Institutionalisierte Deliberation
Das „Ostbelgien-Modell“ als rechtliche Blaupause
Die Diskussion um die Einführung deliberativer Elemente in das demokratische System hat in letzter Zeit wahrnehmbar an Bedeutung gewonnen.1) Das gilt nicht nur im hier betrachteten europäischen Kontext, sondern weltweit.2) Deliberation wird – vor allem in Abgrenzung zur bloßen Bürgerkonsultation im politischen Prozess – als die auf den Austausch von Argumenten angelegte Form der Entscheidungsfindung auf gleicher Augenhöhe verstanden. Die Anbindung des Deliberationsverfahrens und seiner Ergebnisse an den parlamentarischen Prozess ist nach wie vor eine Herausforderung. Der jeder Deliberation inhärenten Informalität und Offenheit steht gleichwohl das Bedürfnis nach einem gewissen Maß an Dezision gegenüber. Die Rolle des Rechts dabei ist noch ungeklärt: Wie viel rechtliche Regulierung von informaler Bürgerpartizipation ist überhaupt erstrebenswert? Kann umgekehrt ein nur loser rechtlicher Rahmen deliberativer Beteiligung den erstrebten demokratischen Mehrwert solcher Beteiligung überhaupt erzielen, wenn das Parlament keine rechtlichen Pflichten im Umgang mit den Ergebnissen treffen? Hieran verdeutlicht sich ein Grundproblem der deliberativen Demokratietheorie: Es fehlt weitgehend an tragfähiger Institutionalisierung der deliberativen Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess.3)
Unter den weltweit praktizierten Modellen gilt vor allem das der „Mini-Öffentlichkeiten“ als besonders relevant.4)
Waren es im europäischen Kontext vor allem die irischen „citizens‘ assemblies“, ist neben den Bürgerräten im österreichischen Bundesland Vorarlberg vor allem der „permanente Bürgerdialog“ in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DGG) auf gliedstaatlicher Ebene in Belgien in den Fokus gerückt. Das hier vorgestellte Modell basiert ebenfalls auf einem randomisierten Verfahren – nämlich auf Zufallsauswahl der Mitglieder – und ist somit als Ausdruck der aleatorischen Demokratie zu verstehen, bei der die repräsentativen Stellvertreter der Gesamtheit nicht durch Wahl, sondern (auch) durch Auslosung bestimmt werden. Das ostbelgische Modell zeichnet sich neben der Permanenz durch die rechtliche Institutionalisierung in einem Dekret (einer gesetzlichen Regelung des Parlaments der DGG aus dem Jahre 2019) aus. Dies unterscheidet es maßgeblich von vergleichbaren Modellen weltweit.
Doppelter Föderalismus auf subnationaler Ebene
Eine Betrachtung des „Ostbelgien-Modells“ der DGG setzt einen Blick auf die belgische Staatsorganisation und die Herausbildung des belgischen Föderalismus seit den 1960er Jahren voraus. Unter „Ostbelgien“ ist zunächst nur die geographische Bezeichnung des östlichen Landesteils des belgischen Föderalstaats zu verstehen, der sich überwiegend mit der gliedstaatlichen Gebietseinheit der DGG deckt.
Der belgische Föderalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass mit den drei Gemeinschaften einerseits und den drei Regionen andererseits auf subnationaler Ebene parallel zwei gliedstaatliche Einheiten mit jeweils eigenen Legislativ- und Exekutivorganen existieren. Es ist daher auch von einem „doppelten Föderalismus“5) die Rede. Es bestehen – nach den ihnen zugewiesenen Kompetenzen voneinander abgegrenzte – subnationale Gebietseinheiten, deren Gebiet durchaus geographisch überlappen kann. So gehört etwa die DGG gebietsmäßig zugleich der Wallonischen Region an, ist aber bei Wahrnehmung ihrer eigenen Kompetenzen unabhängig von der Region.
Die DGG ist eine der drei im Zuge der ersten Staatsreform (1970) gebildeten Kulturgemeinschaften: der niederländischen, der französischen und der deutschen Kulturgemeinschaft. Sie wurden mit der Zweiten Staatsreform (1980) in Gemeinschaften umbenannt und erhielten ihre eigenen, direkt gewählten Parlamente, Regierungen und Kompetenzen in den Bereichen Kultur, Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen.6) Die Zweite Staatsreform brachte als weitere Ebene sodann die Flämische und die Wallonische Region mit jeweils eigenen Parlamenten (Räten), Regierungen und Kompetenzen (zunächst vor allem Wirtschaftspolitik, später etwa auch Transport und öffentliches Bauwesen).7) Hinzu kam durch die Dritte Staatsreform (1988/89) schließlich noch die Region Brüssel mit eigenem Parlament und eigener Regierung. Seit der Vierten Staatsreform (1993) wird Belgien in seiner Verfassung als „ein aus den Gemeinschaften und den Regionen bestehender Föderalstaat“ bezeichnet. Die DGG mit rund 77.000 Einwohnern hat zudem eine Aufwertung dadurch erfahren, dass ihr von der Wallonischen Region sukzessive Befugnisse übertragen worden sind (so der Denkmal- und Landschaftsschutz, die Beschäftigungspolitik und die Aufsicht über die Gemeinden).
Der permanente Bürgerdialog in der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Auf welchen Gebieten und zu welchen Gegenständen eine Deliberation im Rahmen des permanenten Bürgerdialogs zulässig ist, ergibt sich aus den gliedstaatlichen Kompetenzen der DGG. Sie eröffnen und begrenzen zugleich die Befassungskompetenz der Organe und Akteure im Bürgerdialog. Die wesentlichen Strukturen sind im „Dekret zur Einführung eines permanenten Bürgerdialogs in der Deutschsprachigen Gemeinschaft“ vom 25. Februar 2019 niedergelegt. Es wurde zuletzt durch Dekret vom 22. April 2024 auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen aus der bisherigen Bürgerdialogpraxis abgeändert. Der permanente Bürgerdialog in der DGG versteht sich trotz seiner rechtlichen Rahmung daher nicht zuletzt als selbstlernendes System, das seinerseits dem Gesetzgeber Hinweise für eventuelle Dekretanpassungen liefert.
Seit Etablierung des Bürgerdialogs wurden auf den Kompetenzfeldern der DGG insgesamt fünf Bürgerversammlungen zu den Themen Pflege, Inklusion in der Schule, Wohnen, Digitalisierung und Integration von Zuwanderern durchgeführt. Die aktuelle sechste Bürgerversammlung befasst sich mit den Schülerkompetenzen, einem weiteren Bildungsthema im Zuständigkeitsbereich der DGG.
Der permanente Bürgerdialog in der DGG stützt sich auf zwei Hauptorgane: Bürgerrat und Bürgerversammlungen. Hinzu kommt als drittes Organ das ständige Sekretariat, dessen Aufgabe in der „administrativen und organisatorischen Unterstützung“ der beiden Hauptorgane besteht (Art. 5 des Dekrets) und durch die Parlamentsverwaltung der DGG sichergestellt wird. Die nachfolgende Betrachtung geht auf die Hauptorgane ein.
Bürgerrat
Der Bürgerrat dient als Hauptorgan der Sicherstellung der Permanenz des Bürgerdialogs.8) Seine wesentliche Aufgabe ist es, die Gegenstände festzulegen, über die die Bürgerversammlungen zu beraten und Empfehlungen an das Parlament zu erarbeiten. Damit wird sichergestellt, dass die in der jeweiligen Bürgerversammlung zu beratenden Gegenstände nicht einseitig vom Parlament („von oben“) vorgegeben, sondern über den Bürgerrat letztlich aus der Bürgerschaft selbst bestimmt werden. Seine weiteren Funktionen sind: Organisation der Bürgerversammlungen (Art. 7 und 8 des Dekrets); Kontrolle der Umsetzung der Empfehlungen der Bürgerversammlung (Artikel 10, Absatz 1 des Dekrets) sowie Beaufsichtigung des ständigen Sekretariats (Artikel 5, Absatz 2 des Dekrets).
Der Bürgerrat ist „das“ ständige Organ des Bürgerdialogs. Er setzt sich aus 24 Mitgliedern zusammen, wobei diese aus dem Kreis der Teilnehmenden an früheren Bürgerversammlungen per Los ausgewählt werden (Artikel 4, § 1 des Dekrets). Die Mandatszeit der Mitglieder des Bürgerrats beträgt 18 Monate; bei vorzeitigem Ausscheiden wird eine Ersatzperson ermittelt. Die Kontinuität des Bürgerdialogs wird also auch dadurch gesichert, dass stets erfahrene Personen aus den Bürgerversammlungen dem Bürgerrat angehören. Damit wird grundsätzlich alle sechs Monate ein Drittel der 24 Mitglieder des etablierten Bürgerrats ersetzt.9)
Für die Funktionsweise des Bürgerrats charakteristisch ist es, dass dieser selbst alle diesbezüglichen Aspekte bestimmt.10) Durch das Dekret vorgegeben sind lediglich der Zeitpunkt der Sitzung, in der der Bürgerrat über Zahl und Themen der nächsten Bürgerversammlungen bestimmt (Artikel 7, § 1 des Dekrets); die Wahl eines Vorsitzenden des Bürgerrats (Artikel 4, § 2 des Dekrets); die Konsensbeschlussbefassung im Bürgerrat (Artikel 4, § 3 des Dekrets); das Erfordernis der Mitgliedermehrheit für die Beschlussfähigkeit des Bürgerrats (Artikel 4, § 3 des Dekrets); die Entschädigung der Sitzungsteilnahme mit Anwesenheitsgeld und Fahrtkostenerstattung (Artikel 3, § 4 des Dekrets). Alle übrigen Bestimmungen hinsichtlich seiner Funktionsweise – vor allem zum inneren Geschäftsgang – trifft der Bürgerrat in eigener Verantwortung.
Bürgerversammlungen
Im Unterschied zum Bürgerrat handelt es sich bei den Bürgerversammlungen um die nicht-permanente Komponente im Modell des Bürgerdialogs.11) Ihre Funktion besteht in der eigentlichen Deliberation: Sie werden punktuell (und themenbezogen) einberufen und beraten über das jeweils vom Bürgerrat vorgegebene Thema mit dem Ziel, hierzu Empfehlungen auszuarbeiten und Parlament bzw. Regierung zu unterbreiten.
Die Bürgerversammlung ist bezüglich des ausgewählten Themas von der Entscheidung des Bürgerrats abhängig. Das Dekret bestimmt ansonsten nur den Rahmen, wonach sich eine Bürgerversammlung aus 25 bis 50 Bürgern zusammensetzt und bei der Auswahl ein Losverfahren zur Anwendung kommt (Artikel 3, § 2 des Dekrets). Die Verfahrensherrschaft liegt sonst beim Bürgerrat, der auf Vorschlag des ständigen Sekretärs auch „die Modalitäten des Losverfahrens zur Auswahl der Bürger (…)“ festlegt. Kriterien zur Herstellung der „deskriptiven Repräsentativität“ sind nach Maßgabe des Dekrets ausdrücklich die ausgewogene Vertretung der Geschlechter und Altersgruppen, eine ausgewogene geographische Herkunft sowie eine ausgewogene sozioökonomische Durchmischung. Der Bürgerrat kann weitere Kriterien für die losbasierte Zusammensetzung der jeweiligen Bürgerversammlung festlegen, wenn ihm dies zum Beispiel durch das gewählte Thema angezeigt erscheint.12) Im Übrigen gilt, dass für die per Los ausgewählten Personen die Teilnahme an der Bürgerversammlung freiwillig ist (Artikel 3, § 3 des Dekrets). Überdies trifft das Dekret Vorkehrungen dafür, dass nur Bürger der DGG teilnehmen, die zudem nicht befangen sein dürfen (Artikel 3, § 4 des Dekrets).
Die Funktionsweise der Bürgerversammlungen ist durch ein hohes Maß an der für deliberative Verfahren ohnehin typischen Informalität geprägt. Dem entspricht es, dass das Dekret selbst insoweit nur wenige Verfahrensvorgaben trifft. Maßgeblich ist lediglich der Grundsatz, dass Entscheidungen der Bürgerversammlung im Konsens zu treffen sind (Artikel 3, § 5 des Dekrets). Prozedural gelten sonst die Modalitäten, die der Bürgerrat für die Durchführung der Bürgerversammlung (z. B. hinsichtlich Themenstellung, Auslosungsdetails, Dauer, Ort, Programm usw.) vorgibt.13)
Die wesentliche Funktion der Bürgerversammlungen besteht in der Beratung des unterbreiteten Themas sowie darin, eine oder mehrere politische Empfehlungen auszuarbeiten und mit den Politikerinnen und Politikern der DGG zu erörtern (Artikel 3, § 1, Artikel 9, § 1 des Dekrets).14) Die Empfehlungen müssen dreimal von den Teilnehmenden und den politischen Entscheidungsträgern diskutiert werden (Artikel 9, Artikel 10 Absatz 2 des Dekrets). Nach Abschluss der Beratungen formuliert die jeweilige Bürgerversammlung eine oder mehrere Empfehlungen, die dem Präsidium des Parlaments zugeleitet werden.15) Das Parlamentspräsidium verweist seinerseits die Empfehlungen an den fachlich zuständigen Parlamentsausschuss, der in öffentlicher Sitzung die Vertreter der Bürgerversammlung anhört und mit diesen die Empfehlungen – unter Hinzuziehung der zuständigen Fachministerin bzw. des zuständigen Fachministers – erörtert.16) Daran anschließend erarbeitet der Ausschuss zu jeder unterbreiteten Empfehlung der Bürgerversammlung eine Stellungnahme, aus der sich ergeben muss, ob und wie die Empfehlungen umgesetzt werden.17) Die Ablehnung einer Empfehlung ist gesondert zu begründen. In einer nachfolgenden zweiten Ausschusssitzung findet eine weitere Erörterung mit den Vertretern der Bürgerversammlung auf der Grundlage der erarbeiteten Stellungnahmen statt.18) Weiter muss innerhalb eines Jahres eine dritte öffentliche Sitzung des Parlamentsausschusses einberufen werden, zu der alle Mitglieder der früheren Bürgerversammlung eingeladen sind. Ihr Ziel besteht darin, über den Umsetzungsstand der Empfehlungen zu informieren.19) In diesem Verfahrensstadium hat auch der Bürgerrat – im Sinne der Kontinuitätssicherung des Bürgerdialogs – bereits seine Funktion bei der Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen aufgenommen. Das Verfahren zeichnet sich also in der Gesamtschau dadurch aus, dass mit den beschriebenen Befassungs- und Unterrichtungspflichten, die Parlament und Regierung der DGG treffen, sowie damit korrespondierenden öffentlichen Rechenschaftspflichten ein hohes Maß an Verfahrensverbindlichkeit des Bürgerdialogs erreicht wird.
Das „Ostbelgien-Modell“ als Blauplause für institionalisierte Deliberation
Nimmt man noch einmal die Kritik an den deliberativen Demokratietheorien auf, wonach es auch den Modellen der „Mini-Öffentlichkeiten“ an tragfähiger Institutionalisierung der deliberativen Einbeziehung fehle, weist das „Ostbelgien-Modell“ geradezu in die gegenteilige Richtung. Es bildet auch unter legitimatorischen Gesichtspunkten eine tragfähige rechtliche Blaupause für institutionalisierte Deliberation. Denn eine rechtliche Institutionalisierung ist nur insoweit erfolgt, als es in einem prozeduralen Rahmen qualifizierte Befassungs- und Rechenschaftspflichten des Parlaments und der Regierung gegenüber den Akteuren des Bürgerdialogs festgelegt wurden. Damit wird eine Verfahrensverbindlichkeit im Umgang mit den Empfehlungen der Bürgerversammlungen geschaffen, über deren Einhaltung mit dem permanenten Bürgerrat eine Institution „aus der Bürgerschaft selbst“ wacht. Die rechtliche Verankerung dieser Rahmenbedingungen in einem Parlamentsgesetz (Dekret) erhöht die Verfahrensverbindlichkeit zusätzlich. Als im demokratischen Kontext akzeptanzfördernd erweist es sich zudem, wenn – wie in der DGG – deliberative Verfahren zu sehr konkreten Themen im subnationalen Zuständigkeitsbereich einer gliedstaatlichen Einheit mit eigener Gesetzgebungshoheit verankert werden. Die Rückkopplung an das parlamentarische System wird damit effektiv greifbarer.
References
↑1 | Pautsch, Losbasierte „Bürgerräte“ statt direkter Demokratie? Zur aktuellen Diskussion um die Etablierung deliberativer Beteiligungsverfahren im Parlamentsrecht, in: NJ 2022, 347 ff. |
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↑2 | Goldberg/Lindell/Bächtiger, Empowered Minipublics for Democratic Renewal? Evidence from Three Cojoint Experiments in the United States, Ireland, and Finland, in: American Public Science Review (2024), 1 ff. |
↑3 | Vgl. dazu Schmidt, Demokratietheorien, 3. Aufl. 2019, 241. |
↑4 | Schmidt (aaO), 241. |
↑5, ↑6, ↑7 | Ostry/Morwinsky/Schramm (aaO), 1 (3). |
↑8 | Niessen/Reuchamps, Der permanente Bürgerdialog in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, in: Courrier hebdomadaire no 2426 (2019), 21. |
↑9 | Lediglich für den ersten Bürgerrat galt eine eigenständige Regelung (vgl. Artikel 14, Absatz 1 des Dekrets). |
↑10 | Niessen/Reuchamps (aaO), 22. |
↑11 | Niessen/Reuchamps (aaO), 24. |
↑12, ↑13 | Niessen/Reuchamps (aaO), 26. |
↑14 | Niessen/Reuchamps (aaO), 27. |
↑15, ↑16, ↑17, ↑18, ↑19 | Vgl. Niessen/Reuchamps (aaO), 27. |