Zeit zum Abwechseln
Mit einem staatsbürgerlichen Ehrenamt für Beteiligung
„Bürger“ im demokratischen Sinne wechseln sich untereinander mit der politischen Arbeit und Entscheidungsfindung ab. So galt es zumindest für alle freien Männer im antiken Athen. Heute hingegen erleben viele Menschen sich bestenfalls als ferne Beobachter:innen von Politik. Sie gehen gelegentlich wählen und schauen sonst eher vom Sofa aus zu. Dahingegen zeigen Beteiligungsinstrumente wie Bürgerräte, wie Menschen Politik wirklich mitgestalten können. Das braucht allerdings Zeit und unterstützende Rahmenbedingungen. Welche genau, zeigen die Regelungen zu Laienrichter:innen im Bereich der Rechtsprechung. Aber inwieweit sind die Regelungen zu Schöffen auf den Bereich der politischen Beteiligung übertragbar? Was braucht es, damit wir alle nicht nur Laienrichter:innen sondern auch Laienpolitiker:innen sein können?
Bürgerräte: Praxis und Herausforderungen
Umfang und Komplexität von Politik haben stark zugenommen. Faktisch wird die politische Arbeit daher im Wesentlichen von einem professionalisierten Apparat von Akademiker:innen getragen, während (Nicht-)Wähler:innen bestenfalls punktuell politisch aktiv werden. Das Ergebnis ist die Teilung der Bürgerschaft in eine politisch handelnde Elite und eine sehr große Gruppe von Menschen, die am politischen Geschehen weder teilnehmen noch viel Verständnis für dieses aufbringen können. Darin liegt eine zentrale Ursache für den Abbruch von Identifikation und Vertrauen gegenüber politischen Parteien und Institutionen, wie etwa eine Studie der OECD zeigt.
Der Politikwissenschaftler Robert Dahl hat diese Entwicklung bereits in den 80er Jahren analysiert und eine Lösung vorgeschlagen: anspruchsvolle Beteiligungsverfahren, bei denen Gruppen von zufällig ausgewählten Bürger:innen mit Hilfe von Expertinnen und Experten gezielt in die Erarbeitung neuer Politik eingebunden werden. Seit den Auswertungen der ersten Planungszellen wissen wir, dass diese Idee tatsächlich funktioniert. In anspruchsvollen Beteiligungsverfahren können sich zufällig ausgewählte Bürger:innen in komplexe Sachverhalte einarbeiten und hilfreiche Lösungen entwickeln. Das heißt: Auch in der modernen Demokratie ist politische Gleichberechtigung im Sinne des Abwechselns möglich.
In der Praxis nehmen allerdings nur ein Bruchteil der zur Beteiligung eingeladenen Bürger:innen die Einladung auch an. Ein Hauptgrund dafür ist die fehlende Zeit: Gerade für Menschen mittleren Alters ist es oft schwierig, sich zusätzlich zu Familie, Beruf und anderen Verpflichtungen politisch zu engagieren. Ein weiteres grundlegendes Problem besteht darin, dass die Adressat:innen die Einladung zur politischen Beteiligung oft nicht anspricht. Sie verstehen das Angebot an sich nicht oder tun es als abwegig ab. Tatsächlich passt anspruchsvolle politische Beteiligung nicht zum Lebensalltag und Selbstverständnis vieler Menschen. Damit mehr Menschen sich politisch beteiligen wollen und können, müssen sie sich die Zeit dafür nehmen können. Daher wird bei Planungszellen häufig auf die Regelungen zum Bildungsurlaub zurückgegriffen: Die Planungszelle wird dazu von einer Volkshochschule als Bildungsveranstaltung gelistet, damit Teilnehmende ihren gesetzlichen Anspruch auf Freistellung geltend machen können.
Letztlich bleibt der Rückgriff auf Bildungsurlaub allerdings eine unbefriedigende Behelfslösung. Zum einen, weil die Regelungen je nach Bundesland variieren und einen Anspruch für bestimmte Arbeitnehmer:innen aber eben nicht für alle Bürger:innen begründen. Zum anderen geht es ja gar nicht um „Bildungsurlaub”, sondern um politische Beteiligung. Hier fehlt ein eindeutiges Signal, dass Beteiligung als solche ein gewünschter und normaler Teil des politischen Systems ist. Nur so kann eine Beteiligungspraxis wieder stärker Teil des Selbstverständnisses der Bürger:innen werden.
Eine vergleichbare Lösung findet sich bereits im Bereich der Laienrechtsprechung. Hier ermöglichen es bundeseinheitliche Gesetze (insbesondere §§ 30-78 GVG, §§ 33-35 JGG und §§ 44-45 DRiG), dass „einfache“ Bürgerinnen und Bürger ihren Berufsalltag unterbrechen und sich als Laienrichter:innen an der Rechtsprechung beteiligen. Ganz ähnlich könnte und sollte es möglich sein, dass Bürger:innen freigestellt werden, um sich als Laienpolitiker:innen an der politischen Arbeit zu beteiligen.
Aber inwieweit ließen sich die Regelungen zu den Laienrichter:innen tatsächlich auf eine mögliche Rahmengesetzgebung für Laienpolitiker:innen übertragen? Im Folgenden werden einige zentrale Aspekte und offene Fragen skizziert.
Ein staatsbürgerliches Ehrenamt
Das Schöffenamt ist als ein staatsbürgerliches Ehrenamt ausgestaltet, und begründet damit gem. Art. 33 Abs. 1 GG für alle deutschen Staatsbürger:innen die gleichen Rechte und Pflichten. Dies wäre auch für politische Beteiligung passend, wirft aber zwei grundsätzliche Fragen auf: Wer sind eigentlich genau die Bürger:innen? Und: Sollte man sie zur politischen Beteiligung verpflichten?
Die Antwort: Es kommt auf die Funktion der Laienpolitiker:innen an. Bisher beraten Teilnehmende an Bürgerräten in der Regel nur punktuell. In diesem Kontext sollten, wie in der Praxis üblich, alle Einwohner:innen ab 16 Jahren Zugang zu Beteiligungsverfahren haben. Es wäre weder sinnvoll noch zulässig, sie zur Beteiligung zu verpflichten.
Anders sähe es aus, wenn Laienpolitiker:innen eine dauerhafte und einflussreiche Funktion im politischen System übernehmen würden. Dann wäre einerseits wohl eine strengere Orientierung der Zugangsvoraussetzungen am passiven Wahlrecht geboten. Auch müsste die institutionalisierte Beteiligung durch eine klare Definition ungeeigneter Personen sowie eines Mechanismus zur Amtsenthebung (s. §§ 33, 34 GVG sowie § 44 DRiG) abgesichert werden. Zum anderen wäre auch eine Pflicht für institutionalisierte politische Beteiligung möglich. Aber wäre sie auch sinnvoll? Bei einer formalen Verpflichtung besteht das Risiko, dass sie als Gängelung durch den Staat wahrgenommen wird und zu Ablehnung führt – besonders bei denjenigen Menschen, die ohnehin schon auf Abstand zum demokratischen System sind. Besser wäre eine informelle Pflicht, verankert in der politischen Kultur, wie es sie vermutlich in der attischen Demokratie gab. Heute hingegen liegt vielen Menschen politisches Engagement fern. Daher wäre eine „Pflicht zum Ehrenamt“ – mit eher symbolischer Ahndung und wohl begründeten Ablehnungsmöglichkeiten (vgl. §§ 31 ff. GVG) – ein naheliegender Ansatz. Eine solche Pflicht würde politische Beteiligung zu einer ernsthaften Angelegenheit von allgemeiner Bekanntheit machen und könnte damit langfristig eine Verankerung in unserer politischen Kultur bewirken.
Angesichts dieser Chancen und Risiken empfiehlt sich zunächst eine begrenzte Erprobung verpflichtender Beteiligung, etwa durch eine Experimentierklausel in der Gemeindeordnung. Damit könnten einzelne Kommunen eine solche Pflicht temporär erproben. Um Ablehnung vorzubeugen, sollte dabei für Bürger:innen sofort ersichtlich sein, warum das jeweilige Thema für ihre Gemeinschaft wichtig ist. Gerade deshalb bietet sich zur Erprobung einer Beteiligungspflicht die kommunale Ebene an, bei der es um lokale und unmittelbar eingängige Herausforderungen wie etwa die Neugestaltung eines Stadtviertels geht.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Auswahlverfahren
Bei Bürgerräten hat sich ein zweistufiges, geschichtetes Losverfahren, basierend auf dem Melderegister und soziodemografischen Auswahlkriterien, durchgesetzt. Es gibt allerdings auch Verfahren, bei denen zunächst ein öffentlicher Aufruf mit entsprechender Selbstrekrutierung stattfindet. Auch Hybridverfahren, die verschiedene Methoden und Zielgruppen kombinieren, werden immer wieder genutzt.
Die Rekrutierung von Laienrichter:innen besteht hingegen aus drei Schritten. Der erste beinhaltet die Aufstellung und Beschließung einer Liste durch die Kommunen (§ 36 GVG). Hier ist das Losen nur als ultima ratio zulässig, falls sich nicht genügend Freiwillige finden. Grundsätzlich hält der BGH das Aufstellen der Liste per Zufallsauswahl aus dem Melderegister dabei für nicht zulässig, weil der Gesetzgeber eine gezielte Auswahl geeigneter Personen durch die Kommune beabsichtige. Allerdings werden vom BGH bei diesem Schritt keine verfassungsrechtlichen Bedenken angeführt. Ein Aufstellen der Liste per Los wäre demnach wohl im Zuge einer Neuregelung des GVG oder in einer entsprechenden Regelung zu Laienpolitiker:innen möglich. Darin könnte gerade auch für die Rekrutierung der Laienrichter:innen eine Chance liegen, denn hier mangelt es oft an Freiwilligen. Ein weiterer Vorteil der Zufallsauswahl aus dem Melderegister ist, dass dadurch bisher unterrepräsentierte Gruppen angesprochen werden.
In jedem Fall braucht eine etwaige Regelung für politische Beteiligung eine gewisse Flexibilität. Denn obwohl sich die Zufallsauswahl zunehmend als Goldstandard etabliert, sind Beteiligungsverfahren und ihre Kontexte sehr unterschiedlich. Im Einzelfall sollte es daher immer möglich sein, vom Zufall abzuweichen und etwa themenspezifische Auswahlkriterien heranzuziehen, gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen zu rekrutieren und generell verschiedene Auswahlmethoden zu kombinieren.
Beim zweiten Auswahlschritt – der „Schöffenwahl“ nach § 42 GVG – ist ein Losverfahren laut BGH ebenfalls unzulässig. Hier geht es zum einen um den Einwand, dass der Zufall nicht die soziodemografischen Kriterien aus Absatz 2 berücksichtigt, und zum anderen darum, dass nur eine Wahl oder Abstimmung eine demokratische Legitimation gem. Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz erzeugt.
Der erste Einwand – die Frage der Repräsentativität der Auswahl – ist in beiden Bereichen zentral. Sowohl bei der Wahl der Schöffen als auch bei Bürgerräten gilt es in der Regel, bestimmte soziodemografische Kriterien zu berücksichtigen. Um eine entsprechend geschichtete Teilmenge auszuwählen, müssen die Auswahlkriterien genau definiert werden. Außerdem gilt es, zwischen verschiedenen Ergebnissen abzuwägen, welche die Kriterien jeweils mehr oder weniger gut erfüllen. Diese Aufgabe wird bei Bürgerräten oft den durchführenden Organisationen und ihren Routinen überlassen. Hier besteht durchaus Handlungsbedarf. Eine Wahlkommission wie bei den Laienrichter:innen, welche das geschichtete Losverfahren überprüft und die finale Liste unter den verschiedenen möglichen Listen bewusst auswählt, könnte hier doppelt hilfreich sein: Sie könnte einen demokratischen Graubereich des geschichteten Losverfahrens erhellen und durch die Kombination von Los- und Wahlverfahren gar den zweiten Einwand des BGH – die Frage nach der Legitimation – ausräumen.
Beim dritten Schritt, der Zuweisung der Laienrichter:innen zu einzelnen Fällen nach § 45 GVG, ist ein Losverfahren explizit vorgesehen. Dieser Schritt ist gegenwärtig bei Bürgerräten weder existent noch sinnvoll, da es mangels einer flächendeckenden Institutionalisierung wenig Sinn ergibt, einen Pool von potenziellen Teilnehmenden vorzubehalten. Dies könnte sich in der Zukunft ändern. In der Zwischenzeit bleibt zu klären, ob es eigentlich effektiver ist, Menschen zunächst für einen allgemeinen Dienst oder direkt für eine bestimmte Aufgabe zu rekrutieren.
Begrenzung des Anwendungsbereichs
Der Dienst der Laienrichter:innen ist klar auf den Einsatz an bestimmten Orten der Rechtsprechung begrenzt. Beteiligungsverfahren wie Bürgerräte werden hingegen bisher in verschiedenen Bereichen und von sehr unterschiedlichen Institutionen und Akteuren eingesetzt. Daher ist auch der genaue Anwendungsbereich eines Rahmengesetzes für Laienpolitiker:innen eine zentrale und offene Frage: Wer darf wo Laienpolitiker:innen einsetzen? Ein möglicher Ansatz wäre die Definition einer Liste zulässiger Behörden: etwa alle gewählten Vertretungskörperschaften, Bundes- und Landesbehörden sowie Ämter der Regierungsbezirke, Landkreise, Städte und Gemeinden. So eine Liste wäre flexibel, aber eher beliebig. Alternativ wäre es denkbar, an bestehende Legitimationsketten anzuknüpfen und nur gewählte Vertretungskörperschaften und von ihnen unmittelbar gewählte Amtsträger:innen zuzulassen. Dieser Ansatz wäre begrenzter und unflexibler, würde allerdings wie die Kombination von Los- und Wahlverfahren an bestehende Legitimationsquellen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes anknüpfen.
Was das wohl kostet?
Die genauen Kosten einer bundesweiten Regelung zu Laienpolitiker:innen sind schwer abzuschätzen. Eine grobe Einordnung ist dennoch möglich, indem wir die Kosten der Laienrichter:innen auf verschiedene Szenarien im Bereich der Bürgerbeteiligung übertragen.
Laut Haushaltsrechnungen der Justizministerien ergeben sich jährliche Kosten von rund 730 Euro pro Hauptschöffe. Laut der Datenbank Bürgerräte haben 2024 etwa 3.500 Menschen an losbasierten Beteiligungsverfahren teilgenommen. Da die Datenbank Bürgerräte allerdings keine Vollerhebung darstellt und nur losbasierte Verfahren berücksichtigt, sollten wir diese Zahl eher verdoppeln. Wenn wir dementsprechend von 7000 Beteiligten 2024 ausgehen, ergeben sich daraus bundesweit Kosten von rund 5 Millionen Euro pro Jahr – also 0,001 % des Bundeshaushalts 2024.
Wie würden sich die Kosten bei einer flächendeckenden Beteiligung entwickeln? Hätten wir jährlich so viele Laienpolitiker:innen wie Laienrichter:innen (zuletzt 38.410), beliefen sich die Kosten nach gleicher Rechnung auf rund 28 Millionen Euro. Wenn wir das Gedankenexperiment noch weitertreiben und uns vorstellen, dass jährlich fast so viele Menschen in Deutschland zu Laienpolitiker:innen würden, wie es hierzulande Beamtinnen und Beamte gibt (500.000), beliefen sich die Kosten auf 365 Millionen Euro. Das entspricht 0,08 % des Bundeshaushalts 2024. Tatsächlich wären die Kosten vermutlich noch niedriger, da Schöffen statistisch auf durchschnittlich 6,5 Arbeitstage kommen während Bürgerräte laut Bericht der Datenbank Bürgerräte im Schnitt nur 3,5 Tage dauern.
Für eine Demokratie des Abwechselns
Bürgerräte und Co. haben gezeigt: Eine Demokratie des Abwechselns ist auch unter Bedingungen komplexer Politik möglich. Die Regelungen zu Laienrichter:innen zeigen, welche Rahmenbedingungen es dazu braucht. Eine ähnliche, bundesweite Regelung für politische Beteiligung würde es mehr Menschen ermöglichen, aktiv zu werden und sich die Zeit für politische Mitarbeit zu nehmen. Außerdem würde es die Bedeutsamkeit und Normalität politischer Beteiligung unterstreichen. Die möglichen Kosten sind überschaubar. Insbesondere in Anbetracht der akuten Krise der Demokratie.
Praktisch empfiehlt sich eine zweistufige Umsetzung dieser Idee: Zunächst wird, ähnlich wie beim Bildungsurlaub, aber bundeseinheitlich, die Freistellung und Entschädigung von Laienpolitiker:innen für Beteiligungsverfahren von Vertretungskörperschaften und weiteren Behörden geregelt. Gleichzeitig können in den Ländern und Kommunen durch Experimentierklauseln verschiedene Modelle – wie etwa ein verpflichtendes Ehrenamt – erprobt werden. Im Zuge einer flächendeckenden, institutionalisierten Nutzung von Bürgerräten und Co. kann in einem zweiten Schritt ein umfassendes System, ähnlich wie bei den Laienrichter:innen und mit eigener Administration, geschaffen werden.