23 January 2025

Verhältnismäßigkeit als allgemeines Prinzip des Völkerrechts

Im Israel-Gaza-Konflikt nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023, wo nunmehr ein Waffenstillstand vereinbart wurde, hat sich die Frage der Verhältnismäßigkeit vielfach gestellt, sowohl hinsichtlich des Selbstverteidigungsrechts Israels als auch im Zusammenhang mit dem humanitären Völkerrecht. Aber auch im Blick auf die (zweite) Amtseinführung von Donald J. Trump als US-Präsident am 20. Januar 2025 und die von ihm angekündigten massiven Zollerhöhungen in Richtung Kanada, Mexiko und China (sowie in der Folge wohl auch gegenüber der EU) drängt sich die Frage auf, ob es dafür von Völkerrechts wegen Verhältnismäßigkeitsgrenzen gibt.

Ob Verhältnismäßigkeit ein allgemeines Prinzip des Völkerrechts darstellt, das sich hier fruchtbar machen ließe, ist jedoch umstritten. Wie so oft rührt der Dissens zu einem guten Teil daher, dass unter dem Begriff „Verhältnismäßigkeit” Unterschiedliches verstanden wird. Für die Analyse bietet sich ein dialektischer Dreischritt an: Als These lässt sich vor allem auf rechtstheoretischer Ebene argumentieren, dass Verhältnismäßigkeit auch im Völkerrecht ihren Platz hat. Damit kontrastiert die Antithese, derzufolge scheitert, wer im Sinne einer rechtsdogmatischen Befundung ein Verhältnismäßigkeitsprinzip im allgemeinen Völkerrecht zu identifizieren versucht. Am Schluss steht die Synthese, die die Verhältnismäßigkeitsdebatte nicht für obsolet hält, sondern ihr einen Mehrwert zuerkennt.

These: Verhältnismäßigkeit (auch) im Völkerrecht

Michael Newton und Larry May halten in ihrem Buch Proportionality in International Law (S. 15) grundsätzlich fest: „Ours is the ‘era of proportionality’ in the sense that one encounters proportionality as an integral aspect of legal and moral discourse in virtually every effective legal system.” In der Tat kann man Gewährsleute von Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch V) und Cicero (De officiis, S. 31) abwärts für die Einsicht ins Treffen führen, dass eigentlich jedem Rechtssystem der Gedanke des rechten Maßes und Maßhaltens immanent sei. Zeitgenössisch spricht etwa Aharon Barak (S. 175) von Verhältnismäßigkeit als „embodiment of the notion of justice“. Aus dieser rechtstheoretischen Einsicht lässt sich, indes auf hohem Abstraktionsniveau, die Existenz eines Verhältnismäßigkeitsprinzips (auch) im Völkerrecht ableiten. Seine Konturen bleiben aber weitgehend unklar – ebenso wie der Prinzipienbegriff.

Antithese: Kein Verhältnismäßigkeitsprinzip im allgemeinen Völkerrecht

Will man über diesen schwachen Befund hinausgehen, bleiben einem freilich die Mühen der dogmatischen Ebene nicht erspart. Tatsächlich findet sich doch einige argumentative Substanz für die Existenz eines Verhältnismäßigkeitsprinzips im allgemeinen Völkerrecht. Anne Peters (S. 12, 14) etwa weist darauf hin, dass Verhältnismäßigkeit „in praktisch allen Teilgebieten des Völkerrechts etabliert” sei, und spricht von einer „globalen Verfassungsnorm“. Mattias Kumm (S. 595) bezeichnet Verhältnismäßigkeit als „most successful legal transplant of the twentieth century“. Weshalb, darf man fragen, dann nicht auch im Völkerrecht?

Verschiedentlich wird sogar vorgebracht, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz habe ius cogens-Charakter (vgl. etwa Steinhardt, S. 231-232 oder auch im speziellen Kontext des Schweizer Verfassungsrechts Jörg Künzli und Walter Kälin, Rz. 16, 18, 19, 32). Für manche mag das wie ein fernes Echo überholten konstitutionalistischen Denkens klingen. Gleichwohl macht es Sinn, sich anhand der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre zu vergewissern, wo ein allgemeines Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verankern wäre.

Was das Vertragsrecht anlangt, findet sich eine ganze Reihe etablierter sektorieller Verhältnismäßigkeitsprinzipien: angefangen bei Artikel 51 UNCh und Artikel 51 des 1. ZP zu den Genfer Konventionen über zahlreiche Menschenrechtsverträge bis hin zu Investitionsschutzabkommen und zu Verträgen zur Nutzung natürlicher Ressourcen.

Das Gewohnheitsrecht enthält weitere sektorielle Manifestationen des Verhältnis­mäßigkeitsprinzips, etwa im Recht der Gegenmaßnahmen. Hier stoßen wir ein drittes Mal auf einen Artikel 51, nämlich jenen der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit. Denken wir darüber hinaus auch an die maritime Grenzziehung. Angesichts dessen glaubt Anne Peters (S. 6), hier lasse sich „möglicherweise ein rechtsgebietsübergreifendes völkergewohnheitsrechtliches Prinzip” identifizieren. Die Formulierung ist indes – richtigerweise – vorsichtig gewählt.

Im Rechtsquellenreigen des Artikel 38 IGH-Statut bleiben noch die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Hier wird im Schrifttum am häufigsten der richtige dogmatische Anker für einen allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen, so etwa auch der israelische Supreme Court in seinem Beit Sourik-Urteil von 2004 (Rz. 37). In diese Richtung dachte bemerkenswerterweise bereits Gerhard Leibholz (S. 115 ff., 122, 124) 1929 im allerersten Jahrgang der ZaöRV. Er beschäftigte sich dort mit dem Willkürverbot im völkerrechtlichen Verkehr der Staaten und ordnet es den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu. Das ist für unser Thema bedeutsam, denn das Willkürverbot ist gleichsam der kleine Bruder des Verhältnismäßigkeitsprinzips.

Der besondere Charme der Annäherung ans Thema durch die Brille der allgemeinen Rechtsgrundsätze liegt darin, dass sie der Rechtsquellentyp sind, welcher von seiner Funktionsweise her am ehesten dem entspricht, was die Proponent:innen eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips vor Augen haben: ein induktives Vorgehen.

Dabei geht es um externe ebenso wie interne Induktion: Mit der externen Induktion ist gemeint, dass auf die umfassende Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips quer durch die nationalen Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung verwiesen wird. Es sei im Lichte dessen ein aussichtsreicher „legal transplant“, der nur darauf warte, ins Völkerrecht importiert und eingepasst zu werden (Newton/May, S. 15).

Die interne oder völkerrechtsimmanente Induktion dagegen stellt auf die Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in verschiedenen Teilbereichen des Völkerrechts selbst ab (durchaus im Sinne der „general principles of law formed within the international legal system“, die in den laufenden Arbeiten der ILC (Rz. 2, 4) den traditionellen „general principles of law derived from national legal systems“ zur Seite gestellt werden): Selbstverteidigung, humanitäres Völkerrecht, Gegenmaßnahmen, Menschenrechte, Investitionsschutz, natürliche Ressourcen, maritime Grenzziehung, womöglich auch noch das WTO-Recht (vgl. etwa Cottier et al., S. 21ff.). Insgesamt ergibt sich daraus eine ziemlich breite Induktionsbasis, die die Ableitung eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips als durchaus nicht weit hergeholt erscheinen lässt.

Und dennoch: Der weiten Verbreitung der „Verhältnismäßigkeit“ in der Völkerrechtsordnung zum Trotz besteht zwischen ihren unterschiedlichen Manifestationen ein hohes Maß an Heterogenität, und zwar gleich auf mehreren Ebenen. Das beginnt bei der Frage, zwischen wem das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt: zwischenstaatlich wie bei Selbstverteidigung, Gegenmaßnahmen, natürlichen Ressourcen, WTO-Recht oder im Verhältnis Staat-Individuum wie bei Menschenrechten und im Investitionsschutz. Es wird zwischen horizontalen und vertikalen (Cottier et al., S. 6) sowie teils auch noch diagonalen Erscheinungsformen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterschieden (Peters, S. 6ff.). Aber reden wir hier noch vom selben Prinzip?

Große Unterschiede gibt es auch bei Funktion, Prüfstruktur und Prüfdichte: Im internationalen Menschenrechtsschutz kennen wir eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die nationalen Vorbildern (namentlich dem deutschen) zumindest nahe kommt. Bei Artikel 51 UNCh begegnet sie uns dagegen als „necessity and proportionality”-Test (Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, 1986, Rz. 176) schon in verdünnterer Form. Dazu kommt die nie wirklich befriedigend geklärte Frage, ob common law-basierte Konzepte wie „reasonableness“, „equity“, „balancing of interests“ funktional eine Art Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellen.

Ordnungsversuche, die verschiedenen Erscheinungsformen der Verhältnismäßigkeit in zwei Schienen von einerseits „thick“ und andererseits „thin proportionality“ zu organisieren, bieten wenig Trennschärfe. Und Hoffnungen wie jene von Thomas Franck (S. 242), dass sich jetzt noch „dünne“ oder „schwache“ Erscheinungsformen der Verhältnismäßigkeit sukzessive in anspruchsvollere Manifestationen verdichten würden, haben sich nur eingeschränkt bewahrheitet.

Insgesamt ist die Induktionsbasis für ein allgemeines Verhältnismäßigkeitsprinzip also beileibe nicht so solide, wie es zunächst scheinen mag – es sei denn, man begnügt sich mit einem Willkürverbot à la Leibholz. Je mehr man bei der Dichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips Abstriche zu machen bereit ist, desto mehr sinkt die Begründungslast für die Induktion. Ein allzu verdünntes Verhältnismäßigkeitsprinzip bietet freilich keinen wirklichen Mehrwert, denn seine möglichen Funktionen werden schon durch andere völkerrechtliche Rechtsfiguren erfüllt, etwa Treu und Glauben oder das Rechtsmissbrauchsverbot.

Die Zweifel werden weiter durch die institutionelle Dimension der Frage genährt. Viele sehen die Operationalisierung – und Legitimität – des Verhältnismäßigkeitsprinzips als untrennbar mit der Rolle von (anerkannten) Gerichten verbunden. Auch im völkerrechtlichen Kontext lässt sich feststellen, dass die Karriere sektorieller Verhältnismäßigkeitsgrundsätze Hand in Hand mit der Ertüchtigung entsprechender (schieds-)gerichtlicher Instanzen geht (Peters, S. 17), etwa im Menschenrechts- und Investitionsschutzbereich. Für das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinizip ist ein gerichtliches Pendant indes nicht ersichtlich – weder legitimatorisch noch praktisch. Der dafür als „World Court“ noch am ehesten in Frage kommende IGH hat sich dazu bezeichnenderweise noch nicht einschlägig geäußert, zu sektoriellen Ausprägungen der Verhältnismäßigkeit bei der Selbstverteidigung, im humanitären Völkerrecht und bei der maritimen Grenzziehung aber sehr wohl.

Insgesamt drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass es beim gegenwärtigen Stand des Völkerrechts ein allgemeines Verhältnismäßigkeitsprinzip, jedenfalls in einer anspruchsvolleren Form, die die Verwendung des Begriffs rechtfertigen würde, nicht gibt. Das ist die zu Recht herrschende Meinung.

Synthese: Mehrwert der Fortführung der Verhältnismäßigkeitsdebatte

Soll man es nun bei diesem Negativbefund belassen und das Thema ad acta legen? Ich meine „nein“ und will das mit einer Metapher verdeutlichen: Wir haben es – in Anlehnung an etwa  Benvenisti und Downs, S. 599 – gleichsam mit einem Verhältnismäßigkeitsarchipel zu tun, mit zahlreichen größeren und kleineren Inseln im Meer des Völkerrechts, die in manchen Gegenden bloß vereinzelt vorzufinden sind, sich in anderen dagegen häufen und eng beieinander liegen und sich insgesamt zu einem identifizierbaren und beschreibbaren Gesamtmuster fügen.

Fragt sich, was der Mehrwert einer solchen Betrachtung der „Geographie“ der Verhältnismäßigkeit sein kann. Es kann nicht darum gehen, auf diese Weise doch einen allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „durch die Hintertür“ einzuführen. Ein solcher, gäbe es ihn denn, könnte – und müsste – etwa Dinge leisten wie: den UN-Sicherheitsrat dazu verpflichten, Zwangsmaßnahmen nach Artikel 42 UNCh nur nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ergreifen, oder von in ihren Rechten verletzten Staaten als Rechtspflicht verlangen, im Rahmen der friedlichen Streitbeilegung das jeweils schonendste zum Ziel führende Mittel zu verwenden, z.B. Retorsionen vor Gegenmaßnahmen.

Das ist jedoch nicht der Stand des Völkerrechts: Der UN-Sicherheitsrat genießt im Rahmen von Kapitel VII UNCh einen weiten Beurteilungsspielraum, und verletzte Staaten haben nach Artikel 33 Abs. 1 UNCh und der Manila-Erklärung zur friedlichen Streitbeilegung (I, nr. 3, 10) ein freies Wahlrecht hinsichtlich der Streitbeilegungsmittel (Fisheries Jurisdiction, 1998, Rz. 56), solange sie das Gewaltverbot achten. Weder für den einen noch die anderen existiert eine generelle Rechtspflicht, im Rahmen des „Eskalationsmanagements“ verhältnismäßig zu handeln.

Dennoch ist die Verhältnismäßigkeitsdebatte im allgemeinen Völkerrecht nicht obsolet, sondern verdient fortgeführt zu werden, da sie in zumindest dreifacher Hinsicht einen Mehrwert gewährleistet:

Die Auseinandersetzung mit der völkerrechtlichen „Geographie“ der Verhältnismäßigkeit erfüllt zunächst eine Orientierungsfunktion, insofern sie die komplexe Matrix der Manifestationen von Verhältnismäßigkeit in ihren Wechselbezügen sichtbar macht.

Sie hat darüber hinaus eine Strukturfunktion: In quantitativer und qualitativer Perspektive legen Verbreitung und Verdichtung von Verhältnismäßigkeits­manifestationen im Völkerrecht eine Betrachtung nahe, die eine schlichte Regel-Ausnahme-Logik überwindet. Manche mögen in Folge der Antithese argumentieren wollen, das Fehlen der Verhältnismäßigkeit sei im Völkerrecht die Regel. Deshalb müssten sektorielle Verhältnismäßigkeitsprinzipien als Ausnahmen davon eng, d.h. souveränitätsschonend ausgelegt werden. Das ist aber zu einfach gedacht. Genauso wenig taugt die Heranziehung der „Allzweckwaffe“ des sog. Lotus-Prinzips (S. 18) („Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed“) in diesem Bereich.

Schließlich gibt es eine Entwicklungsfunktion: Es kann nämlich auch zum „spill-over“, zum normativen „Überschwappen“ in andere Felder kommen, vor allem wenn sie eine vergleichbare normative Struktur aufweisen. Dies ist freilich in jedem Einzelbereich gesondert zu begründen und muss sich im Übrigen nicht bloß unidirektional entwickeln, d.h. es kann nicht nur zur Verdichtung von Verhältnismäßigkeitsmanifestationen kommen, sondern umgekehrt auch zu Verdünnungs- und Erosionsdynamiken. Angesichts dieser Entwicklungsfunktion mag man auch an eine Weiterentwicklung der geographischen Metapher in Richtung Sternenhaufen denken. Das würde verdeutlichen, dass in einem solchen galaktischen Verhältnismäßigkeitsarchipel zwischen den Manifestationen der Verhältnismäßigkeit (normative) Gravitationskräfte am Werk sind, und so die Interaktion zwischen ihnen und den intrinsisch dynamischen Charakter des Gesamtsystems unterstreichen.

Doch bevor diese knappen Überlegungen kontinentaler Prägung sich im interstellaren Raum verlieren, verdienen sie in typisch nüchterner common law-Manier geerdet zu werden: Die frühere (und erste) IGH-Präsidentin Rosalyn Higgins, die die Verhältnismäßigkeit (auch) nicht als allgemeines Prinzip des Völkerrechts geadelt hat, überschreibt das 13. Kapitel ihres Klassikers Problems and Process: International Law and How We Use It, in dem es um die Einordnung von Verhältnismäßigkeit und Billigkeit im Völkerrecht geht, bezeichnenderweise mit „Oiling the Wheels of International Law“. Vielleicht ist das ja die beste Annäherung ans Thema: die „Schmierfunktion“ der Verhältnismäßigkeit.


SUGGESTED CITATION  Müller, Andreas Th.: Verhältnismäßigkeit als allgemeines Prinzip des Völkerrechts, VerfBlog, 2025/1/23, https://verfassungsblog.de/verhaltnismasigkeit-als-allgemeines-prinzip-des-volkerrechts/.

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