Ein König zum Unabhängigkeitstag
Der U.S.-amerikanische Supreme Court hat entschieden, dass offizielle Amtshandlungen von Präsidenten Immunität genießen. Anlass war das Verfahren gegen Donald Trump, der sich wegen seiner Beteiligung am versuchten Aufstand vom 6. Januar 2021 vor einem Gericht verantworten muss. Die Entscheidung ist ein voller Erfolg für Trump und wird nicht nur weitere Strafverfahren beeinflussen, sondern auch über den aktuellen Fall hinaus weitreichende Konsequenzen zeitigen. Der Supreme Court hat den USA in der Woche des 248. Unabhängigkeitstages einen neuen König geschenkt.
Carte blanche für den Präsidenten?
6-3 entschieden die Richter:innen des Supreme Courts, dass Präsidenten bei der Ausübung von official acts, also Amtsgeschäften, Immunität genießen. Die sechs rechtskonservativen Richter:innen, drei davon durch Trump ernannt, folgten damit der Argumentation von Trumps Anwälten, die im Strafverfahren wegen seiner Beteiligung am Aufstand vom 6. Januar 2021 die Anklage verworfen sehen wollten, da der Präsident für seine Handlungen Immunität genieße. Mit dieser historischen Entscheidung gewinnt Trump rechtlich und auch politisch auf ganzer Linie und muss keine Konsequenzen für sein bisheriges – und ggf. zukünftiges – Verhalten fürchten.
Das Urteil trennt zwischen immunitätsauslösendem Amtshandeln und sog. non-official acts, die weiterhin voller Strafbarkeit unterliegen. In der Kategorie des Amtshandelns wird weiter ausdifferenziert: Exekutive Kernkompetenzen, die abschließend und ausschließend (conclusive and preclusive) in der Verfassung dem Präsidenten überantwortet werden, erfreuen sich absoluter Immunität. Handlungen, die in die Peripherie dieser Kompetenzen fallen, genießen eine Immunitätsvermutung (presumptive immunity). Hier darf ein Strafverfahren nur stattfinden, wenn dadurch keine Gefahr besteht, dass die Funktion und Autorität der Exekutivgewalt beeinträchtigt wird.
Absolute Immunität
Die absolute Immunität geht weit darüber hinaus, wie sie gegenüber anderen Staatsbediensteten (zum Beispiel Polizist:innen) wirkt. Diese genießen sog. qualified immunity für zivilrechtliche Strafen, die aber durch Beweise angegriffen und sodann aufgehoben werden kann, wenn das Verhalten schwerwiegend oder verwerflich war oder wenn die Legislative das entscheidet. Beides ist im Falle des Präsidenten nicht möglich.
Die präsidiale Immunität garantiert nun nicht nur Abwehr von zivilrechtlicher (so schon Nixon v. Fitzgerald), sondern auch strafrechtlicher Verfolgung und kann nicht durchbrochen werden. Der Supreme Court gibt klar vor, dass die Immunität absolut wirkt und keine umgekehrte de-minimis-Regel greift. Egal, wie substantiell die Verletzung ist, der Präsident bleibt immun. Egal, was der Kongress für Gesetze erlässt, der Präsident bleibt immun. Justice Sotomayor drückt es in ihrem Dissent so aus: „The President of the United States is the most powerful person in the country, and possibly the world. When he uses his official powers in any way, under the majority’s reasoning, he now will be insulated from criminal prosecution. Orders the Navy’s Seal Team 6 to assassinate a political rival? Immune. Organizes a military coup to hold onto power? Immune. Takes a bribe in exchange for a pardon? Immune. Immune, immune, immune.”
Dieser Persilschein hat nicht nur erhebliche politische Auswirkungen, sondern verstößt auch gegen Art. IV der Genozid-Konvention, die eine Strafverfolgung unabhängig des Amtes fordert und die die USA gezeichnet haben. Es bleibt allein das Amtsenthebungsverfahren (Impeachment), das aber von vielen politischen Faktoren abhängig ist und Präsidenten, die ihr Amt verlassen haben, nichts mehr anhaben kann.
Aber auch in den Peripheriebereichen der Immunitätsvermutung herrscht absolute Immunität, wenn ein Strafverfahren die Funktion und Autorität der Exekutive beeinträchtigt. Und wer entscheidet darüber, ob eine solche Beeinträchtigung vorliegt? Genau: derselbe Supreme Court, der Präsidenten – und mit Blick auf genau einen Präsidenten – gerade den Freifahrtschein beschert hat. Das Gericht lässt bewusst Lücken offen, die nur von ihm selbst zu einem späteren Zeitpunkt (und unter einem anderen Präsidenten?) geschlossen werden können. Die Vermutung liegt nahe, dass der hochpolitisierte und parteipolitisch geprägte Supreme Court weiter auf der Linie entscheiden wird, die dem von der Richter:innen-Mehrheit unterstützten Präsidenten nützt.
Weitere Unklarheiten und ihr politischer Spielraum
Unbestritten und Tradition in fast allen Rechtsordnungen ist, dass staatliche Funktionäre eine gewisse Immunität (und Indemnität) genießen müssen, da sie ihre Amtsgeschäfte durch zu viel Vorsicht vor späteren Regressprozessen sonst nicht effektiv führen könnten. Man denke an die Forderungen der AfD, Merkel und ihr Kabinett wegen der Eurokrise vor Gericht zu stellen. Hier liegt auf der Hand, dass das haltlos ist. Immunitäten von Staatsoberhäuptern betreffen aber im nationalen Recht (schwieriger im Völkerrecht) zumeist nicht das Strafrecht und sind durch die Legislative aufhebbar. So ist es aber nun in den USA nicht. Das Urteil des Supreme Courts hat deutlich gemacht, dass offizielles Amtshandeln absolute, unaufhebbare Immunität genießt.
Vollkommen unklar ist dabei die Abgrenzung zwischen offiziellem und nicht offiziellem Amtshandeln. Positiv entschieden hat der Supreme Court, dass die Gespräche zwischen Trump und seinem Attorney General Barr Amtshandlungen darstellten, die absolute Immunität genießen. Kriterien für nicht offizielles Handeln werden aber nicht dargelegt. Allein, dass die Motivation des Präsidenten nicht mit in die Entscheidung einbezogen werden darf, hat der Supreme Court klar gemacht. Damit entfällt eine ganz entscheidende Bewertungsgrundlage für präsidiale Handlungen. Motivation ist als innere Tatseite zwar teils schwerer nachweisbar, kann aber ggf. durch Zeug:innenaussagen und Dokumente belegt werden. Ob eine Amtshandlung vorliegt, kann sich daher sehr gut anhand der Motivation abgrenzen lassen: Wenn beispielsweise ein Konkurrent inhaftiert wird, wäre es sehr ausschlaggebend, ob damit ein korrupter Politiker an einer Kandidatur gehindert werden oder der Liebhaber der Schwiegertochter von der Bildfläche verschwinden soll. Das ist nun aber nicht möglich. Und wenn schon der versuchte Umsturz einer gewählten Regierung offizielles Handeln darstellt, was dann nicht?
Diese Unklarheit ist, entgegen der Meinung mancher Kommentator:innen, auch kein Anlass zur Freude. Zwar stimmt es, dass das Tatgericht, der District Court in Washington, D.C., nun eine intensive Beweisaufnahme starten kann, um herauszufinden, ob es sich bei den Handlungen von Trump um Amtshandlungen gehandelt hat. Das bietet die Möglichkeit, die dreckige Wäsche des 6. Januar 2021 in der (Gerichts-)Öffentlichkeit zu waschen, indem durch Zeug:innenvernehmungen und andere Beweismittel das ganze Ausmaß der Beteiligung Trumps und anderer Mandatsträger:innen deutlich wird. Ob dadurch aber ein Umdenken bei einem Großteil der republikanischen Wähler eintritt, ist mehr als ungewiss. Denn die Unterstützer:innen Trumps bleiben von solchen Fakten schlicht unbeeindruckt. Trump hat die vormals gültigen Bewertungskategorien schon lange gesprengt, sodass für ihn ein ganz anderer Maßstab gilt. Vor allem aber, und das ist am Ende wohl der entscheidende Faktor, ist das Urteil in Bezug auf die Abgrenzung zwischen offiziellem und nicht-offiziellem Handeln bewusst vage. Das eröffnet dem Supreme Court den Spielraum, bei jeder in Frage stehenden Handlung selbst über die Kategorisierung und damit den Schutz durch Immunität zu entscheiden. Diese Entscheidung dürfte bei der Mehrheit der Richter:innen vor allem daran hängen, wer der in Frage stehende Präsident ist. Egal wie das Tatgericht daher entscheidet, politisch wird die öffentliche Arena nur die beeindrucken können, die eh schon kritisch zu einer Kandidatur Trumps stehen – rechtlich wird ihr Urteil eh wieder vor dem Supreme Court landen.
“When the President Does it, It Means It Is Not Illegal”
Nixons berühmtes Zitat aus dem Jahr 1974, welches im Rahmen der Untersuchung der Watergate-Affäre entstand (die nun übrigens nicht mehr strafrechtlich verfolgbar wäre) wurde nun, 50 Jahre später, Wirklichkeit. Es kann sogar erweitert werden: Da der Präsident durch die Verfassung das uneingeschränkte Recht zur Begnadigung hat, kann er Handlungen anordnen, für die er nicht belangt werden kann und für die er die Ausführenden begnadigt. Damit entsteht eine Hierarchie, die den Präsidenten über das Recht stellt. Genau danach wurden viele der Richter:innen übrigens in ihren confirmation hearings gefragt. Justices Kavanaugh, Alito und Roberts beantworteten die Frage unmissverständlich: Der Präsident agiere nicht in einem rechtsfreien Raum, sondern müsse sich an rechtsstaatliche Grundsätze und das Gesetz halten. Das von ihnen getragene Urteil steht damit im diametralen Widerspruch und lässt die amerikanische Revolution von 1765-1783 zur Unabhängigkeit von der britischen Krone, dem Inbegriff von above the law, wie einen Treppenwitz erscheinen.
Direkte Auswirkungen
Weiter beeinflusst das Urteil laufende Verfahren gegen Trump. Denn es wurde nicht nur das von ihm vorgebrachte Immunitätsargument übernommen, en passant legt der Supreme Court auch fest, dass amtliches Verhalten nicht als Beweis in einem Prozess um nicht-amtliches Verhalten dienen kann. Gespräche zwischen dem Präsidenten und seinen Berater:innen gelten nun z.B. als Amtshandlungen. Daher können diese nicht als Beweise in Verfahren um nicht-amtliche Handlungen herangezogen werden. Das hat sogar die konservative Justice Amy Coney Barrett als zu weitgehend empfunden und widerspricht hier der Mehrheit. Das Problem verstärkt sich, da in den USA der Grundsatz der fruit of the poisonous tree gilt und ein ungültig erlangtes Beweismittel zur Unzulässigkeit aller daraus hervorgehenden Beweismittel führt.
Trump hat noch am gleichen Tag seine Verurteilung im hush-money-Prozess in New York angegriffen, für die am 11. Juli das Strafmaß bestimmt werden soll, und den Antrag gestellt, das Verfahren einzustellen. Seine Anwälte argumentieren, dass es zwar um strafbares Verhalten als Präsidentschaftskandidat ging (also um nicht-amtliches Handeln), die Staatsanwaltschaft aber ihre Beweise zum Teil auf Amtshandlungen, u.a. Tweets während der Präsidentschaft, stützte. Nach dem Supreme Court Urteil sei das nicht möglich. Ob der Fall nun ganz zu den Akten gelangt oder mit anderen Beweisen neu aufgerollt werden muss, bleibt abzuwarten.
Unklar ist auch noch die Reaktion des jetzigen Präsidenten, der ja nun auf die gleichen Immunitäten zurückgreifen könnte. Biden hat das sog. Court Packing (die Vergrößerung des Supreme Courts und die damit einhergehende Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch das Hinzufügen weiterer Richter:innen) bisher immer abgelehnt, da es das Gericht zu sehr politisieren würde. Wenn der Term 2023/2024 eines gezeigt hat, dann, dass der Supreme Court bereits ein nach Parteilinien organisiertes, hochpolitisches Gericht ist. Biden trat noch Montagabend vor die Presse, kritisierte das Urteil stark und gab an, sich weiter an Rechtsstaatlichkeit und checks and balances halten zu wollen und von der neuen, auch ihm gewährten Immunität keinen Gebrauch zu machen – getreu dem Motto „if they go low, we go high“. Ob diese für uns selbstverständliche, aber eben gerade nicht wechselseitig gewährte Haltung angesichts der massiven Angriffe auf das politische und juristische System, auf behördliche Aufsicht und Kontrolle und demokratische Grundsätze noch eine wehrhafte Strategie sein kann, eine Demokratie zu verteidigen, ist fraglich. Auch wenn somit die Versuchung auf demokratischer Seite, demokratische Spielregeln aufzuweichen, größer werden könnte, sind derartige Gedankenspiele auch nach dem jüngsten Urteil des Supreme Courts zurückzuweisen. Oder, um es mit dem Dissent von Justice Sotomayor auszudrücken: With fear for our democracy, I dissent.