationaler Verträge oder Verpflichtungen als der Konvention sicherzustellen“ (Rz. 454). Die Zuständigkeit des Gerichtshofs ist nicht nur im Umfang, sondern auch im Hinblick auf die Überprüfungsdichte begrenzt. Bei der Feststellung der „Verhältnismäßigkeit allgemeiner Maßnahmen des innerstaatlichen Gesetzgebers“ (Rz. 412) beachtet der Gerichtshof „in hohem Maße den innerstaatlichen politischen Entscheidungsträger und die Maßnahmen, die sich aus dem betreffenden demokratischen Prozess und/oder der gerichtlichen Kontrolle durch die innerstaatlichen Gerichte ergeben.“ (Rz. 450).
Ein differenzierter Ermessensspielraum
Diese richterliche Zurückhaltung ist für das Funktionieren (und die Legitimität) des EGMR von zentraler Bedeutung, aber sie geht nicht so weit, dass die Überprüfung der Konformität staatlicher Handlungen mit den Konventionsrechten durch den Gerichtshof zu einer bloßen Formalität oder, zynischer ausgedrückt, zu einer Gummiprüfung wird. Der Ermessensspielraum („margin of appreciation“) ist eine zentrale Doktrin (zugegebenermaßen eine der Strittigsten) des EGMR, mit der ein sorgfältiges Gleichgewicht zwischen Rechtsschutz und richterlicher Zurückhaltung austariert wird.
Mit Blick auf die Auswirkungen des Klimawandels auf die Konventionsrechte hat der Gerichtshof einen differenzierten Ermessensspielraum entwickelt. Der Ermessensspielraum der Staaten ist eng, was die „staatliche Verpflichtung zur Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels und seiner nachteiligen Auswirkungen sowie die Festlegung der erforderlichen Ziele angeht“ (Rz. 543). Der Gerichtshof begründet dies mit der Art und der Schwere der klimabedingten Schäden sowie dem allgemeinen Konsens über die damit verbundenen Risiken und Verpflichtungen der Parteien zur Klimaneutralität. Der Ermessensspielraum wird hingegen weit gefasst hinsichtlich der Mittel zur Erreichung dieser Ziele, einschließlich operativer Entscheidungen und politischer Maßnahmen (Rz. 543). Daraus ist zu schliessen, dass die Ambition zur Eindämmung des Klimawandels, d.h. das Schutzniveau betroffener Personen vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels, vom Gerichtshof überprüft werden kann, während die Modalitäten dieses Schutzniveaus (d.h. die Wahl der Maßnahmen) weitgehend außerhalb seiner Zuständigkeit liegen.
Vor diesem Hintergrund würde man erwarten, dass der Gerichtshof beispielsweise ein Höchstmaß an globaler Erwärmung bestimmen würde, das mit den Konventionsrechten vereinbar ist, oder dass er Zwischenziele und Jahresetappen für Treibhausgasreduktionen festlegen würde. Kritische Stimmen deuten dies an, wenn sie behaupten, der Gerichtshof habe im Wesentlichen „Klimapolitik gemacht“. Was hat der Gerichtshof also tatsächlich getan?
Der Ermessensspielraum im KlimaSeniorinnen-Fall
Der Gerichtshof stellte fest, dass „die primäre Pflicht des Staates darin besteht, Vorschriften und Maßnahmen zu erlassen und in der Praxis wirksam anzuwenden, die geeignet sind, die bestehenden und potenziell unumkehrbaren künftigen Auswirkungen des Klimawandels abzuschwächen“ (Rz. 545). Der Gerichtshof erinnerte daran, dass die EMRK „so ausgelegt und angewandt werden muss, dass sie Rechte garantiert, die praktisch und wirksam und nicht theoretisch und illusorisch sind“ (Rz. 545), und stellte fest, dass „die Vertragsstaaten die erforderlichen Regelungen und Maßnahmen treffen müssen, um einen Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen in der Erdatmosphäre und einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur über ein Niveau hinaus zu verhindern, das geeignet ist, schwerwiegende und unumkehrbare nachteilige Auswirkungen auf die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Privat- und Familienleben und Wohnung nach Artikel 8 der Konvention, zu verursachen“ (Rz. 546). Was die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechtsgarantien anbelangt, sollten wir also nicht zum „point of no return“ kommen und ebenso nicht den „point of last return“ abwarten.
Kein Menschenrecht auf Klimaschutz
Hat der Gerichtshof damit ein „neues Recht auf Klimaschutz“ geschaffen, wie einige behaupten? Der Gerichtshof stellte klar, dass dies nicht der Fall ist. Er betonte, dass „kein Artikel der Konvention speziell darauf abzielt, einen allgemeinen Schutz der Umwelt als solche zu gewährleisten“ (Rz. 445). In seinem Urteil geht es um „das Vorhandensein einer schädlichen Auswirkung auf eine Person und nicht einfach um die allgemeine Verschlechterung der Umwelt“ (Rz. 446). Dies ist eine zentrale Unterscheidung, die in der Literatur umfassend anerkannt ist (und u.a. erklärt, warum die UN-Generalversammlung 2022 in ihrer Resolution A/76/L.75 mit 161 zu 0 Stimmen die Anerkennung eines eigenständiges Rechts auf Umwelt für notwendig erachtete). Also: Recht auf Schutz vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels ungleich Recht auf (umfassenderen) Klimaschutz. Und auch dies ist mitunter ein Hinweis darauf, dass actio popularis-Beschwerden im System der Konvention nach wie vor nicht geduldet werden.
Materielle und verfahrensrechtliche Sorgfaltspflichten
Der Gerichtshof hat anschließend die Bedeutung des zuvor qualifizierten Standards (Rz. 545-546) mit einem fünfstufigen Test in der viel diskutierten Rz. 555 näher erläutert. Die Staaten sollten einen Zeitplan und Ziele für das Erreichen der Kohlenstoffneutralität (unter Verwendung von Kohlenstoffbudgets) sowie Pfade und Zwischenziele für die Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen festlegen. Diese müssen zeitnah, angemessen und konsequent umgesetzt werden. Regierungen müssen ausserdem nachweisen, ob sie die Ziele eingehalten haben oder nicht, und diese Ziele regelmäßig aktualisieren. Diese Elemente werden anhand einer Gesamtbewertung beurteilt. Ausserdem sind für die schlimmsten Klimafolgen Anpassungsmaßnahmen zu treffen (Rz. 551-552).
Die Kriterien sind in Anbetracht des festgelegten Ermessenspielraums als konservativ zu werten. Der Gerichtshof hielt sich deutlich von der Festlegung langfristiger Ziele, von Zwischenzielen und -pfaden, Zeitplänen und anderen (im Klimarecht und der Klimapolitik sonst üblichen) quantitativen THG-Reduktionen fern. Stattdessen stellte er auf einer übergeordneten Ebene fest, dass die „wirksame Achtung der durch Artikel 8 geschützten Rechte“ eine „wesentliche und schrittweise Verringerung“ der Treibhausgasemissionen erfordert (Rz. 548), dass „sofortige Maßnahmen ergriffen und angemessene Zwischenziele für die Verringerung festgelegt werden müssen“ (Rz. 549) und dass zu diesem Zweck Maßnahmen in einen „verbindlichen Rechtsrahmen auf nationaler Ebene“ aufzunehmen sind (Rz. 549). Damit hat sich der Gerichtshof, wie Reich betonte, um einen vernünftigen Mittelweg bemüht.
An anderer Stelle des Urteils findet sich ein interessanter und weit weniger verhaltener Hinweis zum Umfang der Treibhausgasemissionen. Bei der Beurteilung des Umfangs der Beschwerde erklärte das Gericht „graue Emissionen“ (d.h. Emissionen etwa aus der Einfuhr von Gütern für den Haushaltsverbrauch in die Schweiz) für seine Beurteilung für relevant (Rz. 283, 287), dies allerdings „unbeschadet“ der Prüfung staatlicher Verantwortlichkeit (Rz. 283). Richter Eicke deutet in seiner abweichenden Meinung an, dass die vom Gerichtshof unter Art. 8 EMRK formulierten staatlichen Pflichten im Hinblick auf den Klimaschutz sowohl inländische als auch eingebettete Emissionen umfassen würden (abweichende Meinung von Richter Eicke, Rz. 4). Dieser Punkt bedarf gewiss weiterer wissenschaftlicher Erörterung.
Weniger umstritten und zusätzlich zu den oben genannten fünf Kriterien hat der Gerichtshof als Teil der verfahrensrechtlichen Tragweite von Art. 8 EMRK zwei verfahrensrechtliche Anforderungen aufgestellt: Namentlich soll die Öffentlichkeit, insbesondere die am stärksten betroffenen Menschen, angemessen über Klimaregelungen und -maßnahmen (oder deren Fehlen) informiert werden und Verfahren sind zu garantieren, mittels welchen deren Ansichten über die Regelungen und Maßnahmen im Entscheidungsprozess berücksichtigt werden (Rz. 554).
Dies ist also das Mindestmaß an inhaltlicher und verfahrenstechnischer Sorgfalt, welches Staaten im Zusammenhang mit dem Klimaschutz an den Tag legen müssen, um die Konventionsrechte zu achten.
… angewandt auf die Schweiz
Der Gerichtshof wendete diese Standards sodann auf die Schweiz an. Er stellte fest, dass die Schweiz nicht über einen ausreichenden Rechtsrahmen verfügt, um „einen wirksamen Schutz der ihrer Rechtsprechung unterliegenden Personen vor den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben und ihre Gesundheit zu gewährleisten und in der Praxis wirksam anzuwenden“ (Rz. 567). Die Schweiz habe es auch versäumt, ihr Treibhausgasbudget zu quantifizieren und ihre eigenen Ziele in der Vergangenheit einzuhalten, was das Gericht dazu veranlasste, eine Verletzung von Art. 8 EMRK festzustellen. In ihrem Urteil hat die Große Kammer auch die jüngsten Gesetzesänderungen und -vorschläge berücksichtigt (ein Punkt, den das Parlament offenbar überlesen hat) und festgestellt, dass „die neuen Rechtsvorschriften nicht ausreichen, um die im bisher geltenden Rechtsrahmen festgestellten Mängel zu beheben“ (Rz. 568). In welchen konkreten Punkten Diskrepanzen zwischen dem Ist- und dem vom EGMR festgelegten Soll-Zustand bestehen, wurde zwischenzeitlich auch von den KlimaSeniorinnen resp. der sie vertretenden Rechtsanwältin Cordelia Bähr umfassend aufgearbeitet.
Hin zu einer menschenrechtskonformen Klimapolitik
Eine genaue Betrachtung des Urteils zeigt, wie die Schweizer Parlamentarierin Li Marti prägnant feststellte: „Demokratie und Menschenrechte sind nicht im Widerspruch zueinander, sondern komplementär. Die Einzigen, die hier Aktivismus betreiben, sind wir [d.h. das Schweizer Parlament], nicht der EGMR.“ Denn anders als die Bundesversammlung mit seinen jüngsten Erklärungen zum Urteil öffentlich kommuniziert, wurde zwischenzeitlich bekannt, dass die Regierung zentrale, vom Volk beschlossene Maßnahmen zum Schutz des Klimas (d.h. die Inkraftsetzung des Klima- und Innovationsgesetzes (KIG) sowie die Revision des CO2-Gesetzes) ungewöhnlich verzögert.
Anstatt das Urteil abzulehnen, könnte sich die Schweiz ein Beispiel an den Niederlanden und Deutschland nehmen und die richterliche Feststellung begrüssen, dass sie zu wenig unternimmt, und zwar nicht (oder nur bedingt) zum Schutz des Klimas, sondern nota bene zum Schutz fundamentaler Menschenrechte vor den schädlichsten Auswirkungen der Klimaerwärmung. Es ist zu hoffen, dass die Schweiz davon ablässt, die Legitimität des Gerichts und die wegweisenden inhaltlichen und prozeduralen Standards in Frage zu stellen, um endlich – 32 Jahre nach der Unterzeichnung der UNFCCC – eine qualifizierte, informierte, sachliche und offene Debatte darüber zu führen, wie sie ihre Emissionen entscheidend reduzieren und damit nicht nur schweren Schaden für die KlimaSeniorinnen, sondern zum Wohle aller verhindern kann.
Es liegt nun am Bundesrat, das Urteil sorgfältig zu studieren und die Schritte festzulegen, die auf jeder Regierungsebene – Bund, Kantone und Gemeinden – unternommen werden müssen, um das Klimagesetz und die Klimapolitik mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen. Der Bundesrat plant, im August 2024 zu diesem Thema Stellung zu nehmen.
Der Beitrag ist eine Übersetzung und Erweiterung eines auf diesem Blog erschienenen Textes. Übersetzung der Urteilsauszüge auf Deutsch durch die Autorin.